Rudolf Borchardt: Der leidenschaftliche Gärtner

Ich habe nichts als Wuchern
Hortologische Anthomanie: Die Schule der Pflanzen

 

die blume bricht und geht aus der knospe wie die luft aus
dem munde
Grimm, Deutsches Wörterbuch, Blühen

Befreien wir die Blume, um uns zu befreien.

Ändern wir die Ansicht über sie.
Heraus aus dieser (Blüten)Hülle:
Heraus aus dem Konzept, das sie geworden ist,
Durch devolutive Revolution,
Überlassen wir sie wieder, unbestimmt, dem,
was sie ist.
– Was ist sie denn?
– Nun, offenbar: ein Konzeptakel [Balgkapsel, Fruchtbehälter].
Francis Ponge, Änderung der Ansicht über Blumen

***

Prolog: Narcissistic New Roses (Tiptoe Through the Tulips)

I’m a tulip in a cup
I stand no chance of growing up
I’ve made my peace, I’m dead, I’m done
I watch you live to have my fun.
(Fiona Apple, Valentine)

Durch die Blume, conter fleurette, oder doch, wie gewohnt, unverblümt blumig und irgendwie, manisch manieristisch, verwünscht verwunschen gesetzt (und setzen meint, neben vielem anderen, auch (ver)pflanzen), d.h. auf eine — dem standardisierten Kultur-Kult ungewohnte — Art „colerisch“ gewendet:

[„Die Wortherkunft des lateinischen Wortes colere [von dem cultura abstammt: eine Art Abstammungstheorie der Arten wird im folgenden auch Thema sein] leitet sich ab von der indogermanischen Wurzel kuel- für „[sich] drehen, wenden“, so dass die ursprüngliche Bedeutung wohl im Sinne von „emsig beschäftigt sein“ zu suchen ist.“] :

Den Dichtenden scheint das Gärtnern, die Hortikultur — vor allem, wenn es nicht um Ertrag bringenden Nutz-, sondern der reinen Zier dienenden Blumen- oder Florgarten geht —  irgendwie (in aller dem Schönen eigenen Vagheit) zu liegen. Weil beide Arten von ars, Dicht- und Gartenkunst, einschließlich ihrer -kunden, im engen wie weiten Sinn, mit einem hegenden und pflegenden Tun zu tun haben, das, Worte wie Blumenpflanzen, ein- und aus- setzt und, mit Samen und Semen, sät.

Nun, nun müssen dafür Worte, wie Blumen, entstehn.
(Hölderlin, Brot und Wein)

Dies mit dem einzigen Nutzen, Zweck und Ziel, das Gesetzte (Gesätz hieß im Meistergesang auch die erste Strophe des Liedes; daneben ist es — insofern enthält diese Klammer kaum eine Abschweifung — Teil des Rosenkranzgebets) und Gesäte dem Status der bloßen Setzung und Satzung von Setzlingen oder Saatgut botanischer Samen und linguistischer Seme, am Ende noch der pragmatischen Zielsetzung selbst, keimend, sprossend, aufgehend und erblühend, dem nicht als massivem Fundament bebauten, sondern aufgewühlten, umgegrabenen, zum Beet (nichts anderes als Bett, was dem Stamm „bhedh- ‘stechen, bes. in die Erde stechen, graben“ entwächst, bedeutend) gemachten urig erdigen Grund entwachsen zu lassen.
Zusagen wird die Gartenarbeit den Dichtenden auch deswegen, weil beide, sittsame Setzkünste nur vordergründig, zu schaffen haben mit der physischen πρᾶξις eines ποιεῖν, die, durchs zusammenstellende oder komponierende1 Kombinieren, eben: Zusammen-Setzen eines settings, eine seltsam und neu, erstmalig erscheinenlassende Selbstbesinnung des derart Gefügten erwirkt. Also einer Form von Selbstreferentialität, aus einem verwickelten Zugleich (sym, cum, simul, hama, mit-, usw.) heraus zum Erblühen, zur Bedeutung verhilft. Die, einmal gesetzt, gerade im und durchs konstellierte Verhältnis, jedem einzelnen Exemplar in seiner Singularität die ihm gebührende Lage und Stellung zu verschaffen bemüht ist, durch welche es, um seiner selbst willen, jede Einhegung in klassifizierende Arten und Gattungen (und selbst, virtuell, die Gatter aller Arten von Garten) überrankt.

Hofmannsthal beschreibt diese Freisetzung der Gewächse, auf die Neuheit und Seltsamkeit des Von-Selbst eines Sich-Selbst hin, mithilfe eines mindestens zweifachen zugleich:

Der Gärtner tut mit seinen Sträuchern und Stauden, was der Dichter mit den Worten tut: Er stellt sie so zusammen, dass sie zugleich neu und seltsam erscheinen und zugleich auch wie zum ersten Mal ganz sich selbst bedeuten, sich auf sich selbst besinnen“ (Hugo von Hofmannsthal, Gärten, Hervorhebungen TR)

Beiden Arten von ars, ars topiaria und ars poetica, ist es demgemäß — mag auch die eine bei den Römern als Kunst des rigiden Formschnitts, die letztere zuweilen als strenge Regelpoetik auftreten — spätestens in ihren modernen Deutungen, erkennbar unverblümt um fremdartiges Ent-Arten wie Ent-Tun zu tun. Sie sind, in ihrer aneignenden Kultivierungsbemühung —  ihr gardening dabei als eine religio des guarding und regarding verstanden, achtsam und skrupulös hütendes In-die-Wahr-Nehmen — paradox auf eine Art von wilder, ungezähmter Fremdartigkeit aus, die jedes Diesda in seiner nur ihm selbst eigenen Selbstung unaneigenbar als Fall ohne jede Regel darstehen lässt.
Insofern geht es um Schönheit. Ihre Zweckmäßigkeit ist auf die Mitwirkung eines „Ohne“ angewiesen: ohne warum (Angelus Silesius) und ohne Zweck (Kant) zu sein, von beiden abgeschnitten:

Die Ros‘ ist ohn warumb
sie blühet weil sie blühet
Sie achtt nicht jhrer selbst
fragt nicht ob man sie sihet.
(Der Cherubinische Wandersmann, I, 289)

Eine Blume aber, zum Beispiel eine Tulpe, wird für schön gehalten, weil eine gewisse Zweckmäßigkeit, die so,wie wir sie beurteilen, auf gar keinen Zweck bezogen wird, in unserer Wahrnehmung angetroffen wird.
Schönheit ist Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, wenn sie, ohne Vorstellung eines Zwecks, an ihm wahrgenommen wird. (KdU, §17)
Kurzum, die reine, freie, vagierende Schönheit (von Kant pulchritudo vaga genannt), die Blumen wie (poetischen) Worten eignet, liegt in ihrer quasi-narzißtischen Unabhängigkeit und absolut abgelösten Unaneigenbarkeit, durch die sie nur auf sich selbst verweisen:
The beautiful this is thus beautiful for itself: it does without everything, it does without you (insofar as you exist), it does without its class. Envy, jealousy, mortification are at work within our affect, which would thus stem from this sort of quasi -narcis­sistic independence of the beautiful this (this rather than „object“) which refers to nothing other than to itself, which signals toward nothing determinable, not even toward you who must renounce it, but like a voyeur, at the instant that the this gives itself, in­ asmuch as it gives itself, not signaling toward its end or rather, signing its end, cuts itself from it and removes itself from it absolutely. The tulip, if it is beautiful, this irreplaceable tulip of which I am speaking and which I replace in speaking but which remains irreplaceable insofar as it is beautiful, this tulip is beau­tiful because it is without end, complete because cut off, with a pure cut, from its end. (Derrida, The Sans of the Pure Cut, in: The Truth in Painting, 94)

*

 

Bei Rudolf Borchardt (1877–1945),

“Worin seine Sprachmelodie an die Hofmannsthals anklingt, das liegt obenauf; in der rigoros formenden Energie ist er George näher.”2

dem, vordergründig, der Garten sich um den Gärtner, die Dichtung um den — gern als von Götter- und Musengunst abhängigen poeta vates vorgestellten — Dichter zentriert, auf dessen Schöpfertum alles, was vorher von ihm ausgegangen ist, zurückkehrt, verkompliziert sich dieses Verhältnis dadurch, dass die Pflanze (als Blume, als Blüte, und vielleicht: als Schrift/Sprache) zuerst da war und das Paradigma stellt. Von ihr geht etwas — vielleicht alles? — aus. Nämlich die auffordernde Begeisterung, begeistert von ihr ausgehend, zur sie durchdringenden Nachbildung ihrerselbst zu schreiten. Sie gibt dem Geist, dem vegetativen, und damit dem Menschlichen überhaupt — anthos und anthropos überblendend — erst seine Form vor. (Im folgenden werden “Worte wie Blumen”, kaum zu lockeren Sträußen einer Anthologie oder eines Florilegium gebunden, die gleich “Sätzlinge” genannt werden sollen, dem Text — keineswegs nur als illustratives Ornament, Dekor oder Zierrat — lose eingestreut):

“Die Blume begeistert die Sprache und den Gedanken mit sich und fordert Sinn und Hand auf, sie nachbildend zu durchdringen : an ihr entsteht die Metapher und das Ornament.” (15)

Ist die Blume, Blüten hervorbringende krautige Pflanze, — welche letztere semantisch von lat. planta ‘Setzling, Pfropfreis, Schößling’ herkommt –, Inbegriff der Muse(n), immer schon im Plural (überall wo von „die Blume“ die Rede ist, sei diese Multiplizität mitzudenken) und damit Sinnbild einer animierenden, exzitatorischen Kraft der Form?

The Muses get their name from a root that indicates ardor, the quick-tempered tension that leaps out in impatience, desire, or anger, the sort of tension that aches to know and to do. In a milder version, one speaks of the „movements of the spirit.“ (Mens is from the same root.) The Muse animates, stirs up, excites, arouses. She keeps watch less over the form than over the force. Or more precisely: she keeps watch forcefully over the form. (Jean-Luc Nancy, The Muses)

Alle Bildung, die der Sprache, ihrer Ornamente und Metaphern zuerst, geht von diesen festverwurzelten und doch anderem als dem angestammten Grund — dem sie, ihn aufbrechend und zerwühlend, sich entringt — transplantierbaren Bewohnern zweier Welten aus.

daß es möglich, ja nötig ist, den Garten, so wie alles was den Menschen wirklich angeht, als eine Form der Einheit und Unteilbarkeit des menschlichen Geistes anzusehen – denn dies und nichts anderes ist die ganze Humanitas (199)

Doch auch das nach einer bestimmten Lesart des Platonischen Ion von aller τέχνη sorgsam unterschiedene, proto-religiöse Dichterische kontaminiert, durch den Gärtner im Dichter, mit eben jenem von ihm Verdrängten: der pragmatischen Notwendigkeit, in poetischer Formgebung einen sachkundigen Akt technischer “Setzung” zu erkennen. Wenn auch einer anthischen thesis, Anthesis3, die im Schreiben (dem graphein, das mit dem Graben, wie mit dem frz. greffer und engl. grafting, dem veredelnden Propfreis Aufsetzen, eng verwandt ist) von Borchardts Poesiereligion umgekehrt zum Verpflanzen von “Setzlingen” — oder, ersatzweise: “Sätzlingen” epiphythisch metaphorisiert.

“Leidenschaft”, wie sie im Titel als Epitheton erscheint, insistente Intensität eines Begehrens, sich setzend, d.h. pflanzend, ins Verhältnis zu setzen, ist hier, wie überall, Zentralwort Borchardtscher Lehre: “Nur darauf, daß es Leidenschaft sei, bestehe Du.” hatte er, kurz nach der Fertigstellung des Leidenschaftlichen Gärtners, eine Zeile aus der “Conclusion” von Walter Paters Buch The Renaissance – Studies in Art and Poetry übersetzt. Auch diese Passio, dieses Pathos (nichts anderes als die schon genannte begeisterte Erregung) geht von der Pflanze aus und/oder wendet sich zu ihr hin. Gärtner (und also Dichter) ist dann, Goethe ist darin urpflanzenhaftes Vorbild, wer

sich zu Ahnung, Erkenntnis, Forschung, Andacht vollkommen in die Schule der Pflanze schickt, in ihre Welt einkehrt und aus ihr wiedergeboren mit dem unermeßlichen Geschenke heimkehrt, das nur sie ihm hatte geben können, dem Organischen als dem göttlichen Anstoße aller natürlichen Entfaltung aus einem geprägten Keime, dem Bios des Menschengeistes als Organismus, der Morphologie des Phänomens Mensch und Dichter. (27)

passion_flower_stamen

Androgynophor der Passionsblume. Oben drei lange rote Griffeläste, darunter fünf Staubblätter

Adorno verglich den oft herrisch sich gerierenden Habitus seiner sich der Sprache “auf Biegen und Brechen”4 bemächtigenden Dichtungen mit einer nächtlichen Rede über einem Abgrund, Über-Rede:

Sein Timbre setzt sich zusammen aus dem redenden Element und dem des Nächtlichen. Borchardt enträtseln hieße die Chiffre auflösen, welche jene Momente mitsammen bilden. Der Grundhabitus dieser Gedichte ist der eines Sprechens ins Dunkle, das sie selbst verdunkelt. Solche Rede ist nicht wie traditionelle Rhetorik an den anderen gerichtet, gar um ihn zu überreden. Sie ruft wie über den Abgrund hinweg dem undeutlich gewordenen, entschwindenden Anderen zu. Unersättlich fortgesponnen, zeugt sie von der Vergeblichkeit, zu jenem zu dringen, so als sollte in immer erneuten Ansätzen das Unmögliche erreicht werden.Der heroische Gestus der Borchardtschen Rede antwortet verzweifelt auf absolute Einsamkeit. So spricht ein Kind vor sich hin ins Finstere, endlos, um die Angst zu beschwichtigen, die das Schweigen ihm bereitet.

[…]

Nur wenn die Sprache, nach einer Metapher Borchardts, gänzlich umgepflügt wird, sei Dichtung überhaupt noch möglich.

Solche Umpflügung der per unersättlicher Fortspinnung, nächtlich wie abgründig, redenden Eloquenz zeigen sich dort, wo es um Kultivierungsbemühungen von Pflanzen und Gewächsen geht, vielleicht am deutlichsten.

Im Nachvollzug der verwickelten, ja selbstwidersprüchlichen Gemengelagen seiner Gedankengänge erscheint das ab 1937 entstandene, aber erst 1951 von Marie Luise Borchardt aus dem Nachlaß ihres Mannes herausgegebene Gartenbuch Rudolf Borchardts jedenfalls tatsächlich weit abgründiger als es prima vista den Anschein erweckt. Ein vermeintliches Nebenwerk, von dem sich Borchardt den bestseller-Status in England versprach und damit die ökonomische Absicherung — zu beidem kam es nicht — lässt eher die Vermutung wachwerden, das poetologische Zentrum seines Werks zu sein.

Wenn also auch dies Buch, wie einige seiner Leser wissen, für seinen Verf. eine Abschweifung von den Zielen ist, denen die Tätigkeiten seines Lebens gehören, so ist es darum doch keineswegs als ein Beiwerk entstanden, denn solche Beiwerke gibt es nicht.

Abschweifungen sind demnach, beiläufig gesagt, keine Nebensache.

Zunächst mit dem Untertitel „Der menschliche Blumenbesitz als eine Ordnung des Menschengeistes“ versehen,

(– Wie müsste man sich solchen “Besitz” vorstellen, wie erlangt man solche Habe? Wohl im sich an- und zueignenden Sammeln?

Der Mensch der Blumen pflanzt, ist ein Gärtner. Um Blumen pflanzen zu können, muß man Blumen haben. Um sie zu haben, gibt es mehr als einen Weg. Man hat sie gesammelt wo sie vorkamen; man hat, ohne sie zu verletzen, ihnen Teile entnommen und sie gesetzt ; man hat sie aus ihrer wilden Saat hervorgerufen ; und man hat die auf diese Weise besessenen aus ihrer neuen Nachfolge vermehrt und wieder umgepflanzt. (30))

begibt sich “Der leidenschaftliche Gärtner” im Laufe der Lektüre mehr und mehr seiner vermeintlichen Unschuld (die, bloße Idylle oder hemdsärmelig-ratgeberhaftes Vademecum zu sein) und zeigt sich mit sowohl politischen wie poetologischen Überlegungen ex- wie implizit kontaminiert. So schreibt der Nachwortautor Christian Welzbacher, der Borchardts Wort von der Blume (Zentrum der Gartenidee: spricht Borchardt vom Garten, spricht er von Blumengarten und -zucht) als “Zentrum der Poesie” ernst nimmt:

Recht verstanden ist der Leidenschaftliche Gärtner eine sublimierte, transzendierte Poetologie. Das Buch ist ein heimlicher Schlüssel zu Borchardts Werk. (304)

Doch er will die Politizität dieser (wie aller) Poetik dabei nicht überbewertet wissen. Dennoch scheint sie unleugbar an dem Buch, dessen als Appendix angehängtes, jedoch eigentliches Kernstück ein “Katalog der Verkannten, Neuen, Verlorenen, Seltenen, Eigenen” darstellt. Die Blume als Pflanze ist Ingebriff eines Vegetabilischen, das mit der Humanitias (und das heißt: dem Geist) ineins fällt, sich gegen die Ungunst des Bodens (wie des Menschen) behauptet.

Jedes ihrer Geschöpfe ist ein kontrahiertes Kompendium seiner gesamten Vorgeschichte, und eine angedeutete Voraussetzung seiner unabsehbaren Nachgeschichte. Der Mensch, hat Nietzsche, in seiner tiefen Geschichtsfeindschaft gesagt, ist nur ein Übergang. Er ist es dort wo er der Pflanze am verwandtesten ist, denn genau das ist ganz und gar die Pflanze. (92).

“L’objet poétique par excellence” (Sartre), Figur aller Figuren. Sie ist ein eigensinnig filigranes Wesen, mit spezifischen Bedürfnissen, die sie zwar mit ihrer “Art” gemeinsam hat, deren jeweilige Ausprägungen aber der achtsamen Betreuung ihres Pflegers allein in Erfahrung zu bringen sind. Die enge Verwandtschaft zwischen Pflanze und Menschlichem (und somit Geist) besteht in der passageren, metamorphischen Verwandelbarkeit, Übergänglichkeit:

Blumen, die immer wieder auch als Inbegriff des Änderns und Veränderns, der Modifikation und Metamorphose angesehen und beschrieben wurden

schreibt Thomas Schestag in seinem philologischen Kommentar zu Ponges´ L’Opinion changée quant aux Fleurs, der umschreibt, wie Ponges Schreiben den Vorsatz fasst, von den Pflanzen selbst, den Schreibenden par excellence, und dem Eindruck ihres Ausdrucks, auszugehen.5 Und verweist neben Hegel auf die Metamorphose der Pflanzen Goethens, welcher für Borchardt den Inbegriff des Dichter-Gärtners darstellt.

Der menschliche Geist ist der Blume verwandter als dem Tiere und hat sich immer so empfunden. Dieser Umstand allein erklärt es, daß die Vegetationsmetapher die gesamte menschliche Sprache durchädert und das heimliche Gerüst aller ihrer Bildlichkeit ist. (16)

Was heißt dann aber “Metapher”, wenn man sie als Sprache durchäderndes, bildgebendes Gerüst vorstellt? Von welchem Eigentlichen, das zuerst da war, sollte sich ein übertragener Sinn ableiten, wenn das Ableiten und Übertragen, Übergehen, Umgraben und unersättliche Fortspinnen selbst zum Eigentlichen werden?

Vielleicht sind es die biologistischen Voraussetzungen einer den Grund und Boden essentialisierenden Rassentheorie, die dem vom faschistisch-totalitären Prinzip zunächst (etwa in der Rede Führung aus dem Jahr 1931) begeisterten, von diesem schließlich an die Macht gekommenen aber aufgrund seines Judentums (dem er sich ebenso fremd fühlte)

,Jede Überlieferung jüdischer Art im Guten und Befeindeten, jedes Gefühl jüdischer Geschlossenheit oder gar jüdischen Volkstums ist mir nicht nur fremd, sondern, wo es mir später je entgegentrat, unheimlich und grauenhaft gewesen6

ausgeschlossenen Dichters von der “Unergründlickeit des Bodengesetztes” (d.h. Unergründlichkeit des deshalb nicht als chtonische Wirkmacht in Besitz zu nehmenden Grundes) zur Blume und deren mystischem Ohn´warumb trieb. Sowie zu einer Theorie der Züchtung, die mit der nazistischen Rassenhygiene wenig gemein hat. Sie spricht sich, ausgehend vom Oxymoron oder der Enant(h)iosis der “Urmutation” (“Zu den Urmutationen treten die Urmischungen, starke Bastarde, die Heterosen.”, 91) “gegen die Spezies” aus, und für “die Kulturvarietät, die Mutation und die Heterose.” (80)

Sowie für Verschnitt, Kreuzung und somit Bastard und Hybrid. Zum Exzellenzmerkmal einer Ethnie wird für Borchardts kuriosen Nationalismus ebenso nicht ihre Reinheit, sondern ihre “Mischbarkeit”.

Daher ist die erste unzweifelhafte deutsche Anlage und ein echter Grundzug, der hohe Grad seiner Mischbarkeit und sein Drang nach Mischung, im starken Gegensatze zu der umgekehrten Reinerhaltungstendenz oder geringen Lösbarkeit anderer Völker, und dieser Zug hat die Deutsche Geschichte, die des Erdteils und der Welt wesentlich mitgestaltet; es hat gleichzeitig das deutsche Verhältnis zu ändern Nationen als ein offenes, stark ein- und ausatmendes bestimmt, und zwar von den ältesten Anfängen an, denn auf der ältesten erreichbaren Völkerkarte Europas umgeben bereits den von Deutschen gefüllten Raum Gürtel halbdeutscher Mischvölker, ein sonst ganz unerhörter Vorgang. Gleicher Anlage ist offenbar die außerordentliche Empfänglichkeit des Deutschen für überlegene Kulturen, umgekehrt ausgedrückt die geringe Mühe für überlegene Kulturen sich bei Deutschen Anhang zu schaffen […] (Borchardt, Der Untergang der deutschen Nation, Prosa V, 517)

Die aus der Botanik – und mir als Gärtner – bekannte HeterosenLehre von der besonderen Wüchsigkeit und Blühwilligkeit bestimmter frischer Bastardierungen lässt sich auf das Menschengeschlecht darum nicht anwenden weil es als Variabilissimum die reine Species nicht kennt, nicht einmal die Primarvarietät. Feststeht ebenso die Frische bestimmter wie die Sterilität anderer Kreuzungen zwischen Gruppen. In Italien ist bekannt, dass italienisch-englische Kreuzung relativ positiv fällt, italienisch-deutsche und italienisch-amerikanische mittelmässig bis negativ. … Nun also all diesen Plunder beiseit, der kein festes Zufassen gestattet.« (Briefe 1936–1945, S. 27.)

Variabilissimum: der Mensch, die Pflanze. Überall die Rede vom “Variationstrieb der Natur.”

Wenn eine einzige Pflanze ›variabel‹ ist, so sind es alle, ist Die Pflanze variabel. Sie ist es, weil Natur es ist. Was wie ›Entwickelung‹ hatte aussehen mögen, ist Variationstrieb. (86)

Es gibt nur Kollektivitäten: den Wald, nicht die Tanne, die Gruppe, nicht die Einzelpflanze, den Bestand, der eine Einheit bildet oder zu bilden trachtet. Er ist zwar noch, wo er auftritt, eine Notwehrform, die, wie die der Herde, das Einzelindividuum schützt und garantiert, aber er ist als ursprünglich unerstickbarer Erbkeim ein Zurückstreben in den Urreichtum, ein Naturwille. Denn dieser Naturwille, der Trieb der fessellosen Variation, kann sich nur beim Schalten im Vollen und Unabsehbaren an sich selber sättigen. An und für sich und ideell genommen gibt es nicht zwei sich völlig gleiche Pflanzen ; es gibt nur Varietäten, der Typus ist eine rein theoretische Annahme ; aber der für uns deutlich wahrnehmbare Grad der Varietät, die Mutation, tritt als naturgesetzliche Erscheinung nur im Massenbestand, und nur im alten auf. (91)

Diesseits einer Klassifkatorik, die am Ende in Arten und Gattungen mehr als ein Übersichtlichkeit schaffendes Ordnungsverfahren sieht, gibt es Namen, die dem Singulären Exemplar gelten; mag es auch mehr als eines dieser Sorte davon geben.

Kryptische Gnomen die chtonische, physiokratische Mysterien vorauszusetzen scheinen, zeugen gleichzeitig von einer “Naturgeschichte”, einer immer schon als und durch Geschichte (die hier ihren geologischen Sedimentierungssinn mitklingen lässt) nur vermittelten Natur.

Das Bodengesetz ist nicht enträtselt. (137)

Die Gewalt des Landschaftsgesetzes sprengt jede Menschenregel.(116)

Der Garten der Menschheit ist eine gewaltige Demokratie. (S. 204)

Die Geschichte der Erdnatur ist der geschichtliche Weg zur Blume als einem werdenden Wesen. (141)

*

Das Dickicht sei laut Adorno kein heiliger Hain: Borchardts Text, in seiner Anlage ein überbordender Wildwuchs (der Romantik, ihrem Samen- und Keimkult und ihren Arabasken entstammend) zeugt von einem paracelsischen Wuchern, das die engabgesteckten Grenzen jedes durch einen Zaun von äußerem Gewächs getrennten hortus conclusus überrankt. Jener abgesteckte Rahmen, auf dem Borchardt besteht, faßt das von kundiger Hand gepflegte Gehege wie einen Schutzraum ein, richtet ihn auf einen Mittelpunkt (den Gärtner-Dichter) aus und lässt den Garten dabei selbst, als aus dem Außen ausgenommener Ausnahmezustand einer vom Geist geformten, gehegten und gepflegten Intimität, zu einem kulturtechnischen Kunstwerk werden.

Und eben darum enthält der Garten gerade nicht diejenige Blume, die vor seinen Gittern frei vorkommt, sondern die einer Landschaft des Andersseins, eines Traums, einer Sehnsucht. Das Gitter trennt zwei Welten, wozu sonst wäre es da ? (105)

In diesem Sinne nimmt der “Garten”, “geheiligte Umgrenzung”, tempus und Tempel, in Borchardts Buch eine ungreifbare Gestalt an: einerseits ist er ubiquitär, es gibt nur ihn in allen erdenklichen Ausprägungen; andererseits ist er stets schon verloren, immer nur ersehnt. Paradise lost, Eden-Ende. Was bleibt, kann nur Paradies-Parodie sein.

Ideal des Gartens, an dem nichts spricht als das Geheimnis der Verschlossenheit – Hortus Conclusus. (12)

Ein Garten ist etwas, woraus man nur hat vertrieben werden können, denn wie sonst hätte man ihn je verlassen ? Ein Garten ist das was ›jenseits‹ unser harrt, Paradies, Elysium, Hesperiden. (10)

Der Garten ist, wie die Bühne und das Museum, wie die Bibliothek und die Kuppel des Sternenwächters, wie Orchester und Tempel und Thronsaal, eine geheiligte Umgrenzung unserer höchsten Würde, und er kommuniziert mit ihnen allen, wie sie untereinander alle allerwärts kommunizieren. (200)

Die Menschheit stammt aus einem Garten. Das meiste, was ihr seit ihrem Ursprunge zugestoßen ist, hängt mit Vorgängen zusammen, die sich als Gartenfrevel bezeichnen lassen, und zwar, tiefsinniger Weise, nicht als einfacher, sondern als doppelter. Die Verletzung der Gartenordnung durch philisterhaftes Aufessen von symbolischen Früchten führt automatisch zum noch bedenklicheren Mißbrauche schöner Vegetation für Werkstoff-Zwecke, nämlich für solche vergänglicher Kleidung. (8)

Wir sind über den Heimatsgarten der Menschheit genügend unterrichtet, um eine Vorstellung von seiner technischen Struktur zu haben. Er war, wie alles urälteste Menschliche, eine ganz symmetrische Anlage, genauer gesagt eine geometrische. Alles Menschliche beginnt darum weil der menschliche Geist eingeatmeter göttlicher Geist ist, als eine Ordnung, und muß auf dem Wege der von Gott verhängten Unordnung wieder eine Ordnung werden. Der Garten Eden war eine quadratische Anlage, durch ein Kreuz von vier aus seiner Mitte entspringenden Flüssen symmetrisch aufgeteilt und bewässert. (9)

Nicht aus Natur mithin, aus einem Garten vielmehr (künstlichem Gehege, einem Kunstwerk, der prästabilierten Hamonie zwischen Mensch und allem restlichen, was kreucht und fleucht), genauer: dem Garten aller Gärten, dem paradiesischen Eden, ist die Menschheit für Borchardt gekommen, der (als Übersetzer des Lysis) auch darin, in einem euklidischen Sinne platonisch ist, der für den absolutistischen Barockgarten typischen rigorosen Geometrie der klar abgesteckten Proportionen den Rang einer für den Geist zwar verlorenen, aber ihr nacheifernden Matrix zuzusprechen.

Das Ordnungsprinzip des menschlichen Gartens, das immer zum Geometrischen strebt (82)

Blume, Garten, Geist, Humanitas: in welchem Verhältnis sie zueinander stehen, bleibt bis zu einem gewissen Grad verworren. Sind sie einander Supplemente, auseinander erwachsende Epiphythen? Das Wildwuchern, das Borchardts erkennbare Angst vor dem amorphen Chaos, der reinen Urwüchsigkeit, in die Landschaft verfrachten und dem Garten auslagern möchte, vollzieht sich mitten in ihm.

Narcissus poeticus Spechtensee 01

Dichter-Narzisse (Narcissus poeticus)

“Ich habe nichts als Rauschen(/kein Deutliches erwarte Dir)”, von Adorno für wert befunden, über der gesamten Eichendorffschen Lyrik zu stehen, nennt jenen nicht zu eliminierenden, konstitutiven noise, von Michel Serres als Parasit bezeichnetes Hintergrundgeräusch jeder distinkten Kommunikation als Entscheidendes. Im Gartenbuch, Borchardts Liber de cultura hortorum, Hortulus in Nachfolge des Strabo, tritt an dessen Stelle das Wuchern, das häufigstes Epitheton sein dürfte und seine Sprache selbst als ein bedrohlich arabeskes Rankwerk, “unersättlich fortgesponnen” (Adorno über Borchards nächtliche Rede), metastatisch wachsen lässt. Die Lektion der Lektüre liegt vielleicht in der Erfahrung, das, was Borchardt als „Gartenfrevel“ bezeichnet (und sicher in seiner barbarischsten Ausprägung in der nazistischen Rassenlehre wiederfand) als einen an Sprache, diesem pflanzenhaften Wesen, zu erkennen, deren konstitutives Wuchern zurecht zu stutzen seine Poetologie in ihrer Praxis sich nicht entschließen wollte.

Die Blume zielt auf den Menschen. Darum blüht nur dem Menschen die Blume. Und darum ist nur das Kompendium des Menschen, der Dichter, der vollkommene Gärtner. (29)

Dass diese unidirektional teleologische Zielbestimmung, eine für die traditionell humanistisch-anthropozentrischen Altlasten von “Borchardts Moderne” (Adorno) dominante Deutungstendenz, gerade aufgrund der kontinuierlich diskontinuierlichen Ausschreibung der Sprache (als welches sich auch Wachsen und aufbrechendes Erblühen betrachten lassen, wie vegatives Wuchern im Ganzen), stetig scheitert, bildet die generative Aporie dieser Prosa, deren Formgesetz die Antithetik ist, und die aus Antagonismen den Funken schlägt.7 Wenn die Blume, nach der Ansicht des Menschen, nur dem Menschen blüht, dann nur, weil der Mensch für sie und ihre Ziel und Zwecklosigkeit – in welcher der ganze, freie Zweck ihrer Schönheit liegt — keine Rolle spielt. Die Blume bricht/spricht (sich)(ab/aus, etc.), und alle Rede über sie tut es ihr gleich.

Die Sprache ist die Blume des Mundes. In ihr erblüht die Erde der Blüte des Himmels entgegen. (Heidegger)

Cela bien dit, […] mais il faut cultiver notre jardin. (Voltaire, Candide)

Tillmann Reik

Link zur Neuausgabe des Buches bei Matthes & Seitz Berlin

 

Entscheidende Anregungen fanden sich in: Francis Ponge: L’Opinion changée quant aux fleurs- Änderung der Ansicht über Blumen – hrsg. und übers. von Thomas Schestag – Ed. Urs Engeler, Basel 2005. Link.

 

1“Buchstäblich wird mit dieser [der Sprache bei Borchardt] komponiert.” Dieses wie das fortfolgend Zitierte in: Theodor W. Adorno: Die beschworene Sprache, in: Noten zur Literatur. GS11, S.537 und 543

2Adorno, a.a.O.

3Anthese w [von griech. anthēsis = Blüte], Entwicklungsabschnitt der Blüte von Beginn der Knospenentfaltung bis zum Beginn des Verblühens.” http://www.spektrum.de/lexikon/biologie/anthese/3890

4“Eben weil die Sprache nicht unmittelbar garantiert, was sie seiner Konzeption zufolge müßte, bemächtigt er sich ihrer auf Biegen und Brechen.”

5Francis Ponge: L’Opinion changée quant aux fleurs- Änderung der Ansicht über Blumen – hrsg. und übers. von Thomas Schestag – Ed. Urs Engeler, Basel 2005

6Borchardt an Max Brod, 19. November 1931, Briefe 1931-1935, S. 93f.

7In einer von Adorno als durchschaute Hybris bezeichneten Selbstdeutung deutet sich immerhin an, wie die Auffassung des Dichters als Zentrum und transzendentalem Signifikant (oder Signifikat) von einer „medialen“ ergänzt und gefährdet wird: dem Dichter als Medium, durchlässigem Organon von Sprache selbst: “Ich habe es früh als einen tiefen Unterschied zwischen Hofmannsthal und mir angesehen, daß er literaturmäßig dankbare Stoffe und halb gestaltete Formen der vergangenen Literatur als Bearbeiter aufgriff, um ihnen endgiltige und harmonische Formen zu geben, während mir der Weg der Menschheit, der europäischen Menschheit, überhaupt und im Ganzen als vorschwebender Mythus erschien, der nirgends zu Ende gekommen war und sich in allen seinen Stücken durch mich weiter dichtete …” (Borchardt, Gedichte, Stuttgart 1957 (Gesammelte Werke in Einzelbänden), S. 568 f.). Zum produktiven Widerspruch Borchardts, vgl. ebenfalls Adorno (a.a.O.): “Billig, die vom objektiven Widerspruch bedingte Komplexität Borchardt als subjektive Schwäche anzukreiden. Die Zerrissenheit eines Dichters ist ein Topos unter Literaturhistorikern, anwendbar auf jegliches Phänomen, das nicht in ihr Konzept paßt. Der Würdigende beschlagnahmt durchs Verdikt über den Zerrissenen für sich eitel Harmonie und prätendiert eine Überlegenheit über sein Opfer, die in nichts anderem zu bestehen pflegt, als daß er jenen zum Gegenstand wählt, nicht umgekehrt. Das schale Ideal des in sich ausgeglichenen, widerspruchsfreien Menschen – wie armselig müßte einer sein, der ihm mitten in der dissonanten Welt entspräche – paart sich vortrefflich mit der Sitte zu personalisieren, dem einzelnen Autor umstandslos zuzuschreiben, was in seiner Objektivität zu begreifen die etablierte Philologie unfähig ist. Borchardt taugt paradigmatisch zur Widerlegung der Phrase von der Zerrissenheit, die er in manchem herausfordert. Die Spannungen im oeuvre und in der Person, die, nach dem Brahmsischen Wort, jeder Esel sieht, haben ihn nicht sowohl gehemmt als gesteigert. Fast möchte man sein Außerordentliches darin suchen, wie er aus Antagonismen den Funken schlug. Nicht darum geht es, wie der Dichter mit angeblicher oder faktischer innerer Problematik fertig wird manche der größten, zumal in Frankreich, haben gerade das nie vermocht -, sondern wie er auf die Antagonismen, denen er konfrontiert ist und die freilich auch in ihn hineinreichen, durchs Gebilde antwortet. Versöhnung in Borchardts Werk besteht in der Gestaltung des Unversöhnlichen. Der Lyriker Borchardt vibriert zwischen Polen und eignet noch ihre Antithetik als Formgesetz sich zu.´”

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