Jean-Luc Nancy: Das nackte Denken

image.phpEntblößte Besinnung

Je pense comme une fille enlève sa robe (G. Bataille)

Andersartige Enthüllungen

Es wird sich alles, damit sind die „Annäherungsversuche an die Nacktheit“ gemeint, als gleichermaßen Fortführung wie Unterbrechung platonischer Erotologie entlarven lassen, durch welche Philosophie (ein, um überdies, missbräuchlich, den Stagiriten anzuführen: Denken des Denkens) immer auch an ein Sich-Emporschwingen der Seele aus der Glut eines Begehrens geknüpft bleibt. Eines Begehrens, sich entzündend im und am Sinnlichen, das letztlich sich selbst begehrt, entkleiden und berühren will, sich dabei jedoch unhintergehbar verfehlt und stets neu einfordert. So dass in Folge

„Vögeln“ und Denken insofern eng miteinandern verbunden sind, als beide mit der Liebe zu tun haben.

Aber um Entlarvung, Entschleierung und gar Bloßstellung im Sinne eines der wirklichen, unter einer Verdeckung fertig vorliegenden Wahrheit auf die Schliche Kommens, geht es, scheint´s, nicht mehr, dort wo denkend die verschiedenen Facetten von Nacktheit sich aufspannen. Travestie und Transsexualität bieten als Durchquerungen und Durchkreuzungen oppositioneller Logik sich an, durch die Spannungen zwischen Wesen sich, diffuser, Bahn bricht.

Hatte Heidegger, in seiner grammatikalischen Kühnheit (die oft geziehen wurde, bloß effekthascherisch einen Ton des orakelnden Raunens generierende Wortakrobatik zu sein) kurzerhand das im Deutschen geschlechtlich eindeutig sächlich deklinierte Gedächtnis, eingedenk seiner mythologischen Abstammung aus der Titanide Mnemosyne, Mutter der Musen, im rhetorischen Akt einer Prosopopeia transsexualisiert, feminisiert[i], erotisiert in die Gedächtnis,

Unsere Sprache sagt: das Gedächtnis. Sie sagt aber auch: die Erkenntnis, die Befugnis; und wieder: das Begräbnis, das Geschehnis. Kant z.B. sagt in seinem Sprachgebrauch und oft nahe beieinander bald »die Erkenntnis«, bald »das Erkenntnis«. Wir dürften daher ohne Gewaltsamkeit Μνημοσύνη, dem griechischen Femininum entsprechend, übersetzen: »die Gedächtnis«.

so läge angesichts der neu erschienen Übersetzung von „La pensée dérobée“, eine ähnliche Trans-Sexualisierung verlockend nah.

Mnemosyne (1881), von Dante Gabriel Rossetti

Mnemosyne (1881), von Dante Gabriel Rossetti

Denn der neutrale, vom Übersetzer Markus Sedlaczek gewählte Titel „Das nackte Denken“ gibt in seiner trockenen, manierismenfeindlichen Pragmatik den Originaltitel zwar zureichend wieder, nackt, so dass er — wenn man wüsste, was das heißt: — verstanden werden kann (und die semantische Überdeterminiertheit ergibt sich im Zuge der Lektüre der einzelnen Aufsätze sukzessive anreichernd von selbst.). Trotzdem stellt sich, zumindest bei dem den Originaltitel im Ohr habenden Rezensenten, ein Gefühl der Insuffizienz ein und das Bedürfnis, ein Sehnen, eine Begehrlichkeit eben, ähnliche Kühnheit walten zu lassen wie Heidegger (dessen „ursprüngliche Ethik“ in einem Kapitel des Bandes untersucht wird) mit seinen gar nicht mal ungewaltsamen chirurgischen Eingriffen sie sich, immer ein wenig auch mit taschenspielerischer Chuzpe, gestattet hatte.

Die Gedächtnis, sagt Heidegger, warum dann also nicht, selbst wenn keine mythologische Figur aufgerufen werden kann, auch: die Denken oder, immerhin sehr heideggeresk: die Besinnung? „Die nackte Denken“, „Die Nackte denken“, „Die Nackte ´Denken`“?

Und weiter: derobée, heißt das bloß „Das nackte Denken“ oder ist das Sagenwollen dieser Leitformel damit nicht karg heruntergebrochen aufs aller Vordergründigste, Banalste? Gerade wenn man weiß, dass Nancy das femininum pensée immer vom lateinischen pendere her als ein Wiegen und Wägen begreift, als ein Pendant des pendelnden Balancierens [ii] und das Bataillsche dérober in seiner verwickelten Etymologie durchaus auch stehlen, rauben, eben die Robe entwenden bedeuten kann. Darüber hinaus mag die Entweiblichung, die Neutralisierung des Substantivs ihrerseits wie eine Beraubung erscheinen.

Kurz: Stellt nicht die Übersetzung„Das nackte Denken“ in ihrer Nacktheit den Originaltitel bloß, entleert ihn, beraubt ihn seiner Fülle, entkleidet ihn aller schmückenden Umhüllungen, enteignet ihn? Und tut damit paradoxerweise bei allem damit einhergehenden Verlust auf bestimmte, vielleicht subtil didaktische Weise genau das Richtige? Allen Forderungen nach üppiger Blumigkeit zum Trotz? Denn vielleicht geht es, mit Blanchot (dessen Begriff des Neutralen hier nicht von ungefähr in den Sinn kommt) nicht darum, eine Leere zu füllen, Sinn zu infiltrieren, sondern sie immer weiter zu leeren. So gesehen stellt das Ungeschlecht des Neutrums nicht bloß eine Gewaltsamkeit dar, sondern sein schwebender Zwischenstatus sorgt dafür, dass die Kampfzonenlogik der sexes temporär – und temperierend – ausgesetzt wird.

Vermutlich drehen sich die Überlegungen des im französischen schon 2001 erschienen Bandes, der in die Teilabschnitte

Noos, Denken, Sinn –
Ethos, Verhalten, Haltung –
Nomos, Teilen, Gesetz –
Kenos, leer, entblößt –

gegliedert ist, genau um jene „Übersetzungsprobleme“

„denn Nacktheit ist immer auch Fremdheit und Unübersetzbarkeit: die flüchtige Einzigartigkeit eines einzigen Sinns.“S.21.

Die res ipsa, die Sache selbst erfordert die Konfrontation einer sich entziehenden Bloßgelegtheit, Barkeit, Brache mit einer anderen: des Denkens ohne Halt und Geländer (derart sich das Ver-Hältnis der ratio immer auch als Entzug allen Haltens lesen lässt) und der Welt als hier und jetzt ohne tranzendente und tranzendentale Verankerung. Das Bare und Bloße in seinem Entzug und seiner Unantastbarkeit, die dennoch auf erotische Weise dazu verlockt, an sie zu rühren, bloßlegend und entthelogisierend (191, Anm. 1), steht auf dem Spiel.

Nacktheit als Denken, Denken als Selbst- und Fremdentblößung, soviel stellt sich in den einschlägigen Passagen heraus, gerade auch in solchen, wo Nancy das /die Denken, das er zu Anfang bereits als ein „Äußerstes“ fasst, im Gefolge Batailles mit einem sich entblößenden Mädchen vergleicht, ist nie nackt genug, sondern ein prozeßhafter Zustand des immer weiter sich Entziehens, Entleerens, Bloßlegens, Beraubens eines Begehrens, das, jenseits von Wissen, Fundament und Telos, sich selbst begehrt in seinem conatus, „jenseits oder diesseits aller Vollendung – Erfüllung oder Sättigung. S.23), aber auch sich sich selbst entzieht.

Sie, die Nackheit, ist Mythenlosigkeit (Überbordung auch des Mythos vom Logos als Gründung und Rechenschaftsablegung) und sie ist Endlichkeit (worauf eine Kompilation von Schriften Nancys mit dem Titel „Une Pensée finie “ anspielt).

Und schließlich ist Nacktheit Nacht: In der progammatischen Studie „Das nackte Denken, das sich entzieht“ wird diese Zusammenführung zweier „Entzüge“ auf, im positivsten seiner Sinne, abenteuerliche Weise plausibilisiert.

Dort unterscheidet sich das erprobte nackte Denken von Mystik und Wissen, Ekstase und Wissen am deutlichsten und subvertiert die eingangs erwähnte Genealogie nachhaltig, wo es von aller Vollendung, Sättigung und Fülle stets unendlich weit entfernt bleibt:

„Was das nackte, sich entziehende Denken denkt,denkt es also nur als das, wodurch es sich selbst entzogen wird.“

Das „Äußerste an Denken“, ein „nacktes Denken“, was in diesen Aufsätzen gefordert, erprobt (aber auch schon an den scheinbar entlegensten Orten – wie dem „Systen der Lust“, als welches des rigoristischen Asketen Kants Philosophie plötzlich aufscheint – aufgespürt) wird, erweist einmal mehr, in welchem Maße Nancy den Reichtum und die Konsequenz schwierigster ererbter ontologischer Fragestellungen, nur und gerade indem er deren Elan und Furor nicht verwirft, sondern verschärft, zu dekonstruieren vermag (oder deren immanente Auto-Dekonstuktion aufweist und freisetzt. Beide Bewegungen, Hetero- und Auto-Dekonstruktion, lassen sich voneinander nicht trennen.) Was nichts anderes heißt, als dass es gelingt, mit insistentester, den Körper als Sinnquelle mit einbegreifender Geste, eine Denkpraxis (als Kunst und Technik) zu stiften, die (hier treffen sich Nancys immer noch nicht ins Deutsche übersetzter Band „L´éxperience de la liberté mit Celan, der abschließend, frei, zitiert werden soll) eine Erfahrung von Freigabe spürbar werden lässt, die den traditionellen Fragestellungen in all ihrer Enge und Geschlossenheit immanent ist:

“ Die Denk-Kunst erweitern? Nein, sondern geh mit ihr in ihre allereigenste Enge und setze sie frei.“

Tillmann Reik


[i] Oder ebenso schön: „Eine Geste ein Verhalten, eine Weise, sich irgendwohin zu bewegen oder etwas kommen zu lassen, eine Disposition – einladender Wink oder Sich-entziehen –, die aller Bedeutungsherstellung vorausgeht. Eine Erfahrung: ein Überschreiten aller gegebenen Bedeutung und Annäherung an eine Realität, die der Sinn in seinen Netzen nicht festzuhalten vermag.«