Egenhofer, Hinterwaldner, Spies, Hrsg.: Was ist ein Bild? Antworten in Bildern

gottfriedboehm-wasisteinbildIkonizität ohne Paradigma

I apologize for being so transparent.(Gustavo Fring in Breaking Bad, Episode 3.05 : Mas)

Paradigm shift: Mit jenem bildhaft-metaphorischen Terminus hatte der Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn Anfang der 60er Jahre den Wandel von für wissenschaftliche Forschungsbemühungen grundlegende Rahmenbedingungen, die disziplinäre Matrix, bezeichnet. Dies noch bevor das Denken in Kehren, Wechseln, Wendungen und Turns (linguistic, pictoral, spatial, performative etc.) in raschem Turnus selbst zum Leitbild der scientific community avanciert war.

Stell Dir vor/imagine: Wissenschaft (auch die populäre alltäglicher Welterkundung) bildet sich ihre Meinungen und Anschauungen in Bildern. Und Bildern von Bildern von Bildern … Was zu zeigen sein wird.

gottfriedboehm-wiebildersinnerzeugenIkonizität als Leitbild

Wie ist es sonst zu verstehen, wenn, im Zuge des von Gottfried Boehm – der inzwischen mit Bildkritik/eikones in Basel ein ambitioniertes Forschungsprojekt in Gang gesetzt hat – sogenannten iconic turn, das Bildhafte (in seinem weitesten, interdisziplinären, die Domäne der Kunstwissenschaft transzendierenden Sinne) in den Ruf gerät, selbst immer schon Vorbildfunktion fürs sich bilderlos rühmende „Wissen“ (der Ablautstufe des Perfekts ie. *u̯oid- ‘gesehen haben’) besessen zu haben, oder das Wissen der Forderung ausgesetzt wird, solche Bedeutung des Ikonischen einzugestehen (denn zwischen Befund und Apell, Ist und Soll, schwankt das Unternehmen)? Das „Ikonische im Logos bzw. als Logos zur Geltung zu bringen“. (hier)

Was zeigt sich darin?

(De-)Monstration

Ums Zeigen als solches, Deixis (im griechischen „Para-deigma“ enthalten) – nicht-prädikativ, vor-semantisch, alle bedeutungstragende Sprachverlautbarung erst ermöglichend (oder von vorn herein verunmöglichend?) -, scheint es sich beim Bild (das etymologisch vielleicht auf ein wundersames „monströses“ Vor-Zeichen zurückgeht), bei Bildern (denn sie treten, jedes in seiner Singularität, immer im Plural auf) doch durchweg zu drehen? Und gleich um ein doppeltes: „nämlich etwas zu zeigen und sich zu zeigen“. So Boehm in seinem Buch Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens. Beide Zeigeweisen „verschränken sich“ (ebenda, S.30) und gerinnen zur simultanisierenden

„Darstellung eines abwesenden Was?“.

Von Spuren, Fährten, die sich ans Gespür adressieren (S.147). Die ontologische, sokratische Frage „Was ist ein Bild?“, sofern sie diesen Spuren nachspüren will, steht aufgrund ihrer Umformung in ein „Was ist diese Präsenz eines abwesenden Was?“ vor keiner anderen Wahl, als die tautologische Statik der Investigation in ein WIE aufzuweichen.

image.phpBildwesen

Das „Wesen“ des Bildes untersuchen meint dann, als substantiviertes Zeitwort verstanden, die Art und Weise, wie es west, aufzuzeigen. Sein spezifisches Zeigen zu zeigen. Als Zwischenbefund einer solchen Bildphänomenologie mag hier bereits aufzuscheinen, dass eine hermeneutische Zirkularität über das, was es aufzuweisen gilt, immer schon irgendwie verfügen muss: Eine Art Zeige-Kraft bleibt unhintergehbare Voraussetzung aller Bildanalyse. Und: Womöglich lassen sich Bilder nur verstehen (oder gar überhaupt sehen), wenn ihnen sich immer schon ein anderes, weiteres überblendet, das es supplementiert, ergänzt und stellvertritt. Noch das Heureka jeder treffenden sprachlichen Proposition (S ist P), „ja, wahrhaftig, das ist es!“, zehrt mithin von dieser selbst nicht zu beweisenden Evidenz, ihrer wirkmächtigen Anschaulichkeit und Überzeugungskraft.

Nochmals: Wie stellt sich ein abwesendes Was dar? Wie gewinnt sie Präsenz, setzt sie sich in Szene, diese Absenz? Sind nicht alle Erscheinungen, alle Phänomene, irgendwie Bilder und ein hors-image, ein Bild-Außerhalb gäbe es somit nicht? Oder ist und bleibt „Bild“ ein Spezialfall, genau konturiert und gerahmt von seiner Umwelt getrennt, eines Phänomens? Dann gäbe es einen

„den Bildern eigentümlichen inneren Überhang, der sich von der Oberfläche der Welt unterscheidet“. (S.70)

Also muss, so Boehm, eine Unterscheidung statthaben: die ikonische Differenz, durch welche sich eine Figur von einem Grund abhebt. Eine an Gestaltpsychologie erinnernde Vereinfachung, die Boehm in unermüdlicher Begriffsarbeit mit Komplexität anreichert.

Womöglich sind dies alles überhaupt nur Transparenz verstellende Metaphern, Übertragungen, mit denen einem begrifflichen präzisen Sachverhalt uneigentliche Bebilderungen übertragen werden? (Dass die mediale Macht des Bildes gerade im Diaphanen, Durchscheinenden, Transparenten und dessen Opazität liegen könnte, hat Emmauel Alloa kürzlich beleuchtet.) Man muss sich ein genaues Bild machen, die Sache auf den Begriff bringen. Ist beides dasselbe, aber anders oder etwas nicht aufeinander zurückführbares, unversöhnlich im Streit liegendes Verschiedenes?

Hauptweg und Nebenwege, 1929, Öl auf Leinwand, 83,7 x 67,5 cm, Museum Ludwig, Köln

Pauk Klee: Hauptweg und Nebenwege, 1929, Öl auf Leinwand, 83,7 x 67,5 cm, Museum Ludwig, Köln

Bildwissenschaft

All diesen intrikaten twists und turns, driftings und shiftings nachzuspüren ist das Geschäft einer auf Aby Warburg und Erwin Panowsky zurückgehenden erweiterten Bildwissenschaft, deren Gespenst seit Jahrzehnten die entlegensten Disziplinen heimsucht, was angesichts einer vermeintlichen oder tatsächlichen inflationären Proliferation des Ikonischen und Piktoralen (von pics und images der graphischen Benutzeroberflächen bis zu modernsten bildgebenden Verfahren einer medizinischen Diagnostik) nicht verwundert.

Dabei folgt der Neigung zur Delimitation des Bildbegriffs, in dessen Konsequenz man sich, von etwas, das KEIN Bild wäre, kaum mehr eine Vorstellung machen kann, stets der Gegenschlag, auf die klassisch als Bilder akkreditierten „Gegenstände“ sich zu beschränken, von dort aus die Untersuchung auch der Non-Art-Images ausgehen zu lassen.

boehm-wasisteinbildIn Fortführung eines für die Bildwissenschaft seinerzeit vielbesprochen Sammelbands liegt nun anlässlich des 70. Geburtstags des Kunsttheoretikers Gottfried Böhm ein zweites Aufsatzbuch mit dem Titel „Was ist ein Bild?“ vor. Dem Verdacht, dass Bildern nur durch Bilder (seien es auch solche der Sprache) entsprochen werden kann, trägt der Untertitel Rechnung: Antworten in Bildern. Enthalten sind 89 Beiträge, deren Bandbreite von „Architektur über Installationen, Filme, Theateraufführungen, Performances und literarische Erzeugnisse bis hin zu Computeranimationen […], vom Faustkeil über das Werbeplakat bis hin zur Google-Bildsuche“ reichen und in kurzen, auf ein singuläres Bild-Objekt (oder -Subjekt?) beschränkten Analysen ein vielschichtiges, überdeterminiertes Bild vom Bild zeichnen, anhand konkreter Erprobungen an den Sachen selbst.

Dispersion

Gleichsam induktiv entsteigen der durch nichts als den Bucheinband zusammengehaltenen unsystematisierten Synopsis Einsichten, die zu beglückend different und zahlreich sind, um auf eine gemeinsame Formel gebracht zu werden. Um ein geschlossenes, widerspruchsfreies, vollkommen stimmiges Bild zu ergeben. (Contradictio in adjecto: ein geschlossenes, widerspruchsfreies Bild wäre keines. Umgekehrt: Bild meint eine Synthese des Unsynthetisierbaren.)

Indessen zeigt sich: Was ein Bild sei, stellt sich je neu und anders dar, Bildern fehlt das gattungsstiftende, regulative oder konstitutive Vorbild. Weshalb sie, paradigmenlose Paradigmen aller Welterschließung qua Einbildungskraft, ihren Rätselcharakter wohl nie ablegen können. Und das ist letztlich (wenn nicht – aber vielleicht auch – gut und wahr, so doch): schön.

Tillmann Reik

Dieser Text ist auch auf culturmag.de erschienen.

Egenhofer, Sebastian; Hinterwaldner, Inge; Spies, Christian (Hg.): Was ist ein Bild? Antworten in Bildern. Gottfried Boehm zum 70. Geburtstag, München 2012.

Mit Beiträgen von: Emmanuel Alloa, Emil Angehrn, Simon Baier, Oskar Bätschmann, Hans Belting, Andreas Beyer, Vera Beyer, Peter Blome, Claudia Blümle, Cornelia Bohn, Gabriele Brandstetter, Horst Bredekamp, Orlando Budelacci, Werner Busch, Matteo Burioni, Maren Butte, Andreas Cesana, Danièle Cohn, Andreas Cremonini, Bice Curiger, Georges Didi-Huberman, Michael Diers, Martina Dobbe, Sebastian Egenhofer, James Elkins, Frank Fehrenbach, Günter Figal, Peter Geimer, Bernhard Giesen, Johannes Grave, Thierry Greub, Michael Hagner, Stephan Hauser, Anselm Haverkamp, Inge Hinterwaldner, Otfried Höffe, Wolfram Hogrebe, Richard Hoppe-Sailer, Dora Imhof, Jörg Johnen, Philipp Kaiser, Wolfgang Kemp, Gertrud Koch, Daria Kołacka, Sybille Krämer, Joachim Küchenhoff, Eva Kuhn, Iris Laner, Jean-Marie Le Tensorer, Helmut Lethen, Heinz Liesbrock, Karlheinz Lüdeking, Michael Lüthy, Angela Mengoni, Birgit Mersmann, Martina Merz, Maja Naef, Matteo Nanni, Gerhard Neumann, Ileana Parvu, Karl Pestalozzi, Rudolf Preimesberger, Michael Renner, Barbara Schellewald, Katharina Schmidt, Matthias Schmidt, Arno Schubbach, Sophie Schweinfurth, Ralf Simon, Beate Soentgen, Christian Spies, Bernd Stiegler, Karlheinz Stierle, Philipp Stoellger, Victor Stoichita, Ralph Ubl, Philip Ursprung, Nicolaj van der Meulen, Barbara van der Meulen-Kunz, Bodo Vischer, Claus Volkenandt, Peter von Matt, Stanislaus von Moos, Achatz von Müller, Sigrid Weigel, Bernhard Waldenfels, Gerald Wildgruber, Florian Wöller, Armin Zweite.

Verlagsinformationen zum Buch

 

Ernst Augustin: Robinsons blaues Haus

robinsons_blaues_hausAugustins Augen(blicke)

Wunsch, dorthin zu gehen, wohin niemand folgen kann

Und wir können nicht ausschließen,
daß ein Lebewesen zugleich Folgender
und Gefolgter, ein sich gejagt wissender Jäger,
Verführender und Verführter, Verfolger
und Gehetzter ist, […] in ein und demselben Augenblick.
(Derrida, Das Tier, das ich also bin)

Vom Original über Tourniers, Ecos, Clezios Varianten, bis hin zum Schiffbruch mit Tiger: Robinsonaden, sollte man annehmen, haben ihr Ausdeutungspotential weithin erschöpft. Ernst Augustin konzipiert in einem faszinierenden Alters- und Spätwerk seinen Robinson, der lieber Freitag wäre, als reisenden Einsiedler, flüchtigen Schatzträger ohne Eigenschaften, ohne Hab und Gut, ohne feste Bleibe, dem sein eigenes Verschwinden nie weit genug geht und erschließt ihm auf diese Weise neue Räume. Lücken. Virtual spaces und Zwischenwelten.

Augustin+Die-Schule-der-Nackten
Augenblick! Ausweitung der Nacktzone

Der erste, unvorbereitete Blick der Augen kann, ja muss täuschen, wie die seine Buchumschläge zierenden Trompe-l’œil-Motive von Ehefrau Inge. Da imponiert prima vista zwar die erratische Leichtigkeit, „Losigkeit der Diktion“, „freischwebend vielleicht oder doch nur locker verankert. Beinahe, eigentlich, fast ein Erzählton realer Virtualität.

Übrigens, was heißt eigentlich virtuell (virtual)? Ahhh, das heißt es eben nicht. Es heißt, übersetzt, «beinahe, eigentlich, fast». Das heißt es.

Also das Fließende und Schwebende des Ozeanischen, Nautischen, deren Metaphorik schon in der Schule der Nackten, Erkundung der Frei(körper)zone eines Schwimmbads, stimmungs- wie stilbildend war, von seiner zahmen Seite: „Thalatta, thalatta“, denkt sich der Protagonist Alexander dort bei der Annäherung ans befriedete Naß (wo nichts­des­to­min­der Ungeheurlichkeiten der besonderen Sorte sich zutragen werden.) Kann sich des festen Bodens unter den Füßen allerdings noch vergewissern. Noch.

e-1719-0028Von Freibad zu Freitag

Denn das undomestiziert Reißende, Schäumende, Gischtende, Überbordende, das die Stabilität beinträchtigt und das Kentern, den BRUCH begünstigt lässt selten auf sich warten. Sowie Untiefen und Riffe. Schon in Daniel Defoes „Original“ von 1719, mit dem vollständigen Titel „The Life and Strange Surprising Adventures of Robinson Crusoe of York, Mariner: who lived Eight and Twenty Years, all alone in an uninhabited Island on the coast of America, near the Mouth of the Great River of Oroonoque; Having been cast on Shore by Shipwreck, wherein all the Men perished but himself. With An Account how he was at last as strangely deliver’d by Pirates. Written by Himself“, welches das literarische Genre der Robinsonade auf den Weg brachte, war alles tückischer, abgründiger, gebrochener als eine idyllische Trivialrezeption nahelegt.

3406564763-detailAugustin

Als ein leichtgewichtiger Fabulierer oder Paraboliker ohne Bodenhaftung oder Tiefgang im pejorativen Sinne kann er, EA, also der im Riesengebirge, der Heimat des Rübezahl geborene Erzähler mit den Initialen des babylonischen Weisheitsgottnamens („Der Gott des Urmeeres, auf dem die Welt schwimmt. Außerdem des Wissens und der Wissenschaften und Beschützer des Menschengeschlechts“! wikipedia), auch mit seinem neusten Nouveau Roman (denn in dieser Tradition ist er zu verorten) nur dem erscheinen, der mit dem unhaltbaren Vorurteil anrückt, bei derart fantastischen Konstrukten handle es sich pauschal um eskapistische Heileweltprosa. Unhaltbar, EA tritt auf als ein Verstör(t)er. Seine Romantik ist schwarz, seine Idyllen Schauermärchen oder Gothic Novels. Sein Spielerisches (wie der klabautermännische Schabernack, den er mit Identitäten und Genres treibt) zeugt, bei allem Humor, von heilig unheilem, wenn nicht tödlichem Ernst. Mitnichten heimelig somit und doch befreiend abgehoben, halluzinogen und psychotrop. Bewusstseinserweiternd.

06790210zHavarien

Wenn man seiner – des nach einer Operation 2009 erblindeten, 85-jährig Sehers, früher Arzt und Psychiater – Selbstbeschreibung folgt und annimmt, in „Robinsons blaues Haus“ ginge es vornehmlich um die protestantische, arbeitsethische Gleichsetzung von Leben und dem Versuch, sich – schiffbrüchig gestrandet – schaffend und häuslebauend wohnlich einzurichten, führt das auf die falsche, weil harmonistische, Fährte. Man verbliebe noch im Fahrwasser dessen, was klassisch unter dem Genrenamen „Robinsonade“ rubriziert wird und vielfach den gängigen, stereotypen Deutungsmustern vom selbständigen, tatkräftigen Unternehmer und Projektemacher unterliegt. De nihilo nihil, besagt dieses Muster, darum rekonstituiere sich ein enteignetes Subjekt aus dem Schutt dessen, was war und nach dessen Vorbild per Rückerinnerung (an, das hat Marx im Kapital bemängelt, vorwiegend klassische Ökonomiegrundsätze) sein Habitat und seinen Habitus neu, um dabei der Alte bleiben zu können. Stimmt nicht. Es sei denn, man legte den Akzent auf den Vergeblichkeitscharakter solcher anti-dekonstruktiver Rekonstruktionen: auf ein Bemühen, das nolens volens immer wieder scheitern – kentern – muss.

Zur Debatte bei Augustins Robinson, einem namenlosen, seit Kindertagen getriebenen Untertaucher, steht eine Skizze über die Atopie von der Unmöglichkeit einer Insel; gebrochen wird mit dem Phantasma, Schiffbrüche seien zeitlich umgrenzte, unfallartige Ausnahmen. Den Titel-Helden gibt ein Nobody, anonym oder vielnamig, der aller stützenden Prothesen entkleidet, nackt der Gefahr unablässig ausgesetzt ist.

20746939zFliehkräfte – Everybody’s got something to hide except for me and
My monkey

Sicher scheint es dem arrivierten, saturierten Bürgertum eigen, sich im einkleidenden Interieur seiner Heime und Behausungen einen gegenweltlichen Schutzpanzer zu bauen und sich dergestalt, durch neudeutsch cocooning, Sich-Einhausen (Hegel), Wohnen (Heidegger), gegens nackte Verletztwerdenkönnen (und damit vielleicht schon Verfolgt- und Angegriffenwerden) abzudichten. Fetischisierte, beseelte Warendinge – aus den „Trümmern“ der Tradition – um sich hortend und dadurch als erstes sich selbst, sein Selbst, sammelnd, bewahrend und tradierend. Ganz abgesehen davon, dass – anthropologisch tiefer gelegt –

„sich jegliche Bautätigkeit ganz unmittelbar auf die Weibchen bezieht“,

um deren Empfängnis- und Gebärfähigkeit balzend zu domestizieren und kapitalisieren.(Ein Aspekt, der bei Defoe zugunsten selbstgenügsamer Männlichkeit komplett ausgespart wird. Oder wäre gar Freitag das umgarnte Liebesobjekt?)

Damit gerät jedoch Bodenständigkeit, Sesshaftigkeit, das Wohnen, die Bleibe, das Heimischwerden, kurz: das Leben in seiner stets gefährdeten Selbsterhaltung mit Befruchtung und Fortzeugung zu einem abgeleiteten Phänomen und ins Schwimmen: Zu bloßem Modus und Effekt asylsuchender Flucht und Vertreibung; ständigen Ankommens, ohne in seinem konstitutiv virtuellen Dasein je wirklich und wahrhaftig DA zu sein. Von Migration und Nomadismus:

Die Angst – habe ich einmal gelesen – ist die Tugend der Fluchttiere, und sie ist ihre edelste, bewahrt sie ihnen doch das Leben. Meines hat sie bis hierher bewahrt, bis nach Grevesmühlen.

(Ganz ähnlich kann man schon bei Defoe — den Leser eines Hobbes: Theoretiker der Angst als Ausgangspunkt aller vertragsgestützten Staatenbildung —  war über eine unwiderstehliche Triebkraft lesen: But my ill fate pushed me on now with an obstinacy that nothing could resist.)

Angst wird zur Tat- und Triebkraft, die bleibt. Das Leben bewahrt sich, als Leben, durch Unrast, Ruhelosigkeit, skeptische Distanznahme. Und durch, proto-paranoid, gesundes Vertrauen ins Misstrauen. Mut zur Furchtsamkeit. Kurz: Die Unbeständigkeit erweist sich als beständiger denn alle Beständigkeit. Noch Ruhe lässt sich als Flucht vor der Flucht entziffern, wird deshalb zur ersten Bürgerpflicht erhoben, weil ihre Erreichung nur ein temporärer, insularischer, Glücksfall sein kann. Das Jetzt eines erfüllten Augenblicks, der vom Sehen und von Absicht absieht, als Ereignis (ein Wort, das ursprünglich Eräugnis lautete) der biologischen Augen nicht bedarf.

00135796zVerfolgungsjagd – Your inside is out and your outside is in

Das „Innere“ ist eine Täuschung. D.h.: Der ganze Ideenkomplex,
auf den mit diesem Wort angespielt wird, ist wie ein gemalter
Vorhang vor die Szene der eigentlichen Wortverwendung gezogen.
(Ludwig Wittgenstein: Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie.)

Sollte es also Augustin um eine Aufwertung der Innenwelt gegenüber der Außenwelt zu tun sein, wie oft bekundet, dann nur insofern, als die Innenwelt ein radikaleres, schrankenloseres Draussen erlaubt als jedes Draußen, dem diese Innigkeit eben fehlt. „Es geht darum, die Gleichrangigkeit, wenn nicht Überlegenheit der Innenwelt gegenüber der Außenwelt zu zeigen“(so Lutz Hagestedt hier). Sich einrichten, Wohnstatt bauen, Asyl und Bleibe errichten ist bei Ernst Augustin nämlich keineswegs eine Angelegenheit, die einmal erfolgreich zu Ende gebracht, ein Gemütliches bei sich selbst sein, jetzt und immerdar, gewährte.

Augustins Luftschloßbauprojekte gründen auf den seichten Grund der Unmöglichkeit allen nachhaltigen Bauens, transzendentaler Obdachlosigkeit. Ist ein Innen stabilisiert wird es davon geschwemmt, bricht es, sobald es sich als das Innen eines Außen erkennt. Die Metaphorik solcher Einfaltungen in der handkeschen („ Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt “, 1967) Terminologie von Innen- und Außenwelt, mag sie reflektiert sein oder nicht, beginnt bereits auf dem Klappentext: „Heute lebt und schreibt er in noch verbliebenen Innenwelten“ Und „Während ich kontemplativen Gedankengängen folge, die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt.“ (S.27) „Denn gibt es eine Außenwelt, gibt es auch eine Innenwelt.“ (S.193), „Jemand drinnen ist gleich jemand draußen.“ (S.64). Sie, seine Architekturen, sind Fluchtbewegungen vor Verfolgern (es sind deren zwei, der eine das Gegenteil des anderen), denen es aus dem Weg zu gehen gilt durch Verschwinden in der Enge von Zwischenräumen. Refugien. Temporären Zufluchtsorten. Klaustrophilie wird derart auf paradoxe Weise zum Ausweg. Am besten jedoch weder hier noch da sein oder sowohl als auch. A-Topie, Ortloskeit, als Utopie.

Stelle dir einen Mann vor, der sich nirgendwo befindet: Das bin ich.


Kein Geruhsames lathe biosas wiederum; devenir imperceptible, Unsichtbar-Werden wie bei Deleuze („in dieser wundervollen Tarnfarbe. Weiß in Weiß“). Auf der Flucht im Angesicht des geliebt-verhassten Freund-Feindes. Verfolgern, die man, um ihre Absichten einschätzen und vorauskalkulieren zu können, seinerseits verfolgt und die, in letzter Instanz wohl, man selbst sind/ist. Vorm Draußensein, vorm Außersich-Sein gibt´s kein Entrinnen.

Da ist dieser Mensch, der sich anscheinend nichts sehnlicher wünscht, als dorthin zu gehen, wohin ihm niemand folgen kann.

Ein eisiges Buch.

Gender Trouble

Doch Flucht und Verfolgung (und damit die Notwendigkeit zur Täuschung und das Getäuschtwerden) bilden nicht nur einen Zentral-Aspekt des neuen Entwicklungs-, Reise-, Abenteuer-, Spionage-, Kriminal-, Brief-romans „Robinsons blaues Haus“. (Der sich übrigens – wie erwähnt – so unbekümmert um sämtliche ererbten Genres aufführt, sich über und zwischen ihnen, jenseits und diesseits, verschanzt, um ihrem Zugriff, ihrer Vereinnahmungswut zu entfliehen, dass auch das Genre sui generis „gender“, die klar markierte Geschlechterdifferenz zu flirren beginnt.

„Bist du Männchen oder Weibchen? Das kannst du dir aussuchen.“

Ohne dass im gleichen Zuge Sexualität als solche sich neutralisieren würde, wie das im Defoeschen Vorbild der Fall ist. (Sie pluralisiert vielmehr.) Der/die Andere wird, bei Augustin, innigst begehrt und gleichzeitig gefürchtet und geflohen.

Crusoe_2_(by_Paget)

„Da schneidert er sich einen
Körpersack, ein geräumiges Viereck mit vier Zipfeln an den
Ecken und einer Kopfhaube obenauf – die sieht bei Vater wie
ein übergroßer Kaffeewärmer aus.“ (Bild:Robinson Crusoe von Walter Paget)

Erbe

Ohnehin verortet Augustin seine distanzierte Robinsonade als der bekannten Fassung vorausgehende, jenseits von ihr befindliche (sie sei eine „frühere[n], fernere[n] Version dieser Geschichte“ heißt es direkt zu Beginn.) Aus Freitag, dem aus Bodos Internetcafé in Grevesmühlen, New York, London per Annonce aufgespürten und sodann mailend umworbenen virtuellen Begleiter und Intimus – der der Erzähler viel lieber wäre als ein Robinson: „nicht der bärtige Mann mit dem hässlichen Borkenhut und den plumpen Fellschuhen, wie er in meinem Robinson-Buch abgebildet war. Viel lieber wäre ich der glatthäutige Freitag gewesen, der auf Seite dreißig glatt und braunglänzend die Palme erklimmt.“ – wird im Handumdrehen auch mal eine Sie.)

Das wandelnde Körperhaus (mein Vater).
Die Nacht trommelt.
Die Verfolger jaulen von fern.
Der Vater schreitet in gemütlichem Zuhause.

Es geht auch um Erbe und Vermächtnis; Robinsons Geschichte ist zu mehr als der Hälfte auch die seines meist abwesenden, auf dubiosen Reisen befindlichen, schließlich zusammenbrechenden Banker-Vaters, eines in wohl betrügerische Geschäfte verwickelten Geldtransporteurs, Schmugglers, Täuschers, Schatzträgers, auf dessen Spuren und in dessen Nachkommenschaft „Robinson“ unterwegs ist. „Mein Vater, «Der Eismann» oder «Der Mann im Eis»“. Dessen auf einen Koffer beschränktes Gepäck (und die damit verbundenen Belastungen, sich verstecken und fliehen zu müssen) beim Sohn weiter reduziert wird durch Virtualisierung; Realwirtschaft weicht Irrealwirtschaft, die sich mit digital verwahrten Zahlen begnügt. „Eine Unmenge virtuellen Geldes, mit dem man das alles kaufen kann und das sich auf Knopfdruck “löscht”.

„Das, was mein Vater mir vererbt hat! Und was ist das? Es sind fünf Zahlen und vier Buchstaben. Nun, wieviel ist es, ich meine: W i e v i e l? Frag nicht.“

Rathaus_Koepenick_-_SafeVirtualität

So wie „Freitag“ (der Andere oder doch Robinson selbst?) letztlich zum janusköpfigen Ambivalenzträger gerät, männlich und/oder weiblich, Freund und/oder Feind, begehrt und/oder gemeiden, Stalker und/oder Bestalkter, so entpuppt er sich gleichzeitig nicht nur als Lebensspender, sondern („ich habe es immer gewußt“) als „mein ganz persönlicher, höchst privater Tod.“ Das virtuelle, „symbolische“ Kapital hingegen, das jederzeit auf Knopfdruck unwiderruflich gelöscht werden kann, läßt sich lesen als eine Chiffre des Lebens als Galgenfrist. Die Südseeinsel aber zu guter Letzt, die Möglichkeit behaglichen, sorgenfreien Lebens trägt – memento mori – den Namen „Skull Island“.

Im Prinzip läßt sich jeder Schlüssel knacken, es ist nur eine Frage der Zeit, der Zeitaufwand muß sinnvoll sein.

Ernst Augustin ist mit diesem Roman unter Verwendung scheinbar bescheidener, unprätentiöser Mittel, ein derart vielschichtiges, avanciertes Prosagebilde gelungen, dass man seinen Augen nicht traut.

Tillmann Reik

Ernst Augustin: Robinsons blaues Haus. C. H. Beck, München 2012, 319 Seiten. 19,95 Euro. Verlagsinformationen zum Buch. Foto Costa Condordia: wikimedia commons, Rvongher. Tresor. wikimedia gemeinfrei.


Thierry Dufrêne: Giacometti. Genet. Masken und modernes Portrait

Bewölkte Sichten

Kunst kommt …

Kunst ist, wenn man’s nicht kann, denn wenn man’s kann, ist’s keine Kunst.
Nestroy

„Kunst“ , das heißt, […] ein Savoir-Faire, das jedes Wissen {savoir) und jedes Machen {faire)
übersteigt.
Jean-Luc Nancy, Die Lust an der Zeichnung

Formt man mit einiger – sowohl artistischen wie artifiziellen, vor allem dilettantischen Freiheit Arnold Schönbergs insistentes, gegen einen (unter anderem Goebbels zugeschriebenen, den goldenen Boden des Handwerks feiernden) Gemeinplatz gerichtetes Verdikt, Kunst komme nicht von Können — also einer Befähigung aufgrund der normierten Anwendung von erlerntem Wissen — , sondern von Müssen — d.h. der unbezwingbaren Notwendigkeit eines objektiven Erfordernis oder eines subjektiven Begehrens, kurz: dem zwanghaften Nichtanderskönnen — taschenspielerisch ein wenig um, dann zeichnen sich möglicherweise folgende, verwickelte Varianten ab:

  • Kunst kommt von Nicht-anders-können-als-können-zu-wollen (denn Können, mit Majuskel oder ohne, durch das ein Riß geht, muss sich, bevor es etwas Bestimmtes kann, zunächst einmal selbst können. Man muss können können. Und können-können können. Ad infinitum, immer im eiligen Verzug, sich selbst hinterher.). Sie kommt somit vom ein sicheres Gewußtwie exzessiv herbei ersehnenden Optativ: „Könnte ich doch können!“. Wunsch zumal, der einen unaufhörlich überkommt. Wird überhaupt etwas gekonnt, so nur das unvermeidliche Nicht-anders-können-als-nicht-zu-können-und-doch-zu-wollen-und-gar-müssen. Könnenwollemüssen ohne (anders) zu können. Darum übt sie sich – praktisch – unentwegt (aus). (Selbst im Verzicht: auch kein Künstler sein will gekonnt sein!)
  • Kürzer noch und anders: Kunst kommt von Kommen. Kunst (über-) kommt. Sie entspricht einer Kunft. So gesehen kann Begabung oder Gabe (Talent, eben das, was, ohne, dass man etwas dafür kann, gegeben ist) nur darin bestehen, eine, auf gewisse Art „unfähige“, passive und passionierte Empfangsbereitschaft demgegenüber aufzuweisen, was passiert, und es durch ein Machen (gr. poiesis) zu lassen. Durch zu lassen. Eben zu geben (frz. rendre). (Ohne je sicher zu wissen, wann es letztlich GUT gewesen sein wird. Denn fertig ist es immer schon und nie.)

Vielleicht so. Forse.[1]

Let´s see what happens: Fertig-Sein

L’idée de faire une peinture ou une sculpture de la chosetelle que je la vois ne m’effleure plus. C’est comprendrepourquoi ça rate, que je veux.

Der Schweizer Maler, Bildhauer und Grafiker Alberto Giacometti (1901-1966) hat diese Grundproblematik des kunstvollen, gekonnten Wollenmüssens ohne Können zu können sein Leben und Werk lang konsequent ausgetragen, sich dem subjektiv-objektiven Ungenügen und Unvermögen mit virtuoser Insistenz gestellt. Verstehen, warum es nicht klappt („C’est comprendre pourquoi ça rate, que je veux“) war sein Motto. Und Scheitern dabei als notwendigen Zwischenschritt, wenn nicht als eigene Form des Gelingens aufzuwerten und (noch in der Trauer und im Hadern) zu bejahen ein Zug, der seine Verfahrensweise dem Existentialismus naherückte, dem er gleichwohl, ähnlich wie Beckett, sich nicht so bruchlos subsumieren lässt wie Sartres Aneignungsversuch es wollte.

Aber was sollte denn überhaupt klappen? An welchen Kriterium misst sich ein Gelingen, im Vergleich zu welcher normativen Vorgabe wäre ein Versuch als ungenügend oder gar fehlgeschlagen, schiefgegangen und gescheitert einzustufen?

„Rendre ma vision: Wiedergeben, was ich sehe“, darum ging es ihm zeitlebens, was sich als unmögliches, paradoxes Unterfangen erweisen sollte. Nicht nur, weil die Doppelbödigkeit des Begriffs vision, zugleich die empirische Sehweise und das illusorische Traumbild bezeichnend, etwas trauernd nachjagt, was sich nur zeigt, indem es sich entzieht: der Sicht, dem Sehen selbst, vor aller Konvention und Konfektionierung, vor allem Schema. Es gibt sich darüber hinaus die Sicht von dem her, was zu sehen gibt: dem Gesehenen, dem „Objekt“, dem Modell in seiner wirklichen, wahrhaftigen, lebendigen Realität. Wie das adäquat wiedergeben?

Ge-Sicht

In einer jetzt auf deutsch vorliegenden, erstmals 1991 im Original erschienenen Studie des französischen Kunsthistorikers Thierry Dufrêne werden diese Aspekte des Schaffens Giocomettis einerseits von seinem künstlerischen Werdegang aus betrachtet, der eine frühe Faszination für außereuropäische Kunst erkennen lässt, sowie einer entscheidenden Begegnung mit einer anderen „Schlüsselfigur des 20.Jahrhunderts“: Jean Genet. Welcher dem Maler und Bildhauer einen Text gewidmet hat, der für ihn stets bedeutsam bleiben sollte. Die im Zuge dieser Begegnung zweier Künstler entstandenen drei Portraits werden luzide in doppeltem Bezug auf Giacomettis wahrnehmungstheoretische Prämissen und afrikanische Masken- und Plastikenkunst hin durchleuchtet, was eine „vision“ seiner „vision“ ermöglicht, die jene Fallstudie zu einer ausnehmend instruktiven Lektüre werden lässt. Nachvollziehbar wird, neben dem erneuten Erweis der Bedeutung früher außereuropäischer Kunst für das Verfahren, vor allem eines: Die Sicht, seine „vision“, die herauszubringen ihm so wichtig war und die von einer Gegensicht, dem vom Kopf (der Haupt-Sache: „wenn man den Kopf hat, hat man alles.“) ausgehenden Blick (regard), im Deutschen das Ge-Sicht (visage) beantwortet wird, war niemals einfach leuchtend und klar, war keine Epiphanie, sondern von einer Bewölkung gezeichnet: Einer Vagheit, als welche ein sein eigenes Sehen sehen wollendes Sehen sich selbst, sich sich entziehend, sich — immer aufs Neue scheiternd — evident wird.

„Eine tiefgreifende Erzählung über das moderne Portrait in der Kunst und die Metaphysik des Gesichts.“

J’avais commencé aussi deux bustes, un petit, et, pour la première fois, je ne m’en sortais pas, je me perdais, tout m’échappait, la tête du modèle devant moi devenait comme un nuage, vague et illimité. (Giocometti)

Tillmann Reik

 


[1] „Beckett fordere mich auf, das Bühnenbild für Godot zu machen. Dazu brauchte es einen Baum. Einen Baum und einen Mond. Wir verbrachten die ganze Nacht im Atelier vor einem Baum aus Gips, um ihn karger zu machen, kleiner, die Zweige dünner. Es sah nie gut aus und gefiel weder ihm noch mir. Und jeder sagte immer wieder zum anderen: Vielleicht so … .(im Original: Forse).“ Zitiert nach: Manfred Milz, Samuel Beckett und Alberto Giacometti. Das Innere als Oberfläche, Würzburg 2006, S.27