Alberto Giacometti: Begegnungen und Spielfelder

Giacometti_BegegnungenAbsolute LosreißungskraftHomme traversant une place

Anlässlich der Hamburger Giocometti-Austellungen

Platz

Das ist also das Modell: der Mensch (Sartre, Die Suche nach dem Absoluten)

Forse[i]:

„Vor mehr als zwanzig Jahren wurde Giacometti eines Abends beim Überqueren der place d’Italie von einem Auto angefahren. Er wurde verletzt, das Bein war ausgerenkt, aber in dem wachen Dämmerzustand, der ihn befallen hatte, spürte er zunächst so etwas wie Freude: «Endlich einmal erlebe ich etwas!» Ich kenne seinen Radikalismus: er war auf das Schlimmste gefaßt. Sein Leben, das er so sehr liebte, daß er sich kein anderes zu wünschen vermochte, war in Verwirrung geraten, vielleicht sogar durch die stupide Heftigkeit des Zufalls zerbrochen. Nun sagte er sich: «Also war ich nicht dazu bestimmt, Bildhauer zu werden, vielleicht war ich nicht einmal für das Leben bestimmt; ich war zu nichts bestimmt.»Was ihn dabei so aufregte, war die bedrohliche Ordnung der Kausalitäten, die plötzlich ohne Maske dastand und die Lichter der Stadt, die Menschen und seinen eigenen in den Schmutz geworfenen Leib mit dem versteinernden Blick einer Katastrophe anstarrte: für einen Bildhauer gibt es stets die Nähe zum Mineralreich. Ich bewundere diese Bereitschaft, alles anzunehmen. Liebt man nun einmal die Überraschungen, so muß man sie auch bis zu diesem Punkt lieben: bis zu den seltenen Blitzeinschlägen, die den Amateuren offenbaren, daß für sie die Erde nicht gemacht ist.“

Homme traversant une place. Nicht Place d’Italie allerdings, sondern Place des Pyramides. Nicht Verrenkung, sondern Bruch. Des Mittelfußknochens (der jahrelangen Gebrauch von Krücken und Stock nötig machten sollte. Gehfehler). Aber auch der Freundschaft. Grund: die obige Falschdarstellung. Der dergestalt heroisierte Gehende, Platzüberschreitende konnte – vielleicht – Sartres hermeneutische Vereinnahmungswut, dessen Instrumentalisierungsüberschwang seiner Person und seinem Werk gegenüber, nicht länger ertragen und kehrte die ihm zu Gebote stehende Loßreißungskraft gegen den, auf einen 1938 geschehenen Unfall mit Fußknochenfrakturfolge rückblickenden autobiographierenden Fürsprecher. Und somit stante pede gegen dessen vielleicht wichtigstes Denkwerkzeug: Eine Zeile vor dem zitierten Passus aus „Die Wörter“ (1964) beschwört Sartres Gedanken-Gang die Losreißungskraft, das Sich-Losreißen, pouvoir d’arrachement, power of uprooting (also „Entwurzelung“) in der englischen Übersetzung, als Inbegriff des (seines) Lebens-Laufs (courir).
Paris 188.

Plazenta

Als „Maler und Bildhauer des Existenzialismus“, eine Attribution, die nichtsdestotrotz nicht ganz verfehlt sein mag, wenn man sie anders denkt, taugte Alberto Giacometti (1901-1966) ohnehin so wenig, wie vorher der Surrealismus, mit dem er ebenfalls (um 1935, knapp ein Jahr nach dem Todes des Vaters Giovanni, des Malers) brach, oder dieser mit ihm, ein klassifikatorisches Gehäuse bereitstellen konnte, in dem er sich restlos aufgehoben fühlte. Jedenfalls nicht so wie im ihm seinen Stempel aufrückenden und sein Gepräge verleihenden Stampa, dem graubündischen Bergbauerndorf seiner Geburt und im winzigen (18qm), uterinen, immer einsturzgefährdeten, verstaubten Pariser Atelier in der rue Hippolyte-Maindron 46. Seinem „Loch“, Gebärmuttergrab, wombtomb im Beckettschen Sinn, in dem er von 1927 bis zu seinem Lebensende arbeitet.(So liest man.)

Etwas von dieser widerständigen, unaneigenbaren Loßreißungskraft, von diesem im Rückzug befindlichen humpelnden Vorschnellen eines ziellos (Ver-)Suchenden („Les essais, c’est tout, oh merveille!“) und mit dem Besser-Scheitern im Beckettschen Sinne (Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better. Worstward Ho (1983)) methodisch kokettierenden Werks, das aller Subsumption unter Leitideen, da in sich zu heterogen, letztlich trotzt, bekommt zu spüren, wer die Hamburger Doppelausstellung Giacometti: Die Spielfelder/Begegnungen in Kunsthalle und Bucerius Kunstforum in Augenschein nimmt.

Plaza

In der Zusammenschau der Kunsthalle, Spielfelder, grob chronologisch geordnet, beginnend mit der kaum bekannten surrealistischen und von afrikanischen Einflüssen bestimmten Früh-Periode, in der Objekte in Horizontalität und Spielfeldanordnung Raumkonstellationen erpoben, die den Werdegang und die künstlerische Entwicklung eindrucksvoll dokumentiert, werden die späten (aber im Keim und in nuce von Miniaturen früh angelegten, zwanghaft sich herausbildenden – das macht sie nach wie vor zum Interessantesten und zum Inbegriff und Grundzug von Giacomettis Werk), mit seinem Namen vornehmlich heute assoziierten, hochaufschießenden stabdünnen Bronze-Figuren (oder Statuen, Skulpturen, Plastiken) in ihrer außerirdisch wirkenden Ausgemergeltheit anders lesbar. Es lässt sich nachvollziehen, wie sie sich aus den breitangelegten Versuchen des Alleskönners langsam herausschälen.

Quintessenz von Giacomettis bildhauerischem Schaffen sind sie wohl allemal. So vor allem die im letzten Raum ausgestellte Dreifigurenkomposition, für die Chase Manhattan Bank als an die mit Sockel nur 64,2 Zentimeter hohen Trois hommes qui marchent (1948) angelehnte öffentliche Platzfiguren gedacht, zu deren Umsetzung es dann doch nicht kam. Die „Große Stehende II“, der „Schreitenden Mann II“ (eines der weltweit teuersten Kunstwerke) und der „Großen Kopf“; alle aus dem Jahr 1960.

Mann, Frau, Kopf.

In den autobiographischen Aufzeichnungen Giacomettis „Gestern, Flugsand“ von 1938 wird berichtet, der junge Alberto sei in seiner Aufmerksamkeit selektiv lange Zeit ausschließlich auf zwei Arten von Wahrnehmungsobjekten fixiert gewesen: Bäume und Steine. Mann, Frau (Bäume), Kopf (Stein). Bilden sie ein Ensemble, und wenn: Ist es trinitarisch in sich geschlossen und verlangt eine regelkonforme Positionierung der Figuren zueinander? Oder ist diese Gruppe offen für Ergänzungen und die Plastiken, Spielelemente auf Feldern somit, wären zueinander in wechselnde Ausrichtung zu bringen?

Er sieht mich mit einem Blick an, als ob er mich damit aus mir herausreißen möchte. (Gotthard Jedlicka über Giacometti.)

Herausstechend dann doch der Ausstellungstar, l´homme qui marche. Vielleicht, weil er den Eindruck vermittelt, die hieratische, kultische Frauenstatue und den überdimensionierten Kopf (Köpfe, Häupter, das war einmal Giacomettis Auffassung, seien die Hauptsache, da von ihnen der Blick ausgeht, der allein das Lebende vom Toten unterscheidet.) als Chiffre wahrnehmenden Bewußtseins hinter sich zu lassen.

Er präsentiert, abseits von allen anthropologischen, lebens- und existenz-wahrnehmungsphilosophischen oder prozeßontologischen Deutungen (an deren disparater Mannigfaltigkeit es auch in den Kunsthalle-Tafeltexten nicht fehlt) primärer einen Willen oder eine Kraft des Überschiessenden im Fragilen und Ausgedörrten. Nicht mehr vertikalitsversessenen, eher diagonal, transversal, in zwischen Waage- und Senkrechter gebeugter Bewegungsrichtung nach oben UND vorn. Nichts Menschliches mehr, oder noch nichts Menschliches. Etwas, vom dem her sich auch der immer leicht geneigte aufrechte Gang des homo erectus überhaupt erst verstehen ließe.

Reine Loßreißung, wie reiner (Selbst-)Entzug. Exzessive Verschlankung, die sich gravitätischer Robustheit vektorengleich entzieht und damit auch alle Eigenschaften, Attribute, Prädikate die man ihr anhängen könnte, abwirft, wie ein Baum – etwa jener, den G. 1961 für Becketts Stück Warten auf Godot im Théâtre de l’Odéon in Paris gestaltet hat- die Blätter.

„Sind sie Erscheinungen,oder sind sie Entschwindungen?“ (Sartre)

Sie, die Skulptur (oder Plastik), die ihn darstellt, l´homme, nimmt sich aus wie eine „Freilegung“ auf etwas hin, das auch kein absolutes Wesen oder absolute Substanz mehr für sich reklamieren kann, sondern nichts als der bare Trieb zu stehen und gehen, sich zu behaupten=zu sein. Bare Lebendigkeit; die sich dadurch nicht länger ungebrochen als strotzende Pausbäckigkeit, voluminöse Plastizität präsentiert.

„Gegenwart, die aber nicht die eines Idols ist. Nichts ist weniger plastisch als eine Figur Giacomettis, in dem Maße, wie das Reich der Plastik aus dem Zurschaustellen eine schöne Form machen will und aus der Form eine gänzliche und substanzielle Wirklichkeit, in dem Maße also, wie sich durch das Reich der Plastik die anmaßende Gewissheit des Sichtbaren einstellt.“ (Maurice Blanchot, Die Freundschaft, S. 280)

Vielmehr liegt ihre Kraft und Durchsetzungsfähigkeit, hat man nun den Eindruck, ihre Zähigkeit und Widerständigkeit im Schwund und Entzug. In der – transhumenen, anorektischen – Anatomie des Filigranen, Fragilen, Vulnerablen.

Das Da eines Bin-Schon-Weg.

Forse.

Die Suche nach dem absolut Abgelösten

Sollte es so sein, wäre Giacometti, der Ex-Existenzialist, immerhin, sich von Sartre und dessen Deutungshoheit (und damit ähnlich Beckett und Genet, die ihm darin nahe standen) schließlich abwendend, losreißender als dieser selbst. Und auch wenn dieser Recht behielte mit seinem (an einen Romantitel Balzacs angelehnten) Wort von Giacomettis „Suche nach dem Absoluten“, dann nur, wenn das füllige Prunkwort der okzidentalen Metaphysik auf seinen semantischen Kern hin freigelegt, verschlankt und entschlackt wird: absolut, das heißt abgelöst, völlig losgelöst.

*

Es geht wohl um den Menschen, um auf das sartresche Anfangsmotto zurück zu kommen (eine dritte, schon abgeschlossene Ausstellung im Hamburger Gängeviertel trug den Titel „Alberto – der Mensch“), als Künstler wie als Kunstobjekt, bei Giacomettis genauso ding- wie pflanzenhaft wirkenden Figuren nur insofern, als er sich von sich selbst abzieht und distanziert, immer schon mehr oder weniger ist als er selbst; so geht es um ihn nur, insofern, als es um nichts weniger geht.

Eher geht es, absolut abstrakt, um diese reine Spannung, durch welche sich der Platz, jeder Platz, selbst überschreitet, Raum zur Zeit wird. Eine Bewegung, die den Menschen gleichsam als transitorischen Effekt auswirft. Losreißungskraft ist nicht der schlechteste Ausdruck dafür. Der Fort-Schritt des „Gehenden Mannes“ jedenfalls reißt den Blick in seinen Bann und gibt zu sehen.

Giacometti – Die Spielfelder
25. Januar bis 19. Mai 2013
Galerie der Gegenwart, 1. Etage

Hamburger Kunsthalle
Glockengießerwall
D – 20095 Hamburg
T: 0049 (0)40 428 131 200
F: 0049 (0)40 428 5434 09
E: info@hamburger-kunsthalle.de
W: http://www.hamburger-kunsthalle.de

Öffnungszeiten:
Di bis So 10 – 18 Uhr
Donnerstag 10 – 21 Uhr
Montag geschlossen

Giacometti. Die Spielfelder. Hamburger Kunsthalle (bis 19. Mai). Katalog: 176 S., 29,90 Euro

Alberto Giacometti. Begegnungen. Bucerius Kunst Forum (bis 20. Mai). Katalog: 206 S., 29 Euro


[i] „Beckett fordere mich auf, das Bühnenbild für Godot zu machen. Dazu brauchte es einen Baum. Einen Baum und einen Mond. Wir verbrachten die ganze Nacht im Atelier vor einem Baum aus Gips, um ihn karger zu machen, kleiner, die Zweige dünner. Es sah nie gut aus und gefiel weder ihm noch mir. Und jeder sagte immer wieder zum anderen: Vielleicht so … .(im Original: Forse).“ Zitiert nach: Manfred Milz, Samuel Beckett und Alberto Giacometti. Das Innere als Oberfläche, Würzburg 2006, S.27

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