Jean-Luc Nancy: Die Erfahrung der Freiheit

Freibeuterschrift[1]

Die Erfahrung der Freiheit ist also die Erfahrung, dass die Freiheit Erfahrung ist. (111)

Das Wesen der Freiheit kommt erst dann eigentlich in den Blick, wenn wir sie als Grund der Möglichkeit des Daseins suchen, als dasjenige, was noch vor Sein und Zeit liegt. (Martin Heidegger)

Vitiöse Deliberationen setzten gleichsam freischwebend, ohne Geländer und jeden Halts bar, ihre kreisende Tastbewegung in Gang, dem inaugurativen Appell einer vorgängigen – und wie man sehen wird, da sie bereits Antwort ist, „rhetorischen“ – Frage folgend, die, vage, etwa wie folgt lauten könnte (damit, da nach etwas fragend, was die Frage selbst bereits voraussetzt, nach etwas fragend, was nicht in Frage stehen kann: „Mit anderen Worten: die Freiheit kann nicht Gegenstand einer Frage sein, sie ist „nur“ das Worum einer Affirmation“, 25, einer immer zu re-affirmierenden Selbst-Affirmation):
Sind „wir“ – und damit soll, mit Hölderlin, am ehesten „ein Gespräch“ gemeint sein[2] – eigentlich schon de facto und nicht erst de jure so frei, oder können uns die Freiheit zumindest, per selbstermächtigendem Entscheidungsakt, vor dem Abgrund illegitimer Selbstlegitimation, piratenhaft freibeuterisch, gesetzlos und unrechtmässig kapernd, hic et nunc, nehmen oder einräumen, um „Freiheit“ anders als dies für gewöhnlich getan worden ist, zu denken, ohne wiederum bloß ein weiteres, wenn auch noch so elaboriertes metaphysisches „Konzept“ von ihr zum Gegenstand einer Debatte zu machen, mithin ihre Möglichkeit zu beweisen oder widerlegen? Was oder wer nähme dann, wenn das möglich wäre, was oder wen und woher? Freiheit wohl am Ende, und anfänglich, sich selbst? (Letztlich dreht sich womöglich alles um die Selbigkeit dieses Selbst selbst, die Freisetzung, die seinen öffnenden Schließungsversuchen eignet?):

In einem bestimmten Sinne, der hier der ursprüngliche und letztendliche sein könnte, lässt sich die Freiheit als die Sache selbst des Denkens nicht aneignen, nur erbeuten; ihre „Ergreifung“ ist immer illegitim. (22)

Immerhin: Wäre sie nichts, was man, einer ontologischen oder subjektphilosophischen Deutung folgend (von der wir uns befreien müssen , 44) hat oder je in Besitz bringen kann, keine Idee, Eigenart oder Eigenschaft, die einem Subjekt wie ein Attribut oder Prädikat zukommt (und also auch kein Recht), fiele sie vielleicht, so bar und schnöde wie glanzvoll, mit dem kruden, lapidaren, prosaischen (Nicht-)Nichts der Existenz in ihrer Faktizität zusammen – wäre kein Gut und, da aller Bemächtigung vorausgehend, un(be)greifbar, sondern die absolute (d.h. unendlich abgelöste) Position, der basale Habitus und Ethos eines Ist. In der faktischen Je-weiligkeit eines singulären „Das-Da-sein“ als Öffnung aufbrechend (wie die Dehiszenz oder bifurkative Zwiesel und Zwille im „il y a“), sich als Extase und Exposition, Selbst-Transzendenz einer Immanenz aussetzend und ausliefernd. Nicht gälte es dann mehr, sie zu denken, nach Art einer metaphysischen (sei´s platonisch konstativen oder Kantisch regulativen) Idee oder ein dem der Notwendigkeit entgegengesetztes unabhängig neue Kausalketten anstossendes Verursachungsprinzip (Kant spricht von einer „besondern Art von Kausalität“), den ein intelligenter Algorithmus (woher nähme er die Freiheit zu seinem zirkelnden, hermeneutischen Leer- und Freilauf?[3]) als Bearbeitungsgegenstand seinen unermüdlichen Proceduren zuführt. Sondern es käme vordringlicher darauf an, sich ihrer zu besinnen als dessen, was am Denken undenkbar und von seinen Begriffen nicht greifbar ist und bleibt, es anstößt und freisetzt von sich selbst.
Somit also erführe sich (in einer Erfahrung, die vom experiri her, auf poros, Durchgang und peran, hindurchkommen verweist, sowie aufs Freibeutertum des P(e)iraten (eigentlich: Versucher, Erprober) sich das offene Meer durchreisend einer Gefahr, einem Wagnis aussetzen) das denkende Existieren im tastenden, touchierenden Erproben und Prüfen (einer gleichsam, oxymoronisch, „tranzendentalen Empirizität“), als die Freiheit, die es schon ist, getragen von der archi-originären Ethizität (212) eines Seins, dem als von einnehmender Überraschung gezeichnete einräumende Freigebigkeit (générosité), Frei-Setzung (dé-livrance) eignet, Teilhabe an einem spationierenden Teilungs- und Zuteilwerdungsgeschehen (vielleicht auch dem einer regellosen Ablösbar- und Entbindbarkeit), das womöglich im Anklang an Lacans Heideggerübersetzung, und dort die „moira“ übertragend, partage genannt wird. Sie, die Mit-teilung bringt mit sich, dass eine Freiheit nicht dort endet, wo eine andere beginnt, sondern: eine fängt dort an, wo die anderen anfangen: in der Teilhabe an einer Mit-Teilung des Teilens. Derart, wenn Ontologie zur Eleutheriologie mutiert und in die Gabe des Seins (Verb, nicht Substantiv) und sein Ereignis eingeschrieben (18) wird, setzt sich Denken selbst frei.

Die ungemein „kraftvolle“ Denkbewegung im Ausgang von Heideggers brachliegenden Befreiungsversuchen der Freiheit – man sieht sich tatsächlich hinsichtlich des eigenen Eindrucks bei Lesen mit Derridas Charakterisierung insofern in Übereinstimmung, als ein Überschwang lockendes Spiel von mannigfaltigen Kräften in dieser atemberaubend abenteuerlichen Freibeuterschrift brodelt -, welche unter dem Titel „La expérience de la liberté“ 1987 Gerard Granel als „thèse“ vorgelegt und 1988 bei Edition Galilée publiziert wurde, ist nun, fast 30 Jahre verspätet, dem diaphanes Verlag sei´s gedankt, in deutscher Übertragung nach- und mitzuvollziehen.

Tillmann Reik

Jean-Luc Nancy: Die Erfahrung der Freiheit. Aus dem Französischen von Thomas Laugstien. diaphanes Verlag, Zürich. 224 Seiten.€ 29,95. Verlagsinformationen zum Buch.

 

[1] Wieder einmal scheint der methodisch-stilistische Versuch (im piratischen Sinne des unlegitimierten Erprobens, Prüfens, ob es gelingen möge) naheliegend, sich mit einigen Freiheiten dem Gestus und Habitus (und also: Ethos) des vorliegenden Buches (dessen Politizität auch in der Weise gelegen ist, Sätze nach anderem Kalkül „zusammen zu stellen“ als dies in standardisierter Wissenschaftssprache Brauch ist), wenn auch „frei“, mimetisch anzuschmiegen, sich von seinem Duktus und seiner Diktion anstecken zu lassen und damit auch dem in aller nachahmenden Epigonalität gelegenen Risiko, zu dem, wovon ausgegangen wird in mimetische Rivalität zu treten, als bloß glossierende Persiflage oder Parodie aufgefasst werden zu können, nicht auszuweichen.

[2] Der kommunistische (und nicht kommunitaristische) Impetus von Nancys prekären Denken einer „Gemeinschaft“ (deren Begriff in vielerlei Hinsicht völkisch und identitär kontaminiert zu sein scheint) versteht es im gewissen Sinne, die Zugehörigkeitsfragen, die mit der Postulation eines Kollektiv einer Logik von Inklusion und Exklusion unterworfen blieben, zu unterlaufen, in dem deren Kriterien (das was scheidet und trennt) tiefergelegt werden in die „ontologische“ Zone des Sich-Unterscheidens selbst: Die „partage“ der Mit-Teilung weist auf ein de-klusives Miteinander-Erscheinen (comparution), das grundsätzlich keine Grenzen seiner Tragweite an den Tag legen kann, da es sie selbst stetig de-limitiert.

[3] Zu diesem Freilauf (roue libre), siehe: Jacques Derrida. Schurken. Zwei Essays über die Vernunft. Cover: Schurken. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003, S.21ff.

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