Tom McCarthy: K.

Tom McCarthy ist ein Autor, der seine Texte mit Anspielungen und Querverweisen belädt, bis sie in alle Richtungen strahlen. Tillmann Reik antwortet mit fröhlich tanzenden Assoziations-Clustern.

Weird Wireless World als seidenes Pfingstwunder

„Das soziale Band ist als konstitutiv mediales zu denken“ (Daniel Eschkötter, The Wire)

TV-Kultserien wie „The Wire“ setzen heutzutage lehrreich Fälle in Szene, die aufzeigen, dass der konspirative Draht, den die Dinge zueinander haben, das soziale Band, was die innerweltlich Seienden stotternd und stockend, oszillierend und gepulst verlinkt, worüber sie einander jedoch auch kriminalistisch abhören und ausspionieren (wiretap heißen auch Abhöranlagen!), so kryptisch codiert ist wie die Wege des Herren. Vor allem existiert er nicht, hat keine greifbare Substanz, sondern besteht in nichts als technisch hergestellter Relation. Die Übertragung als solche erfolgt immerhin, selbst wo Kabel, Schnüre und Drähte als klobige Utensilien Verwendung finden, wireless, im Dazwischen.

Antennenanlage der ältesten deutschen Funktstation in Nauen

Jedes Inderweltseiende hat letztlich auf tausenderlei Weise paranoid pynchonianisch mit allem anderen irgendwie zu tun, unterhält netzwerkartige Assoziationen und Wahlverwandtschaften über Codes und Signale, aber immer neu ausgehandelt, nie ein für alle Mal festgeschrieben. Hermetikfeindliche Hermeneutik, die den sich stets ändernden Frequenzen, Verschlüsselungsverfahren und Protokollen ihre Decoder durch fine-tuning nicht anzupassen versteht – „listen carefully“, „die autoreflexive Tagline“ (Eschötter) der ersten The Wire-Staffel – kriegt die „Sendungen“ nicht rein und registriert verärgert nichts weiter als Klicken und Rauschen im Äther.

Literatur als (Radio-Trance)-Mission; Lektüre als allgemeine Kriminologie

„And Ulysses is modernism’s P.S.–that is, both its primal scene and post-script, or, to use another metaphor, the screen on which it becomes fully visible.“
(Tom McCarthy)

Eigentlich geht es somit beim zeitgenössischen Lesen wie Schreiben von Bildern und Texten um die kriminalistische Entschlüsselung einer verschwurbelten Kritzelei, eines multimedialen Webwerks. Einer sozialen Kryptographie mithin (selbst wenn sie aus Stimmen, Signalen,Geräuschen besteht), die zu dechiffrieren aufgegeben ist, so dass die Maxime statt „Listen!““ auch „See!“ (C) lauten könnte. Schauendes Lauschen und horchendes Lesen, das – scharfsinnig – Oberflächenreliefs auf ihre geschichteten Krypten abtastet, mit der wachsamen Diskretion eines Spions, der sensitiven Durchlässigkeit eines magischen Mediums. Selten wird zusammengedacht, wie innig hermetisch-assoziative Verfahrensweisen der literarischen (Post-)Moderne – immer wieder wegen ihrer Sperrigkeit kurzerhand verworfen – mit der Geschichte der spukhaften Tele-Technologien (Radio, Funk, aber auch Kino) und der Verschlüsselungsmethoden von Spionange- und Geheimdiensten verwachsen sind. Sowie mit der Psychoanalyse als neo-spiritistischer Abhörtechnik. Gleichschwebene Aufmerksamkeit erweist sich als Freuds Pendant zu den gleichzeitig entstehenden Detektorenempfängern.

Sergej Konstantinowitsch Pankejeff, Freuds „Wolfsmann“, mit seiner Frau.

Als Chiffre dieser medialen Verwachsungen eignet sich, zum Beispiel, Freuds „Wolfsmann“, seine berühmteste und zeitlich längste Fallstudie, paradigmatisch. Sergei Pankejeff, SP oder PS, wird zur geeigneten Personifikation, zur Urszene (primal scene) und Postskriptum jener Epoche.

„Kryptonomie. Das Verbarium des Wolfsmannes“ von Maria Torok und Nicolas Abraham, eine seinerzeit bahnbrechende Neuinterpretation von Freuds Analyse, entschlüsselte, dass dieser russische Adelige sich ein Verfahren ersonnen hatte, Wörter mit Wörtern zu verbergen, einzuschließen. Was seinem ansonsten so hellhörigen Wiener Analytiker jahrelang entgangen war.

Postmoderne Erbmasse- Kennscht mi noch?

Kennt man nun bereits Tom McCarthys erhellendes Buch über die Tintin Comics des belgischen Zeichners Hergé (hier bei cultmag), seinen gefeierten Roman „8 1/2 Millionen“ (im Original: Remainder), sowie die diversen Online-Aufsätze und Manifeste, ist grob zu ermessen, aus welchem Fundus sich der post-joycesche, um Technik, Medien, Stimme und Schrift und deren Geschichte(n) kreisende Gedankenhaushalt des 1969 geborenen Londoner Autors und Künstlers speist, mit dessen Hilfe er die geisterhaften Phänomene teletechnologischer Medialität inspiziert. Auch Torok/Abraham finden sich im Schriftenverzeichnis.

Zusammen mit den inzwischen zu Klassikern avancierten Texten des Poststrukturalismus (etwa Roland Barthes „S/Z„) und der Dekonstruktion (wie Derridas „Un ver à soie“) bilden sie die Erbmasse, als deren sortierender Nachlassverwalter und Rekombinator sich der Autor von „K“ (im Original „C)“, seines dritten Buchs, das es 2010 auf die shortlist des Man Booker Prize geschafft hat, im Zeitalter der Lächerlichkeit originärer Hervorbringungsillusionen versteht. Es, K (C), ist, anders als seine Vorgänger, ein vertrackter (Ver-)Schlüsselroman, ein Cryptonomicon, das, im Unterschied zu Stephensons Epos des Turing-Zeitalters, seine Archäologie in früheren Schichten der Mediengeschichte eingräbt. Das Fin de siècle, als die Zeit der ersten Erfolge mit drahtlosen Funkverbindungen, bildet den Ausgangspunkt.

C/K, SC, Wolfsmann (SP): See, search!

„Karrefax mit K, nicht mit C“ (Übersetzung)
„Carrefax with C, not K.“… (Original)

…schreibt sich der Familienname des Protagonisten Serge. Serge C/Karrefax. Er (SC bzw. SK) verkörpert gleichzeitig eine Art codierter Neuauflage und das post scriptum Sergei Pankejeffs (SP), des Wolfsmanns. Zumindest was einige hervorstechende biographische Parallelen betrifft.
Serge (von lat. serica, seiden) bezeichnet darüber hinaus gleichzeitig ein Textil. Ob es zu weit ginge, in „Car-Refax“ sowas wie ein wiederholt- oder zurück- (re-) -gefaxtes, ferngeschriebes „Car“ zu entdecken, womit der Autor einen Partikel seines Patronyms seinem Helden eingeschrieben hat?
Bernhard Robben, von dem die herausragende Übersetzung stammt, macht in dem – besser zu Beginn zu lesenden – Nachwort deutlich, dass solche „Übertragungen“ in all ihren wörtlichen und metaphorischen Bedeutungen (dolmetschende Translation, medientechnische Transmission, das psychoanalytische Problem der Übertragung und Gegen-Übertragung, metamorphotische Transformation, etc.), dass all diese „Transen“, Trancen und Tranchen, das intrinsische Kerngeschäft jenes historischen Avantgarde-Romans im Kleide einer viktorianischen Pastiche, „C“ („K), ausmachen. Übersetzungen und Verschiebungen, driftings und shiftings, sind längst bereits im Gange, bevor der berufsmäßige Traducteur sich an die Arbeit begibt. Transmissionen von Verschlüsselungen, eingegrabenen umgeschriebenen Bedeutungen, sind es auch, die Freud zum Inbegriff der Neurose, nach Lacan eher Psychose, ernennt.

Aus der übersetzerischen Inaugural-Entscheidung, den Titel von C (sprich: „See!“ oder „Sea“) nach K (das auf dem Cover im Zerbröckeln begriffen scheint) zu verschieben und damit alle Keywords, welche die Letter kryptisch oder chiffreartig stellvertritt und die untergründig ein seidenschleieriges Webwerk spinnen (Carbon, Communication, Code, Complexity, Correspendence, Crypt, Cyst, Cystein, Connection, Cocain, Cyanid, Cairo, Copperfield, Caul, Chute und schließlich Carrefax, et cetera) einzudeutschen, resultiert zunächst ein traumatischer Initial-Verlust:

SC, die Anfangsbuchstaben des Protagonisten Serge Carrefax sowie dessen Vater und Schwester (Simeon und Sophie) geben im Deutschen nicht mehr das Vexierbild einer lautlichen und graphischen (S als in sich gedrehtes Zweifach-C) Doppelfunktion ab nach dem Vorbild von Barthes S/Z. K kann nicht als S gesprochen werden wie C, diese Dimension geht unwiderruflich verloren. Ebenso die graphische Parabelgestalt des C, der aufgebrochene Circulus, die Crypta oder Cyste. Und: die Parabol-Antenne zum Empfang der Kritzelein, vom Originalcover graphisch hübsch umgesetzt.

Dafür ergeben sich ungeahnte Boni, das Nachwort zählt einige davon auf. Hinzu käme die Möglichkeit, den Roman nicht als Hommage an Critchley, den Philosophenfreund des Autors, sondern jenen letztes Jahr verstorbenen Medientheoretiker zu lesen, der wie kein anderer die konstitutive Verkittung der Gesellschaft durch ihre technisch-medialen Apriori beschrieben hatte: Kittler, dem McCarthy einen rührenden Nekrolog geschrieben hat, ebendort aber auch die Nachträglichkeit der Beschäftigung mit den Schriften des Theoretikers betont.

Eine Archäologie der teletechnologischen Übertragungsmedien in ihrer Sattelzeit (1898-1922)

„Rapport [im Original: Narrative], Karrefax.“ Der hinter einem mit Papierstapeln überhäuften Tisch am Ausgang des Hangars sitzende Adjutant hält ihn zurück.
„Wie?“, fragt Serge, zieht seinen Handschuh aus und fährt sich über da Gesicht.
„Rapport fürs Korpshauptquartier. Jedes Mal muss ich Sie daran erinnern.“ (S.220)

Ja, worum geht es überhaupt?

Jedes der vier Kapitel beginnt mit einem C oder K Buchstaben: 1. Kappe /Caul, 2. Krieg /Chute, 3. Kollision /Crash, 4. Kammer /Call. Erzählt wird, fast schmerzhaft konventionell, flaubertesk unbeteiligt und ohne jeglichen Einblick in das Innenleben der Figuren, von Serge (sein Vater prononciert den Namen wie „surge“ oder „search!“), der mit einer Glückshaube (engl. caul) – Resten der Fruchtblase, die den Säuglingskopf wie eine Kappe umschließen – auf die Welt kommt. Jenem Knabe, dessen Entwicklungsroman, coming of age, freudianische Fall-Geschichte als sich durchhaltender, paternal-linearer Oberflächen-Plot fungiert. Auf der mütterlichen Unterlage einer klandestinen Verspinnung (und kommunikativen Konnektivität) der Elemente wie die Schicksalsfäden der Nornen.

Von der Geburt im Jahre 1898 auf der Seidenfarm Versoie durch eine taube (doch sprechende) und sich in Narkotikaschleier einwebende Mutter, bis zu seinem Tod im Ulysses- und A Waste Land-Jahr 1922 in Ägypten. Im selben Jahr, 1922, ging die BBC auf Sendung (18.Oktober) und Ägypten, wo Howard Carter (am 4.November) die Grabkammern des Pharaos Tutanchamun entdeckt, erlangte seine Unabhängigkeit.

Lehrer für Gehörlose und schrulliger Erfindet ist der Vater Simeon („Sprache ist göttlich“), Missionar der drahtlosen Transmissionen, welche er konsequent als verstehbare Sprache göttlichen Ursprungs begreift. Die Eigenschaft des leiblichen Vaters gebührt hingegen allem Anschein nach trotzdem nicht ihm, sondern dem omnipräsenten, ubiquitären Mentor und ehemaligem Studienkollegen: Samuel Widsun (Whitsun=Pfingsten). Ein seltsamer Ick-bün-al-dor, der auch mit Serges Schwester Sophie, deren Bedeutung im Roman kaum zu überschätzen ist, seine nicht ganz lupenreinen Spiele illegitimer Intimität treibt. Beide jedoch, Vater wie Widsun, spielen eine entscheidende Hebammen-Rolle bei der Geburt der Teletechnologie aus dem Geiste phonozentrischer Evangelistik. Wenn nicht letzterer gar, im Gegensatz zum Vater als Apostel, den heiligen Geist selbst verkörpert.

Hierbei ist die drogenabhängige Mutter, der traditionellen Seidenfabrikation verbunden, diesem selbstherrlich als Pfingstwunder sich inszenierenden Hermeneutik-Habitus des Verbindens und Verstehbarmachens gegenüber nicht als Widerpart anzusehen, sondern fungiert eher als unaneigenbare Unterlage: Das Spinnen,Weben, Verküpfen der seidenen Raupenfäden und der Schichten des Text(il)s vollzieht sich nach anderen, hermetischeren, „bewußtloseren“ Gesetzmäßigkeiten.

Déja vu auch hier: Gehörlosenlehrer mit tauber Mutter (und Ehefrau): Welche mediengeschichtlich relevante Biographie lässt sich entschlüsseln? Richtig, eben jene Alexander Graham Bells.

Versoie

„Ein jedes hängt zusammen. Ich spüre es in mir drin. Sieh doch!“

„Un Vers à soie“, „Eine Seidenraupe“, ist auch der Titel eines im Deutschen in den Band „Voiles. Schleier und Segel“ aufgenommenen Derrida-Essays. Das labyrinthische Carrefax Landgut – Seidenfarm und Copperfield, ein für Funkexperimente mit Kupferdrähten überspanntes Maulbeerbaumgelände – changiert also unentscheidbar zwischen väterlicher und mütterlicher Verknüpfungs-Technik. Und mittendrin Serge, search, surge, Wireless World-Abonnent. Der Roman entgegen, ob dies ein Manko darstellt, sei offengelassen, zeigt häufig die Tendenz, im Sinne des väterlichen Bedeutungskults, Spuren und Indizien allzu forciert zu verschnüren.

Früh beginnen die Geschwister Serge und Sophie ihre naturwissenschaftlichen Interessen zu entdecken, wobei Sophie am Ende ihrer durch Chemie und Insektenkunde gewonnenen paranoischen Einsicht, in welchem Maße alles mit allem zusammenhängt, nicht gewachsen ist und sich mit Cyanid das Leben nimmt. Serge, wie der Wolfsman nicht in der Lage den Verlust der Schwester zu verdauen, die ihm wie ein Fremdkörper im Magen liegt, unterzieht sich im zauberberghaften Spa-Ort Klodebrady einer Behandlung und wird später als Funker und Beobachter, fliegender Scharfschütze, im Krieg gegen die Deutschen seine spezifischen Begabungen zur Anwendungen bringen.

Die folgenden Jahre studiert er in London und kommt erneut, wie schon im Krieg, wo sie ihm beim Schärfen der Sinneswahrnehmungen gute Dienste leisteten, mit Drogen in Berührung. Drogen, von denen auch die Mutter nicht genug bekommen konnte. Sinne schärfend und/oder verschleiernd, um sie durchlässiger und empfangsbereiter werden zu lassen.

Das Buch endet in Kairo, den Grabkammern Ägyptens mit dem Tod des Helden, da dieser beim a-tergo-Sex (die C-Stellung gehört augenscheinlich zu seinen Vorlieben) mit einer jungen Ägyptologin von einem giftigen Insekt gestochen wird und schließlich an der entzündeten Cyste verstirbt. Vorher allerdings noch kafkaesk im Fiebertraum zum Verursachertier transformiert. Insect/Incest.

Seine letzten Worte, auf initiale Klickgeräusche reduzierte Vorsprachlichkeit: „Ssssss, k-k-k-k; ssssss, k-k-k-k; ssssss, k-k-k-k…“

Die Fokker Dr.I von Leutnant Friedrich Kempf mit der Aufschrift „Kennscht mi noch?“ begegnet Serge bei einem seiner Kriegseinsätze.

Höhenflug

Arbeit an einer guten Prosa hat drei Stufen: eine musikalische, auf der sie komponiert, eine architektonische, auf der sie gebaut, endlich eine textile, auf der sie gewoben wird. (Walter Benjamin)

McCarthys brillanter, an der Oberfläche flüssig lesbarer Avantgarde-Roman entzieht sich im selben Maße, ja macht sich nahezu unlesbar, wie er untergründig, am seidenen, schnurlosen Faden, Querverbindungen zwischen Bildern und Wörtern knüpft. Was dem Leser, will er über den Oberflächenscan hinaus diese in Schichten verwebte Tiefenstruktur mitvollziehen, eine gesteigerte Empfangsbereitschaft (listen carefully/see!), sowie eine detektivisch-detektorische Lust am Spurensuchen, abfordert. Serges Antwort auf den oben zitierten Aufruf zum Rapport, sachlichem Tatsachenbericht ohne jede Ausschmückung, fasst – nüchtern, besonnen, allen Übertreibungen abhold – das einzige, auf diesen literarischen Höhenflug passende Fazit folgendermaßen treffend zusammen: „Wir sind rauf, haben was gesehen, und es war gut.“

Tillmann Reik

Tom McCarthy: K. Aus dem Englischen von Bernhard Robben.Verlag DVA Belletristik. 480 S., 24,99 Euro.Verlagssinformationen zum Buch.

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