Alenka Zupančič: What Is Sex?

Die Unzählbarkeit des einen Geschlechts

Es gibt, da, jenseits von allem reifizierten Da und Etwas, wiewohl gleichzeitig mitten in jeder res enthalten und „unter“ ihr, das heißt im und als Zwischen, etwas, ein Reales, selbst wenn es nichts mehr gibt: jenes „es gibt“ (il y a) selbst, was, unzerstörbar und untot über-lebend, endlos übrig bleibt, so oft man auch meinen könnte, sämtliche Rückstände alles Seienden abgetragen, zunichte gemacht, beseitigt und ein reines Nichts freigelegt zu haben. Jenes „Es gibt“ unterliegt irreduzibel als die Inkonsistenz eines Nichts, das nicht nichts ist, sondern, sich negierende Negativität, die Bedingung der Möglichkeit noch des Nichts als Unmöglichkeit öffnet. Solcherart im Freudschen wie Heideggerschen Sinne „unheimliches“ Neutrales (wie Blanchot es nennen sollte), das für den frühen Levinas so äußerst bedeutsam war — eine seltsame Ontologie von der Unmöglichkeit einer Ontologie, eine Nicht-Ontologie der Unmöglichkeit, etc., eröffnend — unterscheidet sich von der ansonsten u.a. unter Neutralität verstandenen Aussetzung der geschlechtlichen Markierung (und von dezidiert männlicher Universalisierungs- und Nivellierungsobjektivität in Regie genommen) darin, dass es für die Zone der Sexuation sui generis und somit eines Risses (und man mag sagen, das secare ausdeutend, von dem der Sex semantisch ausgeht, einer Teilung und Spaltung, einem Scheiden, für das im Soma des Subjekts die Keimzellen einstehen) angesehen werden kann. Bei Freud wie bei Lacan taucht besagte notorische In-, Per- und Resistenz mit jeweils unterschiedlicher Nuancierung unter dem Namen des Todestriebs auf. Mit der Entdeckung frühkindlicher Sexualität, die unzeitig da ist, obwohl weder biologische Ausstattung, noch symbolische Ordnung bereits darauf vorbereitet sind, tat sich daneben für die Psychoanalyse eine Latenz auf, die durch keine „reife Genitalität“, als deren etwaige Wahrheit und Eindeutigkeit, eingeholt und ihrer Unbegreiflichkeit entledigt werden könnte. Ebensowenig von einem Wissen überhaupt: man kann sich dieses ontologisch — und damit ganz und gar nicht natürlich — gedachten Sexuellen in bestimmten Sinne nur unbewußt sein; es bleibt dann ebenso der Name für die Zeugungskraft des Uneindeutbaren, Surplus eines Minus, das die Befriedigung am Sprechen genuin sexueller erscheinen lässt als den ansonsten mit Sexualität identisch gesetzten Vollzug genitaler hetereo- oder homoerotischer (Fortpflanzungs-)Praktiken. Von der polymorph-perversen jouissance des Sprechens aus — besonders dort, wo es besinnungslos plappert und sich den Überraschungen von Lapsus und Pun, anstössigen Stolpersteinen der Bedeutung, ausliefert — kann sich das Geschlechtliche, das keine Gattung ist, sondern eher noch das (Ohne, der Riß, die Spaltung: die Unvollständigkeit), ohne welches die Gattung nicht Gattungen sein können, erschließen. Es, das Reale im Lacanschen Sinne, ist kein Seiendes und kein Sein; es ist jenes, was die klassische Ontologie, im Bestreben das Seiende als Seiendes zu sagen, ausgeblendet hat. Insofern muss die binär- und komplementärlogische Kombinatorik kultureller Archetypen von als Gegensatz und Ergänzung gedachten Entitäten des Yin und Yang, wie der Jungsche Revisionismus sie voraussetzt, ebenso als Desexualisierung gewertet werden, wie die Auflösung des unzählbaren sex zum zählbaren gender anhand von durch performative Sprach- und Machtspiele produzierter gesellschaftlicher Rollen vor dem Hintergrund unterstellter Un- oder Vielgeschlechtlichkeit.

Zone des Risses, Riss der Zone: das Reale, die entsetzende Out-of-jointness der symbolischen Ordnung… Was auch bedeutet, der Sphäre des Triebs — nach Freud stets ein sexueller, nach Lacan immer ein todestriebhafter –, einer Drift und Deviation, für die der gekrümmte Umweg die Abkürzung darstellt, mit dem etwas sein eigenes Zentrum, das Eigene, d.h. einen Mangel — das „-1“ als Fehlen der Eins, dem die Zwei, wie der Überfluß  (1+) der diskursiven Signifikantenketten entspringt — einkreist und damit eine Non-Relation, das Mit eines Ohne „vollzieht“. Die Cogitatio als Co-Agitatio, ursprünglich das kreisförmige Zusammentreiben von Vieh auf der Weide, wäre bloß eine Spielart solcher Umtriebigkkeit; wenngleich eine, in der sich das, auch für Tiere geltende, konstitutiv gestörte Verhältnis eines Körpers zu sich selbst besonders eindrücklich in Szene setzt. Alenka Zupancic setzt, indem sie die ontologische ti esti Frage gegen alle Tabus (wieder) mit dem Sexuellen kopuliert — Was ist Sex? — beinahe eine Art inzestuösen Kurzschluß ins Werk, konstruiert eine neue und doch so alte unterdrückte Verschaltung, der zuzutrauen wäre, die bisherigen Algorithmen psychoanalyse-averser Philosophie in ihrem zwanghaften Repetivitätsautomatismus nachhaltig aus Konzept und Fugen zu bringen. Nicht so sehr allein zu desorientieren nämlich, als einer Desorientierung gewahr werden zu lassen (mit polemischer Spitze gegen eine Modeströmung spricht sie von der Notwendigkeit einer „object-disoriented-ontology“), aus der sich diskursive Formationen bilden, die sich durch die Emergenz eines neuen, eindeutig eine bestimmte Äquivokation formulierenden und formalisierenden Signifikanten destabilisieren lassen, wäre die Aufgabe der psychoanalytischen Intervention, sofern sie keine bloße therapeutische Ego-Orthopädie abzugeben sich begnügt. Wäre zudem vielleicht die Aufgabe eines Denkens, das nicht lediglich mehr weder konsequenzenlose (Schul-)Philosophie noch Lebensratgeber von Kommunikationsexperten sein will.

Tillmann Reik

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