François Jullien: Denkzugänge. Mögliche Wege des Denkens

Entrée. Man muss sich einlassen

Der Anfang liegt nahe

Was China betrifft, frage ich mich sogar: Ist es überhaupt nötig, dass wir mittels Fragen denken? Heißt Denken immer, ein Rätsel zu beantworten, die Sphinx zu befragen, den Abgrund auszuloten, wie es im Abendland seit den Griechen mit großer Leidenschaft gewollt wurde?

Wird Zugang zum schlechthin Anderen gesucht, das, inkommensurabel heterogen, emphatisch ein solches wäre und nicht bloß weitere Variante des Selben, liegt bisweilen nahe, genealogisch oder archäologisch verfahrend, mit dem Anfang zu beginnen, der es eröffnet und auf den Weg bringt.

Kann man überhaupt anders anfangen als mit dem <Anfang>?

Umso mehr, wenn unterstellt wird, und das tut Philosoph und Sinologe Francois Jullien in seinem Essay Denkzugänge. Mögliche Wege des Geistes – er plausibilisiert besagte Behauptung an Eröffnungssätzen aus der Romanliteratur – dieser, der Anfang, enthalte bereits, in seinem Inhalt und idiomatischen Duktus, alles Folgende in nuce in sich verkapselt. Gäbe eine Richtung vor; bringe etwas auf den Weg, das, einmal ins Rollen gekommen, nicht mehr aufzuhalten ist. Für seine kleine Propädeutik wird Jullien sich deshalb, initial und intitiatorisch, des mit dem Anfang beschäftigten ersten Satzes (der keiner ist, sondern eher eine parataktische Serie) des I-Ging, des Klassikers der Wandlungen bedienen, den er umfangreich auslegt, einen Kommentar dazu kommentierend, und übersetzt. Es handelt sich, nach den Ausführungen Julliens, um einen Anfang, in dem nichts (schon gar kein Subjekt) handelt, sondern Anfänglichkeit selbst als initiatorisches Vermögen benannt wird, Ingangsetzung einer Operativität, die sich als solche erhält und zu keinem Ende gelangt. Verfasst im binären Strichcode und dabei von einer Originalität, die, nach Jullien, vor allem darin besteht, gegen jegliche Originalität sich zu verwahren.

Glücklicherweise geht es in diesem Fall nicht darum, das chinesische Denken umfassend zu „kennen“, ein unendliches Unterfangen, für das zwei Leben nötig wären; sondern um etwas ganz anderes: lediglich darum, eine Schwelle zu überschreiten, einen Weg zu bahnen, sich „einzulassen.“

Es geht folglich um etwas ganz anderes: anders zum Anderen dieser Anfänglichkeit, die Prozesshaftigkeit, Operativität, Gangbarkeit und Regulation eröffnet, zu gelangen. Ein insistenter Imperativ, der nicht aufhört innerhalb des Buches seine unerbittliche Forderung zu reklamieren: das wirkliche Sich-Einlassen aufs Anderswo „China“ ist nötig; dazu sind Historie und Klassifikationen, „Abriß, Extrakt, digest“, wenn nicht ungeignet, so doch oft nur Alibis, um der wahrhaft herausfordernden Konfrontation auszuweichen. Genauso der Zweifel: sein vermeintlich so grenzenloser Verdacht, dem bislang für wahr Erachteten gegenüber, richtet sich ein auf dem Fundament von Unbestreitbarkeiten, die ihrerseits der Infragestellung gerade für immer entzogen bleiben müssen. Und dennoch als implizite Voraussetzungen das Ausgesparte bleiben, das wohl sich einzig zu denken lohnte. Man wird sich, soviel ist im Vorhinein sicher, bei alldem, nicht eingelassen haben. Jullien weiß eine Vielzahl von Arten und Weisen aufzuzählen, sich nicht einzulassen. Nein, sich wirklich einlassen müsste all dem gegenüber im Kontrast sein wie einer Bruderschaft beizutreten; es geht nicht ab ohne eine gewisse Komplizität mit dem Anderen und die Bereitschaft loszulassen und die eigenen Ausgangskategorien aufzugeben. Ein Abstand muß eingeführt werden, der das Eigene von sich selbst trennt und in dieser Distanznahme „uns nicht nur über unsere Fragen nachdenken lässt, sondern mehr noch über das, was sie möglich gemacht hat und uns so sehr an sie bindet, dass wir sie für notwendig halten.“

Sich auf das chinesische Denken einzulassen, heißt also damit zu beginnen, sich von dessen Blickpunkt aus zu hinterfragen, gemäß dessen impliziten Voraussetzungen und dessen Erwartungen. […] Wir werden uns in Europa nicht mehr auf den Horizont europäischen Denkens beschränken können.

Bei allen faszinierenden Ausführungen zu jener Anfänglichkeit vermag jedoch die heuristisch-hermeneutische Dimension des Herangehen die meiste Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sie ist umständlich, subtil und besonnen. Alles in allem erinnert die tastende Suche nach einem anderen Anfang als Anfang eines anderen (und eines anderern Anderen) an Heideggers Vorsokratikerexegese; die enormen Schwierigkeiten, die solche „Fünde“ zuletzt immer als innerhalb eines geschlossenen Repertoires exerzierte Inszenierungen darstehen lassen, ergeben sich auch hier.
Wie ist es um den ersten Satz aus Julliens Buch selbst bestellt, gesetzt, der Anfang fände sich vorn und zu Beginn? Er müsste, wie dargestellt, nach dessen eigener Theorie monadisch übers ganze Prozedere bereits Aufschluß gewähren. Es sind da jedoch, entscheidende Zwickmühle, deren zwei: jener eines kurzen Vorworts (des Anfangs vor dem Anfang) und der Satz, der den mit römisch I überschriebenen Abschnitt eröffnet.

Anfang 1: „Seltsam, doch alles in allem logisch, dass ich erst jetzt zu der Frage komme, mit der ich in der Werkstatt meines Schaffens hätte beginnen müssen.“
Anfang 2: „Sich einlassen heißt im buchstäblichsten Sinn zunächst einmal eintreten: von einem Draußen in ein Drinnen gelangen.

Zwei mögliche Wege des Anfangens somit oder ein in sich selbst gedoppelter, von denen der erste sich der (dann doch wieder logischen!) Seltsamkeit konfrontiert sieht, dass der Anfang (den Jullien im folgenden zumindest in Gestalt des ersten Satzes etwa von Prousts Recherche oder dessen von Aristoleles Nikomachischer Ethik tatsächlich am Anfang sucht), der legitime Anfang, der eigentlich hätte das Erste sein müssen, manchmal der abstrakten Zeitordnung nach später kommt als erwartet. Oft erst, so wie man das Vorwort eines Buches zuletzt schreibt, am Ende. Zusammen mit der ebenfalls erst verzögert auftauchenden Frage, ob es überhaupt nötig sei zu fragen oder gar nur eine westliche Spezialität („Warum das warum?“ hatte auch Heidegger sinniert), wirft dies reflexive Aporien auf, die im Rahmen des Buches nicht gelöst, sondern weiter radikalisiert und entfaltet werden. Sie sind deren Gegenstand. Ob es wirklich gelingt, dahinter zu kommen, was es heißt einzutreten (was ja auch besagte: Zugang zudem erlangen, was „Zugang“, was „eintreten“ bedeuten könnte), „eine Schwelle zu übertreten“, wie der zweite Anfang avisiert, bleibt bis zuletzt unklar. Denn muss eine Topographie, die meint, säuberlich Interieur und Exterieur, Selbes und Anderes trennen zu können, auf der Suche nach der Schwelle, gerade im Falle einer komparatistischen Untersuchung (die keine solche sein will: Julliens Begriff von Einlassen und Eintreten setzt sich explizit von jedem Vergleichen ab, ohne doch auf es verzichten zu können), die Europäisches mit Chinesischem (dieser vermeintlich inkommensurablen Exteriorität) vergleicht, nicht als unrettbar unterkomplex erscheinen? Julliens Formulierungsweise, sein Duktus, verstehen es, solchen Verstrickungen zu Wort zu verhelfen, ohne einfache Auswege anzuempfehlen. Der Anfang ist gespalten, es gibt davon mindestens zwei, in Wahrheit eine unendliche Pluralität, und er bleibt im Kommen.

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O Asia, das Echo von dir und es bricht sich Am Kapitol und jählings herab von den Alpen. (Hölderlin, Am Quell der Donau)

Fürs europäische Denken (dem eine gewisse Konsistenz deshalb zu unterstellen ist, weil es selbst versucht, im Bezug auf sich, eine solche herzustellen, sich als Kanon zu schließen) heißt das, die ohnehin schon in sich gespaltene griechisch-römisch-jüdisch-christliche Schöpfungserzählung, die wiederum aus ägyptischem, dann wohl babylonischen Fundus sich speist, widerspricht sich in sich ebenso sehr, wie sie auf anderer Ebene Einklang suggeriert. Einerseits nämlich scheint sich nichts so sehr zu widersprechen wie die vom gebietenden Wort ausgehende ex nihilo (oder fiat-) Kreation der Genesis und die qua Zeugung verfahrene Theogonie nach Hesiodschem Muster, bei der Götter einander zeugen und dadurch ein Wuchern schaffen, dass erst durchs Gewaltmonopol eines Zeus zu gewisser Stabilität gelangt. Andererseits: finden sich nicht Elemente des einen auch immer im anderen? Überdies lehrt die Beschäftigung mit Indien: die Anfänge wuchern, je verbissener man sich eines solchen zu vergewissern bestrebt ist, desto entschiedener pluralisiert er sich. Das Innen befindet sich eingefaltet im Außen, das Außen im Innen. Was heißt dann aber, nochmals gefragt bis zur Erschöpfung, eintreten, was „sich einlassen“? Ist man irgendwie nicht schon immer Drin, sofern das Andere, sei es noch so heterogen, stets bereits eingeschlossen ist ins mit sich selbst uneinige Eine, wenn auch als Ausgeschlossenes? „Jewgreek is greekjew. Extremes meet. „

„Wir werden uns in Europa nicht mehr auf den Horizont des europäschen Denkens beschränken können. Wir müssen unser Zuhause verlassen und unseren philosophischen Atavismus abschütteln — uns anderswo „umschauen“, was bereits bei den Griechen, erinnern wir uns, die erste Bedeutung von „Theorie“ war, bevor sie platt und spekulativ wurde.“ (S.11)

Der Osten allerdings scheint dieser immer per Scheidung und Bruch verfahrenden hebräisch/hellenischen Wurzel etwas Drittes beizufügen, was von beiden Modellen nicht gedacht wurde.  Ob man hierin in allen Punkten dem Autor folgen wird ist unsicher. Zu nahe liegt der Verdacht, dass auch das Ungedachte im Gedachten bereits seinen Abdruck hinterlassen haben wird.

Gerade in Hinblick auf eine so absolute Exteriorität wie China und sein Denken, das, wie Jullien expliziert, allein aufgrund seiner nicht der großen indoeuropäischen Familie angehörigen Sprache, ohne Konjugation, Deklination, Morphologie, seiner nicht phonetischen, sondern ideographischen Schrift, seines „singulären Bezug[s] zur Mündlichkeit ebenso wie eine nicht gelockerte Abhängigkeit von der gestaltgebenende Macht des Duktus“ tatsächlich den europäischen Gepflogenheiten zunächst sehr fremd und ungewohnt gegenüber steht, stellt sich leicht der Eindruck einer „schönen Fremde“ (Eichendorff) ein, die romantisch überhört und mit sämlichen Sehnsüchten aufgeladen wird, die sich in der langen Geschichte des abendländischen Denkens akkumuliert haben. Ein eurozentrischer Exotismus ist dann die Folge, der von Beginn seiner Publikationstätigkeit an Jullien zum Vorwurf gemacht wurde.

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und die Liebsten Nah wohnen, ermattend auf Getrenntesten Bergen, So gib unschuldig Wasser, O Fittiche gib uns, treuesten Sinns Hinüberzugehn und wiederzukehren.

Tatsächlich jedoch hat dieser immer wieder im Blick behalten, dass solche Gefahr nie vermeidbar ist; so dass es darum geht, auf geschickte Art mit ihr umzugehen. Ähnlich wie dem hermeneutischen Zirkel der Ruf anhaftet, es käme nicht so sehr darauf an , ihm zu entkommen, als auf den geeigneten Modus in ihn hinein zu gelangen, so arbeitet Jullien an einer offenen Frage („Was heißt es überhaupt sich auf etwas anderes einzulassen?“) prozessual, indem er operativ, im Übersetzungsvorgang, dem wechselweisen Hinaustreten und Hereintreten, dem oszillierenden close/distant reading eine Schwelle aufspüren möchte (und Hermes, man erinnert sich, ist der Gott derselben), die Unvergleichliches verbindet und doch ihr Besonderes würdigt und vor Nivellierung bewahrt. Vor allem gilt es „mögliche Wege“ aufzuzeigen innerhalb eines nicht totalisierbaren Repertoires für „jedwede Intelligenz“; eine „Phänomenologie des Geistes“ wäre zu schreiben, die nicht mehr nur europäisch ist und es irgendwie vermag, die Problematik einer immer nur per analogiam appräsentierbaren Alterität in jede ihrer Operationen mit hinein zu nehmen. „Osterweiterung der Vernunft“ hat Peter Sloterdijk diesen Vorgang einmal genannt und man denkt an die seltsame Non-Philosophie François Laruelles (in der das „non“ keine Antithese, sondern Erweiterung wie die nicht-euklidische Geometrie sein will), mit der dieser den Versuch zu unternehmen scheint, die dezisionale, auf basalen Distinktionen beruhende Struktur aller westlichen Philosophie selbst in den Blick zu nehmen, um derart ihrer narzißtischen Suffizienz ihre Unzureichendheit vor Augen zu führen.

Dennoch: Die faszinierenden Erkundigungen dessen, was in des Autors Sicht, die den bekannten Denkwegen gegenüber radikale andere Weise des Vorgehens ausmachen soll, lässt die unheimliche, klandestine Komplizität, durch welche der Westen mit seinem verdängten, vergessenen, nie zu Kenntnis genommen Anderen immer schon verschworen ist, dies Fremde in sich bereits enthält, umso deutlicher zu Tage treten. Vielleicht besteht der Ertrag der Auseinandersetzung auch darin, einer kontraintuitiven Merkwürdigkeit gewahr zu werden: Der Westen ist bereits und anfänglich (auf eine je neu zu entwickelnde Art) chinesisch, weil sein „Innen“ in seiner Immanenz nicht klar umschrieben ist. In sich selbst Alterität, die, um ihrer gewahr zu werden, der Konfrontation mit einer externalisierten Inkommensurabilität zu bedürfen scheint …

Tillmann Reik

Peter Szendy: Hör(en)

97ee83770556601Arrangement

Mithören: Hört, wie ich das Hören höre

Erst der verstünde Musik, welcher so fremd sie hörte wie ein Unmusikalischer und so vertraut wie Siegfried die Sprache der Vögel. Theodor W. Adorno

Jeder hört anders und Anderes oder das Gleiche verschieden. Als ein Anderer, aber auch als er, dieser Selbe, selbst. Zum anderen Zeitpunkt oder auch schon – denn jeder Hörmoment ist bereits in seiner Simultanität binaurale Dopplung, geteiltes Zusammenspiel zweier Ohren: zum selben. Welches Recht darf man sich dabei herausnehmen? Ist jedes Hören gleichermaßen legal und legitim? Was heißt (uns) hören?

Bereits ziemlich zu Anfang seines unerhört hellhörigen Essays „Écoute, une histoire de nos oreillesgibt der Philosoph und Musikwissenschaftler Peter Szendy dem an mehreren Stellen galant und intim per „Du“ adressierten Leser zu verstehen, dass er seinen Versuch einem Kampf um Anerkennung der besonderen Sorte verschrieben hat: Ihm ist darum zu tun, sein singuläres Hören von Musik, das dem Ruf einer unabweisbaren Notwendigkeit, selbst von anderswoher stammend, folgt („Du musst hören!“), als Unikat zu signieren und einem Anderen, vielen Anderen hörbar werden zu lassen.

Und ich bin davon überzeugt, dass es musikalisches Zuhören nur unter der Bedingung dieses Wunsches und dieser Überzeugung gibt, anders gesagt: dass das Zuhören — und nicht das Anhören oder die Wahrnehmung — mit diesem legitimen Wunsch, signiert und adressiert zu werden, beginnt. An andere. (S.21)

Zuhören, das französische écouter leitet sich vom lateinischen aufs Ohr (auris) verweisenden auscultare ab, das auch der medizinischen Auskulation ihren Namen verleiht und lässt daher ein tastendes, doch ebenso spionierendes Abhorchen und Lauschen, das dem immer offenen Ohr (auris) in seinem Wahrnehmen („in die Wahr nehmen“ und „verwahren“ hatte Heidegger damit assoziiert) eine besondere Gespanntheit aufnötigt, anklingen. Jean-Luc Nancy hat die Unterscheidung zwischen diesem écouter und einem entendre, einem Vernehmen, das immer schon versteht und mit Bedeutung unterlegt, auf der Suche nach einer „grundlegenden Resonanz“ „als erste oder letzte Tiefe des »Sinnes« (oder der Wahrheit) selbst“ in seinem kleinen Büchlein „Zum Gehör“ auf ihre Tragfähigkeit hin abgeklopft. An Carlos Kleiber mag man sich überdies erinnert fühlen, der wie Szendy ein obsessiver, höriger Abtaster von Tonaufnahmen großer Dirigenten gewesen sein muß, auf deren Grundlage er sich, neben dem Partiturstudium, sein Repertoire aneignete. Darin versessen auf Details bis zum Fetischismus. Von diesem auch stammt eine Äußerung, getätigt während einer Probe mit dem Südfunk-Sinfonierochester in der Stuttgarter Villa Berg und an die begleitenden Streicher gerichtet:

“Ihre Begleitung ist leise. Das gebe ich zu. Aber man hört nicht, dass sie auf ihn hören. Und das kann ich, wenn ich sonst nichts kann, ich kann das immer hören, ob jemand auf jemand anderen hört. Das hat einen ganz besonderen wartenden, tastenden Klang, wenn Menschen auf einen anderen hören.”

Hören, ob und wie jemand auf jemand anderen hört, tentativ und attentional …Die Auslotung der Möglichkeit einer derart mit-geteilten Aufmerksamkeit, die darin bestünde, eine gänzlich individuell erlebte Hörweise, deren Registratur, notwendig kontingent, notwendig selektiv, bestimmtes auf bestimmte Weise beachtenswert findet, zu übertragen, trans-portieren, -ferieren oder -skribieren, dient in der Folge allen weiteren Erkundingen als unterschwelliger basso continuo. Womöglich läßt sich das dem Sonoren zugewandte Sensorium bereits selbst als Musikinstrument oder Schreibwerkzeug begreifen; das Registrieren von Auditivem, Akustischem als Skription.

„können wir vielleicht damit beginnen unser Hören als Schreiben, möglicherweise sogar als Wiederschreiben (réécriture) zu betrachten.“ (S.56)

Hörenhörenmachenwollen erweist sich als eine Spielart der Liebe des Autors zu Zuhörzuhörern sui generis, „derangierenden“ Arrangeuren nämlich (ein etwa von Liszt und Berlioz verwendetes Wortspiel), die Szendy als — zunehmend aus der Warte modernen Werktreue mit dem Kainsmal des Störenfrieds versehene (so sie denn ihre Anverwandlung als Eigenständiges, nicht auschließlich funkional dem Vorbild nachgeordnetes präsentieren) — Wesensverwandte begreift.

„Ich, der es so sehr liebt, jemandem beim Zuhören zuzuhören.“ (S.53) „Ich liebe die Arrangeure über alles.“

Liszts und Busonis Beethoven- und Bachübertragungen für Klavier, Stockowskis, Schönbergs Bachorchestrierungen: Szendy betrachtet sie als eigenständige, vollgültige Werke, die der Hörbarmachung dienen, insofern sie sich über die sakrale Unantastbarkeit des immer zu wünschen übriglassenden Originals gerade hinwegsetzen und sich gleichsam an ihr vergehen, dadurch jedoch überhaupt zur Geltung verhelfen. Wie Benjamin es von der Übersetzung und ihrem Verhältnis zum Original behauptet hatte.

Was präfiguriert unsere Gewohnheiten und die Meinugen darüber, wie angemessen rezipiert werden muss; auf welche Weise bildet sich unser Ohr im Gefolge als Instrumentent auch der Erzeugung von Klängen erst aus („Wir hören nicht, weil wir Ohren haben, sondern wir haben Ohren, weil wir hören.“Heidegger)? Der moderne Werkbegriff und das Urheberrecht setzten ein Regime ein, das im muskalischen Gebilde ein organisches Ganzes erblickt(!), was, etwa nach der Auffassung eines bestimmten Adorno (der sich an anderer Stelle durchaus davon abweichend bekundet), vom idealtypisch konzipierten Experten „strukturell“ gehört werden kann und muss. Was heißen will, dass dieser immer den Überblick behaltende Hörer sich jederzeit hellwach und gleichsam auktorial im Klaren ist, welche Bedeutung der gegenwärtige Moment eines Stücks in Relation zum Gewesenen und Kommenden gehabt haben wird. Ist dies zerstreungsfeindliche Beidersachebleiben wünsch- oder auch nur vorstellbar?

Hören ohne Ablenkung, ohne sich jemals von „Geräuschen der Welt“ zerstreuen zu lassen, hat das noch etwas mit Hören zu tun? Muss das Hören nicht in seinem tiefsten Innern etwas für etwas Unschlüssigkeit offen sein? Muss verantwortliches Hören (das sich eher für sich sowie für das Werk verantworten könnte, als bloß einem höheren Gesetz zu entsprechen, nicht immer unschlüssig sein?

Szendy sympathisiert hier mit einer écoute flottante und verweist auf Freud, so dass die vom Übersetzer gewählte Prägung „unschlüssige Aufmerksamkeit“ nicht falsch, aber irreführend erscheint. Nennt Freud die vom Analytiker geforderte doch, Pendant zur „freien Assoziation“ des Analysanten: gleichschwebend (und in der Tat ist „flottante“ die gängigere französische Übersetzung dieses terminus technicus.)

Man halte alle bewußten Einwirkungen von seiner Merkfähigkeit ferne und überlasse sich völlig seinem ‚unbewußten Gedächtnisse‘, oder rein technisch ausgedrückt: Man höre zu und kümmere sich nicht darum, ob man sich etwas merke. (Sigmund Freud: Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung [1912])

 Divertimento

Keineswegs beschränkt sich somit die reichhaltige, in vier Teile gegliederte Otographie, halb Kriminologie, halb Archäologie, monothematisch auf ein einziges Sujet, nach dem Bilde einer unilinearen Historie, wie der Titel vermuten lassen könnte. Selbst Arrangengement und Potpourri schweift sie aus und ab, verliert sich, ohne je den Kontakt zu „sich“ zu verlieren, in Details und Anekdoten, von denen nichts überflüssig, sondern stets bereichernd daher kommt. Darin so „dilettantisch“, in einem semantisch dem Ergötzen, Delektieren abgelauschten Sinn, wie der im schönsten Abschnitt, der vielleicht doch als geheimes Zentrum betrachtet werden darf, „zuhörend folgende“ („ascoltando ti sto„), lüsterne Wüstling/Unhold (dissoluto) Don Giovanni/Juan, den Szendy mit den Initialen DJ versieht, weil sich dieser ein verantwortungsloses Wünschkonzert genehmigt, fast nach dem Vorbild moderner digitaler Wiedergabeverfahren. DJs lasterhaftes Lotterleben kulminiert darin, dass er sich nicht nur verantwortungslos der Damen bedient, nach denen er begehrt, sondern auch die Musikstücke (oder Fetzen daraus), nach denen ihm der Sinn steht, rein ums Ergötzen willen, gleich einem modernen DJ auf- und abruft. His_Master's_Voice[1] Ascoltando, das ist für Jean-Luc Nancy, der neben dem instruktiven, das bisherige Werk Szendys vorstellenden Nachwort des Übersetzers Daniel Schierke ein Vorwort beigesteuert hat, „die geheime Anweisung jeder musikalischen Aufführung“. Und letztlich auch das autoreferentielle Sichselbstzuhören eines Subjekts, eines „Werks“ im modernen Sinne, ja der Musik im Ganzen.

Mehr und mehr ist man versucht zu sagen, dass die Musik sich selbst zuhört: Sie präsentiert sich ganz offen als dieses Subjekt-Werk (sei es reine Improvisation), das sich auf nicht so sehr bezieht wie auf sich selbst, auf die Nähe und Fremdartigkeit ihrer eigenen Resonanz, viel mehr als auf irgendeine Finalität oder einen Inhalt, ganz gleich ob in der Ordnung der Kompositionsformen oder der Bedeutungen. (Nancy)

Peter Szendys Buch öffnet im Ganzen einen solchen sich selbst lauschenden Klangraum, es erprobt ein gleichermaßen zerstreutes wie hellhöriges Denken, ein Re-Sonieren, dem man so gebannt folgt, wie Nipper, der berüchtigte Terrier-Mischling vorm Gramaphontrichter der Stimme seines Meisters.

Peter Szendy: Höre(n). Eine Geschichte unserer Ohren. Mit einem Vorwort von Jean-Luc Nancy. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Daniel Schierke. 2015 Wilhelm Fink, Paderborn, 180 Seiten, 29,90 Euro.

Verlagsinformationen zum Buch