Thomas Schestag: Namenlose

Die Gewalt ohne Gewalt des Namens

“Und die Interpretation wird in ihrem eigenen Verfahren auf die Suspendierung derjenigen Momente, welche die Unterdrückung des Aufruhrs in ihrem Gegenstand betreiben; wird, sofern sie Logik ist, auf ihre eigene Dekonstruktion auszugehen haben.” (Werner Hamacher)

In “Namenlose” finden sich Lektüren, doch keine „Interpretationen“; nicht einmal dann vielleicht, wenn man dem Kind einen anderen Namen gibt und dieses lateinische Wort, wie es nicht unmöglich ist, ins Deutsche mit “Übersetzung” übersetzt. Es wäre in diesem Fall mit “Interpretation” eine Übersetzung vom Deutschen ins Deutsche gemeint, intralingual, die Substitution bedeutungstragender Zeichen einer Sprache durch andere Zeichenvehikel derselben Sprache, um die, damit mitgesetzt, selbst un- und außersprachlichen Bedeutungen besser, verständlicher zu transportieren und ans Ziel, das Verstehensbegehren eines lesenden Blicks, der Beute machend in Empfang nehmen will, so auszuliefern, dass dieser unbeschadet den Sinn einsammeln und als Guthaben lagern und aufbewahren kann. Dies jedoch, wie gesagt, findet man, so, in der Hauptsache, nicht. Vielmehr etwas, weil auf unheimliche Weise arg vertraut, möglicherweise zunächst befremdlich und verstörend anderes, irregulär abweichendes. Namen stehen hier für ein Nehmen, d.h. sie stehen, auch wenn sie, ragend oder ausgreifend wie Großgrundbesitze und Liegenschaften oder deren Bebauung, im Raum der Sprache seßhaft etwas vorstellen, jeweils nur so, als ob sie stünden. Statt im herkömmlichen Verstande in straff gebundendem Zusammenhalt zu stehn, fallen sie (einander) zu und auseinander, was der Verfertigung dieser Texte spürbar etwas fahrig Außer-planmässiges mitgebenen hat, wodurch diese nicht einfach geschrieben worden sein dürften, um ein vorgesetztes (z.B. didaktisches) Ziel zu erreichen, sondern gleichsam methodisch abdriften und -schweifen wollen. Dabei jedoch rigoros und ohne Kompromiß einem Begehren folgend: die Methode, kontrollierte Herstellung von Wissen auf gut ausgebauten Wegen, überlässt sich der Bewegung ausfransender Bahnung. Es mag an das erinnern, was Adorno in Bezug auf die Komposition von Tönen und Klängen als die Tendenz des Materials bezeichnet hat, das auszuhören, die avancierte Musik sich vornimmt (oder: dem sie sich überläßt).

Man trifft somit auch nicht auf Auslegungen im Sinne einer Sinngebung, die entweder einen gegebenen Sinn nähme: im Sinne von ungebrochen wahr- und zur Kenntnis; oder gäbe im Sinne eines zum Präsent gemachten klar umrissenen Textes, der einem anderen, weniger kantenscharf umgrenzten die endlich weitestgehend unambigue, konsistente Deutung aufaddierte, die er, wie damit unterstellt, als Erklärung nach Art eines User´s manual braucht. Der also sagt, was der andere einstimmig mit sich selbst sagen will oder wollte, wenn er nur vermöchte, den Faden nicht zu verlieren und gesammelt bei sich zu bleiben, ohne dass dieses das Sagen erläuternde Sagen seinerseits splitterte.
Wenngleich durchaus, was die “Haltung” dieser Lektüren angeht, eine Advokation im Spiel ist, die etwas in diesem Sagen, wie allem Sagen, Mitgesagtem, dem Wortbruch im Namen und als Name, der Uneindeutbarkeit des Worts zum Wort (wie Schestag das immer wieder nennt),wenn nicht zu Wort, dann doch zu einer gewissen lesenden Bemerkbarkeit verhilft. Den Brüchen der Bedeutung und des Ausdrucks nämlich. Oder: dem Namen als einer prägend-brechenden Gewalt ohne Gewalt zur Sprache, was sich fürderhin wieder als die Sprache selbst (ohne Selbst) entpuppt.
Da es keine von vorgefertigten konstativen oder regulativen Theoremen gelenkten Interpretationen sind, die Thomas Schestags Lektüren unterliegen oder aus ihnen hervorgehen, vielmehr — dies wäre der laterale und oblique Atheoritizismus solcher Ent-Deutungen — Aufbrüche von und gemäß den Bruchstellen und Stellenbrüchen der Staben-Sachen selbst, ihrem Gepräge-Gebreche, nicht um sie als Sekundäres Wichtigerm zuliebe hinter sich zu lassen, sondern sich sukzessive rückhaltlos und immer minutiöser in sie zu vertiefen, also, wie Odysseus, der heimkehrt, um noch einmal auszuschwärmen, ins Aufbrechen und Losreißen, in die grundlose Abweichung zurückzukehren (nicht ohne, dass dies eine Rückkehr der Rückkehr in sich selbst als eines Aufbruchs, nostos in eine Irrfahrt, wäre):: ließe sich dennoch eine Formel finden für das, was sich dort vollzieht? (Und ist dies nicht gerade, hier und jetzt, schon, unweigerlich, zu Teilen geschehen und setzt sich weiter in Szene?)  


Anders gefragt: Kann man eine Regel, von der im Zuge dieses Lesens, wenn auch nur zum Teil, zuteilwerdenden regellosen Divisibilität auf den Begriff bringen? Ist sie mit dem Oxymoron, der contradictio in adiecto, von der regellosen Regel, eine der zahlreichen Übersetzungen des griechischen Logos, (des Lesens), einer so präzisen Irr-Regularität, dass ihr gegenüber alle positiven Normen ihrerseits wie ein maßloser Exzess an fahrlässig vergröbernder, inadäquater Unordnung erscheinen, bereits gefunden? Denn eine Entsprechung zum oder ein Gehorchen des allà tou lógou akoúsantes/ “aber seid horchsam der lesenden Lege” ist dieses nehmende Lesen dann nur, wenn unter logos, dieser vorgängigen Regel der souveränen Ausnahme, die, kaum mehr und nur beinahe: Sammlung eines Unsammelbaren verstanden wird, also ein Zerfall, oder: Abfall,  dessen “eins” mit der 1 der Arithmetik nicht symmetrisch zusammenfällt. Sondern: das eine Eine zersetzt das Andere im gleichen Maße, wie es dieses, als gleichsam Produkt dieses Abfalls, ermöglicht. 

(Nicht auf mich, sondern auf den Logos hörend ist es weise, dem zuzustimmen: daß alles eins ist. DK 22 B 50)

Hört man, und merkt man, nicht auf ein “Ich” und “mich” des Textes, sondern auf die Regel dieser regellosen Teilbarkeit (der Aus-ein-ander-setzung) seiner Nahmen, Ausnahmen ohne Ausnahme, ist alles “eins”, nämlich un-eins und anders, aber jedesmal — und darauf wäre unendlich aufmerksam zu sein — anders. Horchsam sein nicht der lesenden Lege, oder doch, aber anders, der lösenden Losung, der Losigkeitslosung eines Brechens, Spaltens, Teilens der Namen, eier Lyse. Devise (und Dividende?) der Division. Der Logos des Logos: das Nehmen, das nicht aneignet, ohne sich zu enteignen: Ent-nehmen?

*

Etwa in der Mitte des Buches, von Lektüren, die nicht einfach nacherzählbar, wiedergebbar sind,  wo es, Hölderlins Rheinhymne entstammende Rousseau-Apostrophe auslesend, um die “süße Gabe zu hören” geht, finden sich folgende Sätze:

Die süße Gabe ist keine, die gegeben ward, sondern — ward (ohne geworden zu sein).

Das Geben der Gabe bleibt, zwischen zuteil und unzuteil, suspendiert. Es ist die Gabe, zu nehmen: aber nicht unter allen Umständen wahr-. Nichts als alles, was es gibt, zu nehmen. Nämlich so, daß alles, was es gibt, dem Nehmen erst entspringt. (184)

Das heißt, vielleicht: Wenn das Nehmen nämlich so nimmt, dass es Gaben entspringen lässt, indem es nichts (als alles, was es gibt) nimmt, dann eignet dem Nehmen, das sich selbst nimmt, der Selbstbenommenheit ein Überhang über alle Gabe (noch und vor allem des logos, der — logon didonai und reddere rationem — wieder- und zurückgegeben werden müsste), eine Vorgängigkeit: Zwar gibt die Gabe nichts als das Nehmen, aber da sie, als solche in ein Zwischen, und Zwischen des Zwischen und Zwischen des Zwischen, suspendiert bleibt, ist die Gabe des Nehmens ihrer selbst noch benommen. Eine solche steresis oder privatio (die die falschen Ausdrücke bleiben, weil es um Beraubung von nichts geht, die das Geben als Akt zulässt, indem es ihn verindert) liegt auch in der Wurzel ie. *ghabh-, *ghab-, *ghap- ‘fassen, nehmen’, die der Gabe zugrunde liegt. Nicht nur, dass, um zu geben, vorher genommen werden muss (“was man hat, auswählend ergreift, „nimmt“, kann man darreichen, schenken, „geben“”, wie es die Pfeiffersche Etymologie erklärt), sondern zudem: zwischen der geregelten Differenz von Geben hier und Nehmen dort, tut sich ein Abgrund, gap, auf, die Differenz selbst als Entzug (und ohne selbst). So etwas wie eine, aber auch das trifft es kaum, quasi-transzendentale epoché als Geschehnis.

Schestag spürt diesem Nehmen, diesen Nahmen und diesen Namen, ihrem Gesetz: onoma-nomos, seit seinen frühesten Publikationen nach. In “Namenlose” werden die Namen als Lose — Geschicke —  wie als lose (ungebunden und verwaist), paradoxen Grundelement der Sprache, die in ihnen nichts als der Sprache Unzugehörigkeit zu sich selbst und ihre Ungehörigkeit ausstellt, diese Unverwahrbarkeit verwahren und an diese Unerinnerbarkeit, leise impertinent, erinnern.

Sprache gehört nicht. Auch sich selber nicht an. Jeder Name erinnert, und erschüttert das Erinnerungsvermögen, genau — nämlich unvergeßlich, unerinnerbar — daran. (8)

*

Massimo Recalcati. The Mother’s Hands: Desire, Fantasy and the Inheritance of the Maternal

Der Gang zu den Müttern

FAUST schaudernd.
Den Müttern! Trifft’s mich immer wie ein Schlag!
Was ist das Wort, das ich nicht hören mag?

…the mother is the name of the Other who does not let life fall into the void, who holds life in their own hands, stopping it from falling; it is the name of the first ‘saviour’. (S.13).

Obwohl bekanntermaßen sämtliche Geschöpfe und Kreaturen, ohne Ausnahme, seit unvordenklichen Zeiten, jemandes Kinder, Abkömmlinge, Sprösslinge und damit — wenn auch stets häretische — Erben von Eltern sind,

This is the thesis in this book to which I am most strongly wedded: the heir is always an orphan, always without inheritance, disinherited, uprooted, with no patrimony, left by the wayside, lost. Inheritance is never a simple pouring out of riches or genes from one generation to another. Inheritance is not a naturally sanctioned right, but a singular movement with no guarantees, leading us to our unconscious matrix. It is the taking-forward of that which we have always been. (The Telemachus Complex, 11)[1]

genealogische Filiationslinien – zumindest bis zu Adam, dem Mutterlosen —  bilden, somit Ergebnis der geteilten Liebesbegegnung von zweien, ohne zwangsläufig, der juristischen Definition wie dem biologischen Faktum nach, erziehungsberechtigte und -verpflichtete Eltern von Kindern zu sein, erscheint die Vorstellung vom Kind, was sich auf dem Weg befindet, seit es sich durch das Ausbleiben der das  Reguläre und Zyklische anzeigenden Blutung der Mutter angekündigt hat, denen, welchen es verheißen ist zuweilen wundersam oder gar befremdlich. Hereinbrechende Interruption. Das Kind kommt, ohne dass (selbst wenn ein Plan zu seiner regelgerechten Herstellung vorgelegen haben sollte, der die Wucht der tyche des Ereignisses, dennoch nicht abfangen kann) diese Annuziatio eines Advent etwas von einem Trauma für alle Beteiligten verlieren würde. Fortpflanzung, die vermeintlich normalste Sache von der Welt — die Weise, wie sich diese Welt nun einmal ebenso wie die sogenannte “Natur” im Natalitäts-Bruch mit sich erhält; und was sich reproduziert und bewahrt, indem es sich in Filiation überträgt, wird das Begehren selbst sein — scheint zugleich trotzdem, oder gerade deshalb, als das Unheimlichste und Über- wenn nicht Widernatürlichste. Ein Mysterium und Geheimnis in seiner Unrückführbarkeit auf das, woraus es hervorgekomen sein wird,  ist es also, dem Massimo Recalcati einen der Teile einer Trilogie gewidmet hat, die sich dem, was von der ödipalen Triangualtion, Mutter, Vater, Kind,  nach deren scheinbarem Zerfall — vor allem aber der Funktion des paterfamilias —  bleibt, verschreibt.

No God/ Father can save us: the nostalgia for the father as a hero is an unshakeable illness. The time of the father’s glorious return has been left behind for good! No monuments, no invincible fleets, no party heads, no authoritarian and charismatic leaders, no gods or popes will return from the sea; only fragments, splintered pieces, fragile and vulnerable fathers, poets, directors, teachers With no job security, migrants, workers, simple witnesses who bear testament and demonstrate how to communicate a sense of faith in the future to one’s own children and the new generations, giving a meaning to the horizon, a responsibility that does not lay claim to any notion of property. (The Telemachus Complex)

Ebenso liest man in seinem den Ödipusmythos wie das Gleichnis vom Verlorenen Sohn nochmals in Augenschein nehmenden Buch über das Geheimnis des Sohnes (Il segreto del figlio), welches das Wesen des Kinds als allem noch so gut gemeinten Zugang durch Empathie und Dialogbereitschaft radikal heterogenes Element herausarbeitet:

“Nel tempo in cui tramonta la Legge che punisce e castiga inesorabilmente, il compito primo – il più alto e il più difficile – dei genitori è quello di avere fede nel segreto incomprensibile del figlio e nel suo splendore.”

„In einer Zeit, in der das Gesetz, das unerbittlich bestraft und kasteit, untergegangen ist [was eventuell bezweifelt werden muss, TR], ist die erste Aufgabe – die höchste und schwierigste – der Eltern, an das unverständliche Geheimnis des Sohnes/Kindes und an seinen Glanz zu glauben.

***

Ja, was man so erkennen heißt!

Wer darf das Kind beim rechten Namen nennen?

Auf dem Weg, als scheinbares Resultat oder Produk dessen, was geschlechtlicher Verkehr der Geschlechter genannt wird, ist ein Kind, der Etymologie nach ein weiteres vom selben Schlag oder Geschlecht (engl. kind, lat. genus, ein Wortstamm, der auch ins Erkennen und die Gnosis hineinspielt, als wäre alle Erkenntnis ein Kind),  das sich großen Kindern zugesellen wird, die sich — wann, wenn nicht jetzt, mit dem Zeitpunkt des Gebärens — als ausgereifte Erwachsene fühlen und gebärden (ja, gebären) müssen, um als Bezugsgröße “Eltern” zu fungieren. Das heißt zum einen, dem staatlich oder vom organisierten Gemeinwesen zugedachten Erziehungsauftrag zu entsprechen. Zuvor jedoch und dem unterliegend, den Forderungen der Verantwortung und Gastfreundschaft — die in den romanischen Sprachen angemessener Hospitalität heisst, weil sie auch und gerade sanitäre Fürsorge bedeutet — gerecht zu werden, etwas und jemandem gegenüber, der kommt, als gänzlich Unbekannter erwartet wird. Der Beherbergung und Bewirtung, Pflege und Fürsorge von jemand Unbekanntem sich verschreiben, der oder die, vom Moment seiner Ankündigung an, da ist, ohne dennoch schon ganz angekommen, arriviert und gesettelt zu sein. Der also (oder die!), bis zum Augenblick der Niederkunft, aber auch darüber hinaus, im Kommen bleibt. Herkommend als ein Heraus aus einem Innen, in das er oder sie, aus einem Außen dieses Innen/Außen hereingebrochen ist. Sofern man dazu bereit sein kann und muss, so muss das, wenn man Derridas Ausführungen im Seminar zur “hospitalité” glauben darf, immer auch ein Bereitsein sein, was dazu bereit ist, nicht bereit zu sein. Ein aporetisches und also nur als unmögliches mögliches, als mögliches unmöglich.

***

Dabei sind Eltern, Ältern — “der substantivierte Plural des Komparativs (westgerm. *aldizōn-) von dem unter ↗alt (s. d.) behandelten Adjektiv.” — dem Wort nach doch nichts als der Verweis auf das höhere Alter derjenigen Kinder, die die Eltern bei allem was sie separiert, doch lebenslang — wenn auch zusehens verhornter und um Schutz- und Abwehr- wie Durchsetzungsmechanismen reicher — bleiben.

Doch wo spielt sich alles ab, wie nennt sich der Ort, da sich in innerer Teilung (internal division) und separierender Aussonderung eine Reifung zuträgt, die der Passion und Patience des Wartens aussetzt? Es ist die Mutter — nicht einfach identisch mit dem weiblichen Elternteil und alle Biologismen und wohl auch sozialen Konstrukte transzendierend –, die im Zuge eines zurücktretenden in sich Schutz-Raum Schaffens gleichsam unmittelbar im geduldigen Warten die paradoxe und unmögliche Erfahrung einer absolut fremden Nähe machen kann, die dem Vater genannten Akteur und Funktionanteil nur im Modus externer Beobachtung vergönnt ist:

“The mother lives this wait, the patience of waiting, safeguarding the Child that remains a mystery to her. This internal division does not affect the father, who can only observe from the outside, an external witness to that which is taking place in the woman’s body, located elsewhere. Only the mother can experience an absolute foreign proximity, a transcendence and immanence that are absolute. The life that she hosts (even from before its conception) in fantasies and dreams is another life, a different life, a life that, though it comes from her flesh and blood, seems made of another flesh and another blood.”

Da das Alleinstellungsmerkmal der Mutter, absolute Transzendenz in der Immanenz und interne Division — ein anderes Leben in sich zu beherbergen — gleichsam unmittelbar erfahren zu können, von einer Selbst-Intimität spricht, die in einer gewissen Spaltung des psychomatischen Herrschaftsbereichs des Selbsts selbst spricht, ist die Frage, ob die dem Vater zugeschriebene bloß externe Beobachtbar- — oder Erfahrbarkeit — nicht originäre, sondern bloß abgeleitete, indirekte, derivierte Erfahrung zu sein — nicht in der Erfahrung, die jene der Mutter eigene genannt werden soll schon eingeschrieben ist. Nur dass diese die Intensität dieser Trennung als Selbstdifferenz gesteigert erfährt. Dies entspräche einer Intention Recalcatis, die von der klassischen Psychoanalyse dem Vater zugeschriebene Funktion, die symbiotische und exklusiv inzestuöse Verbundenheit des Kindes mit der Mutter durch seine Intervention aufzubrechen und zu durchtrennen, zu relativieren.
Die dem Vater zugeschriebene Trennungsfunktion nämlich ist in mehrerlei Hinsicht dem Verhältnis der Mutter zum Kind je schon eingeschrieben. Sie ist, wie der Levinasche Dritte im exklusiven Zweierverhältnis als eine Instanz der Teilung immer schon im Spiel. Des Vaters Aufgabe wäre dann vielmehr an die immer schon stattgefundene Trennung zu erinnern — die auch damit einhergeht, dass die Mutter nicht mit der Frau restlos zusammenfällt — indem er nicht nur die symbolische Ordnung derart repräsentiert, dass er das Gesetz nicht als Antipode des Begehrens, sondern dieses selbst verkörpert; und andereseits die Mutter in ein Liebesverhältnis perpetuierend involviert, dass diese von der Versuchung des gänzlichen Aufgehens in der totalen Identifikation mit exklusiv-exzessiver Mutterschaft löst und befreit. Die Mutter von der Mutterfunktion, zumindest teil-weise, entbindet.

Wäre es die Mutter, die in symbolische Ordnung, wie das Register der Sprache, einführt, längst bevor ein väterliches Gesetz seine Trennschnitte vornehmen kann?

It is in fact the mother that inscribes the subject in the field of language through her gestures of care. As Gennie Lemoine rightly states, ‘Feeding and body care, like the scream, the tears, the gaze and the smile, are already language.’21 This means that, in opposition to a certain psychoanalytic rhetoric that would rather exclude the mother from the genesis of language, it is the mother who first brings the child to the miracle of the word through her own voice, the consistency of which transcends the purely grammatical structure of language…

Ja, aber müsste dann nicht eine Sprachlichkeit ihrerseits der Mutter genannten Figur, dieser Prothese des Ursprungs, diesem Bereits-Supplement, gegenüber eine Mutter abgeben, die so, Mutter, vielleicht nicht mehr umstandslos genannt werden kann?

Der Sprache der Mutter geht eine Muttersprache vorweg, die dem innerhalb der von Lacan symbolisch geschiedenen und später wieder miteinander verschränkten Register das Reale genannten wohl am ehesten entspräche. Setzt die registrierte Ordnung der Register jene Symbolische Funktion zunächst voraus und verdoppelt sie in das Symbolische von dem sie spricht und jene Teilung, die sie überhaupt als sauber geschiedene hervorbringt (die Sprache also als symbolische Funktion), so stünde das Reale für jene bloße Sprachlichkeit ein, die Figuren, Symbole, Prädikationen, Urteile und Schlußfolgerungen zulässt, aber nicht braucht. Es verdoppelte sich allerdings zu einem weiteren Realen, was in der geregelten Registratur nicht mehr aufgeht sondern ihr, sie bedingend, unterliegt.

Die Sprache der Mutter ist selbst keine Mutter — mehr oder noch nicht — , aber ihr Fehl, eine offene, zulassende Hand, die gibt, ohne zu greifen und die Geburt zu einem Zur-Welt-Kommen macht, das über die biologische Mutter hinaus und durch diese hindurch — zur Sprache kommen lässt. Wenn nicht — entgegen dem Vorteil, das Neugeborene verfügte, wie das Tier, noch nicht über Sprache oder sei ihrer nicht mächtig — Sprache bereits ein Kommen zu sich selbst ohne Ende meint und damit eine Künftigkeit, der die Mutter (vor und jenseits aller ihr ansonsten zugedachten Erziehungsaufträge) Unterkunft, Durchlass, Empfangsstätte und Stätte des Abschieds. So dass sie sich selber spaltet, oder von einer Spaltung zeugt, Mutter zur Abstandnahme von sich wird. Werner Hamacher hat dies an verschiedenen Orten auf folgende Weisen angesprochen:

Es gibt immer zwei „Mütter“ – : ,, “ (noch keine und nie eine wirkliche) und „Mutter“ (eine andere, eine Nennmutter). Diese die sogenannte Mutter, jene das So-Nennen. Die eine bloße Möglichkeit einer immer zukünftigen Mutter, die auch alles andere als Mutter sein könnte; die andere nicht die gemeinte, nicht die meine, immer nur eine, die keine ist. Ohne sie läßt sich nicht leben, mit ihnen läßt sich nicht leben. Also läßt sich, zwischen ihnen, bloß „leben“. (Hamacher, Maser)

„Mutter und Tod sind Namen, die keinen im strengen Sinn >objektiven< Referenten haben, beide sind vor-subjektiv, beide ohne präzisen prädikativen Gehalt, und in jedem dieser Namen spricht der andere mit. Jede Mutter ist eine sogenannte Mutter, Tod ein sogenannter Tod. Mit dem Wort Mutter beginnt der Tod der “Mutter”; im Wort Tod lebt die >Mutter< fort. Keines von beiden sagt ein >Etwas< aus, das sich unabhängig vom Sagen darbieten könnte. Jedes von beiden ist in seiner Verbindung zum anderen eine irreduzible Suggestion, die Suggestion aller Suggestionen, bloßer sprachlicher Ansatz zur Eröffnung einer Welt, die ohne ihn nicht bestünde, die Sprache in ihrer dichtesten und prekärsten, ihrer unauflöslichsten und labilsten Struktur.“

„da Mutter heißt: Entfremdung von der Mutter, ist sie immer zu wenig- die entfremdete – und immer zuviel Mutter – die Entfremdung selbst -, jeweils das, was sie nicht ist, und allein darin sie >selbst<.“

 

Tillmann Reik

Recalcati, Massimo. The Mother’s Hands: Desire, Fantasy and the Inheritance of the Maternal

 

[1] Ebenso: “We must not forget that, as Massimo Cacciari correctly reminds us, the term ‘heir’ comes from the Latin heres, which has the same root as the Greek word cheros, meaning deserted, bare, lacking. This means that there is no difference between the heir and the orphan, because the person who can truly inherit is ‘only whoever discovers themselves to be orbus, orphanos’.30 Every authentic movement of inheritance supposes the incision, the separation, the trauma of the father’s abandonment; the experience of loss, of being an orphan. This is the profound tension that characterizes the movement of inheritance, as we will see with the figure of Telemachus. A faithfulness that is passive or soulless does not allow for the subjectivization of our past.” (ebenda, 35)

Michael G. Levine: Atomzertrümmerung

Zeit / -lose…

Die Sekunde, diese Kunde: Lapsus Linguae

Doch was ist Schmerz? Der Schmerz reißt. Er ist der Riß. Allein er zerreißt nicht in auseinanderfahrende Splitter. Der Schmerz reißt zwar auseinander, er scheidet, jedoch so, daß er zugleich alles auf sich zieht, in sich versammelt. Sein Reißen ist als das versammelnde Scheiden zugleich jenes Ziehen, das wie der Vorriß und Aufriß das im Schied Auseinandergehaltene zeichnet und fügt. Der Schmerz ist das Fügende im scheidend-sammelnden Reißen. Der Schmerz ist die Fuge des Risses. Sie ist die Schwelle. Sie trägt das Zwischen aus, die Mitte der zwei in sie Geschiedenen. Der Schmerz fügt den Riß des Unter-Schiedes. Der Schmerz ist der Unter-Schied selber.
(Martin Heidegger. Unterwegs zur Sprache)

Ach, ach, weh mir! Es kann und wird, geht die Mär, vom frühesten endlosen Anfang menschlicher Verlautbarung an und bis wohl in alle Zeiten, im Sagen, vor allem anderen besonderen Inhalt, vor allem kategorial zum Genre spezifizierten Lamento und Lamentoso, dem Klagen in Stoßseufzer und Ächzen, deren prominenteste und atomar-urteilchenhafteste die onomatopoietische Symptominterjektion Ach* zu sein scheint, Ausdruck verliehen worden sein und werden. In Sprache, als Sprache, aus deren Wortgestalt das eine ungeteilte Ach herausbricht, sich ungeregelt bricht, welche es einfasst. “Zu sagen, was ich leide”, und überhaupt das “Dass” als das erste Was, von einem Gott — wohl dem selbst sprechenden des Logos — zuteil gewordene Gabe des Menschen, ausgezeichnet vor dem, weil angeblich zur artikulierten Explikation qua Prädikation nicht fähigen und deshalb vermeintlich zum Verstummen verurteilten Tier (aber wohl doch zum stummen Schrei fähig), gilt als Inbegriff des dem Menschen vorbehaltenen sprachlichen Ausdrucks.

»klagen verhält sich zu klang, klingen ganz wie sagen zu sang, singen. klingen galt nämlich auch für singen, klagen aber bedeutet nach allen spuren ursprünglich schreien«

Weil sagen, vor allem anderen Inhalt, bekundet, dass ihm die Sprache fehlt, die richtigen Worte, der gemäße Hörer immer ausssteht und gar der Sprecher als zoon logon echon selbst sich nicht “hat” im Sinne der restlosen Bemeisterung seines Sinns und seiner selbst — eher „hat“ er die Sprache wie man eine Krankheit hat, ist von ihr befallen und erleidet sie — sagt es seine irreduzible Sprachlosigkeit. Spricht nicht nur von, sondern vor allem aus ihr. Aus dem Versagen und dem Vor dieses Ver-, da besagter Gott des Logos durch den Algos von sich selbst getrennt, in und als Sprache, über seinen eigenen Tod, das Verlassenwordersein von sich, klagt.

as the algos in which the logos separates from the logos. With it, onto-theo-logy lapses into onto-theo-algy. (Hamacher, Other Pains)

Sagen ist somit immer zunächst — das heisst, bevor es sich zum Anklagen im Sinne des Kategorisierens bindet und verfestigt, welches wiederum wohl vor allem dieses vorgänge Lamento, das es ist, anklagt und benennend, Schuldige isolierend, einzugrenzen versucht — Klagen, Leidensbekundung. Und Unbehagen, Weh, Leid, Kummer, Trauer, der drückende, quälende Schmerz, gr. achos, macht etwa, vertraut man Schadewaldt, neben dem unaufhaltsam weiter wie ein Flächenbrand um sich greifenden Zorn, bereits die eigentliche Grundstimmung des Achill, dessen Namen zumindest nach manchen Spekulationen auf achos, den Schmerz, zurückgeht, aus. Er ist als Kraft dieses Zersetzende, das die gesamte Homerische Welt des Epos sadomasochistisch dünkender Sprach-Tat-Handlungen überhaupt aus sich gebiert.

Auch die Anklage des für weiblich denunzierten Klagens, etwa im Ciceronischen, tugendhaft virilen Niederzwingen des Schmerzes, bietet die ganze geballte Gewalt des Klageschmerzes auf, um sie gegen sich selbst zu wenden: im Sich-Zusammenreißen bleibt dieses das Zusammen eines Auseinandergerissenwerdens und proliferiert es.
Wäre somit Klage für etwas außer der Sprache als Äußerung Befindliches zu nehmen, was sich in ihr artikuliert? Oder gibt es nicht zumindest einen Schmerz vor der Unterscheidung in seelischen und körperlichen, inneren und geäußertem, der sich in einem Sprechen und Schreiben selbst findet und dem Sich-aus-ein-ander-Setzen der Zeichen (oder, wie Derrida sagen, wird: Marken, oder, um, nochmal anders, die Verwundung zu kennzeichnen: Male) mit- und in- *sich* bis in ihre kleinsten Elemente hinein geschuldet ist? Eine “Differenzierung”, die nicht nur unterschiedene Identitäten scheidet, sondern noch die Differenz “in” sich selbst von sich selbst, infradifferentiell. Letzte Atome erweisen sich dann als Hypothesen, von denen sich sukzessive herausstellen wird, dass es sie nicht gibt, nur gibt als weiter sich teilende. Sie zertrümmern sich, wo Sprache und ihr markendes Mark, ihre Mark und Marsch, sbricht, von Anfang an. Eine Freisetzung von Kräften (der Freisetzung), die weht wie ein Luftzug, aber auch Wehen und Wehe erzeugt wie die einer Geburt, der Amputation eines Gliedes, des Scheidens bei Abschied und Tod, entbindet und bahnt sich.

Empfindet die Sprache etwas wie Schmerz bei der Freisetzung solcher Kräfte? Gibt es etwas wie einen sprachspezifischen Schmerz, einen zerreißenden Schmerz der sprachlichen Zerreißung?

Jener Schmerz, der die abschiedliche, sich von sich abscheidende Sprache selbst zerreisst und sie zu und als solche Zerreissung wiewohl in Versammlung und Zusammen-Reißung präzisierend, sukzessive zertrümmert und aufsprengt, verdichtet sich in Dichtung, die damit, scheint´s paradox, eine Lockerung und Lösung ins Werk setzt. Einzig diese Undichte verdichtet und Text zum klaffenden Gelände der Verbrachung, zum Gebräch, markt, indem sie, gleichsam, den Acker der Sprache, ihre Brache, fortwährend eggt.

that, in short, every voice—and every language—however vital, powerful, or imperial it may be, remains dependent on an anontological remainder of pain and could never be sounded without that which in it can never be sounded. This must be a pain that is more lowly than lowly, softer than soft, more formless than formless: an infra nihil that withdraws from formation, regulation, and binding, and, even enchained, slips out of its chains. (Hamacher, Other Pains)

Paul Celans Poetik geht es darum — so Levines mikrologische -lyse seiner Lyrik, die dieses strukturelle Geschehen, das die Temporalisierung (und man müsste hinzufügen: Spatio-Temporalisierung) von Sprache überhaupt darstellt, anhand des von Paul Celan in dessen Gedicht “Die Silbe Schmerz” aus dem Band Die Niemandsrose gefundenen Syntagmas “die Zeit-/lose” aufschließt — dieses Andere/diesen Anderen (welches auch “Zeit des Anderen” genannt werden kann) auf je singuläre und unvorhersehbare Weise mitsprechen zu lassen. Der Andere, das heisst, dessen Zeit, muss, paradox, beim Sprechen als das, was nicht spricht, mitsprechen. Und das ist, was das Gedicht tut: es lässt. Lässt Zeit, eine andere Zeit, die Zeit des Anderen und etwas anderes als Zeit, mitsprechen. Levine zitiert an dieser Stelle beinahe Levinasschen Celan der Meridian-Rede:

Noch im Hier und Jetzt des Gedichts – das Gedicht selbst hat ja immer nur diese eine, einmalige, punktuelle Gegenwart -, noch in dieser Unmittelbarkeit und Nähe läßt es das ihm, dem Anderen, „Eigenste mitsprechen: dessen Zeit. Wir sind, wenn wir so mit den Dingen sprechen, immer auch bei der Frage nach ihrem Woher und Wohin: bei einer »offenbleibenden«, »zu keinem Ende kommenden«, ins Offene und Leere und Freie weisenden Frage – wir sind weit draußen.

Levine:

In “Die Silbe Schmerz” gehen Trennungen nicht nur durch Zeilenbrüche oder Wörter wie das Verb “buchstabieren” hindurch, sondern auch und vor allem durch den Buchstaben selbst. Und wenn der Buchstabe von sich getrennt ist, kann die Rede nicht mehr von stabilen sprachlichen Einheiten — auch nicht von den minimalsten — oder von klar erkennbaren Zwischenräumen sein. Stattdessen geht es um ein allgemein verbreitetes, nirgendwo lokalisierbares Zögern. Und es idz gerade dieses konstitutive Zögern, diese zögernde Unberechenbarkeit des Gedicht, die ihm eine Chance gibt, die Chance, als Flachenpost ans Herzland gespült zu werden — die Chance irgendwo anders anzukommen als man erwartet hatte. (36)

Irgendwo anders, und, könnte man hinzufügen: nirgends, also nicht anzukommen. Im Sinne der Unzeit einer Unankünftigkeit.

Die Silbe Schmerz aus der Niemandsrose ist vielleicht eine Umschrift der “Zehnten Elegie” — eine Elegie über die Elegie oder gar ein Trauergesang für die Elegie selbst — Rilkes und lässt Levine vermuten, dass Celan, der Rilkes Dichtung kannte und schätzte, dichterisch da anfängt, wo dieser aufhörte.(54) Beim Unbegangenen.

Während Rilkes Poetik dieser Zeit nämlich das -los als Suffix der radikalen Insuffizienz loszuwerden bemüht zu sein scheint, ist es Celan — für den das Poetische für das Unabgeschlossene und Nicht-Identische steht (14) — um das Los, das Schicksal dieses entbundenen -los, vielleicht Sprache selbst, emphatisch zu tun. Seine Dazwischenkunft, Intervention im wörtlichen Sinne, markiert eine Temporalität des oder der Zeit-/losen, dem Celans epikurisch-demokritisch-lukrezsches Interesse an der Selbst-Abweichung und mithin auch an der Unterteilung der Sprache in immer kleinere Elemente (17), einer methodischen Atomzertrümmerung gleich, zu entsprechen versucht.

Es war im Zusammenhange eines Gesprächs, in dem ich darlegte, wie diese Arbeit – vergleichbar der Methode der Atomzertrümmerung – die
ungeheuren Kräfte der Geschichte freimacht, die im „Es war einmal“ der klassischen Historie gebunden liegen. Die Geschichte, welche die Sache zeigte, „wie sie eigentlich gewesen ist“, war das stärkste Narkotikum des Jahrhunderts.“

So gesehen ist dieses für nichts als Fehlleistungen (71) offen haltende Dichten des Zer- und Zufalls, der Chancen der Abweichung, ein Los-, und damit: Zeitlassen. Lassen jener Zeit, die nicht aus der Vergangenheit kommend eine Kette aus Schuld und Sühne knüpft, sondern die aus der Zukunft kommt und eine Nichtvollstreckung vollstreckt, als epoché jedes Urteil (nicht vergeltend, sondern vergebend) aussetzt und unaufhörlich alles Determinierte einer radikalen Bestimmungslosigkeit in ihrer Mitte öffnet.

Tillmann Reik

* Im ach, „dem Inbegriff klagenden Klangs“ klinge, nach Thomas Schestag, „die Klaglosigkeit der Klage an, oder nach, und nah.“ (Die unbewältigte Sprache, S.24)

 

 

Jean-Luc Nancy: Der ausgeschlossene Jude in uns

Gespaltener Doppelkomplex

1.

Zwei kompulsive Repetitionsautomatismen, einer verfolgt den anderen und dabei verfolgt vielleicht doch, in letzter Instanz, nur: ein Selbst: sich…

Mit einer schlichten, die banale schlechte Unendlichkeit — als Figur, die beim frühen Hegel selbst mit “dem Juden” intim verknotet ist — eines über 2200 Jahren währenden repetitiven Automatismus benennenden Feststellung

„Unablässig wiederholt sich der Antisemitismus.“ (21)

eröffnet Nancy seine komplexe Studie. Ein Buch, das auf der Suche nach zureichenden Gründen des mit „Judenhass“ wohl immer noch unzureichend übersetzten Phänomens zum Gründen und Instituieren selbst vorstoßen wird. Zum archein wie es sich im Akzident des sich von Griechenland herschriebenden Okzident kristallisiert. Zum prinzipialen onto-logischen Grund-Satz der Identität und dem Sprung und Riss in seiner Mitte. Ur-Sprung. Sodann zu dieser sich teilenden, wandernden, exzentrischen Mitte selbst.

Es handelt sich offenbar, bei besagter Unendlichkeit dieser Unsäglichklichkeit, so wird das Weitere darlegen, um einen in sich gedoppelten Wiederholungszwang. Soweit das zu verstehen ist, kann er als die aporetische, topologisch verwickelte Un-Figur eines von einer Spaltung ausgehenden Mechanismus der Auschließung einer Einschließung einer Ausschließung präzisiert werden kann. -Klusion eines das Ganze und dessen Bewegung einfassen wollenden Syllogismus. Wobei das Auszuschließende jenes wäre, was die Selbst-Einschließung zur autonomen Autarkie verunmöglicht. Was sich also, unablässig und ohne aufzuhören immer wieder anfangend, wiederholt, ist einmal und zunächst der Wille zur Ausschließung eines eingeschlossen Anderen — das Phantasma vom auszuschließenden Juden in all seinen Gestalten — als Verlangen eine inhärente Widersprüchlichkeit zu beseitigen. Dieser jedoch auf so komplexe Weise gebrochen und in sich widersprüchlich erscheint, das mit dessen Feststellung — der Konstatierung einer virtuell unaufdröselbaren Verknotung — allein noch nicht allzu viel gewonnen wäre. Gleichwohl wiederholen wird sich jedoch ebenso, ohne Unterlass, ein anderer Anfang, der Wille nicht zu wollen, das Ausschließen auszuschließen, mit dem Anfangen, das Schluß machen will, aufzuhören. Sind diese beiden Anfänge, in letzter Instanz, ein und derselbe? Die doppelnde Spaltung lässt sich auch ausdrücken als die Zweifachheit eines Gründens: der Selbstgründung gesellt sich ein konkurrierendes wie auch supplementierendes Modell zu: die Anrufung durch einen ganz Anderen, der in die Verantwortung ruft. Autonomie versus Hetero(auto)nomie.

Woher rührt in letzter Instanz — wenn man so weit kommt… — eine Konfiguration, die so komplex ist, so verdreht, um es mit der Ausdruckskraft dieses gewöhnlichen (banalen) Wortes zu sagen? (69)

Dieser nur aufgrund ihrer Dysfunktionalität funktionierenden Schließungsapparatur im Zentrum der Aufmerksamkeit verdankt die Untersuchung es hingegen gerade, Verwicklungen und Intrikationen nachspüren zu können, die sonst bei der Behandlung des Antisemitismus meist gedanklich notwendig ausgespart werden. Die ihrerseits exkludiert bleiben, sofern solche Untersuchungen bestrebt sind, nicht-widersprüchliche Erklärungen zu liefern für etwas, das mit dem Verhältnis zum Unterschied als Widerspruch gefasst selbst zusammenfällt. Mit einer nur als tragischer und zu beseitigender Widerspruch erscheindenden Erfahrung von Selbst-Differenz. Die Widerspruchslosigkeitsforderung nach logischer Konsistenz verfahrender Begründungen hat womöglich an dem zu untersuchenden Problem eines gewissen sui-adversiven Auto-Exorzismus, einer überschießenden Autoimmunreaktion eines Selbstschutzes gegen sich als Anderes, schon Teil. Müsste insofern mit in die Überlegung hinein genommen werden.
Das Phantasma vom auszuschließenden Juden jedenfalls scheint alles andere als bloß unliebsamer Auswuchs der in ihrem festen Fundament freiheitlichen abendländischen Kultur und Zivilisation, welche mit der Kontra-Repetierung einer antifaschistischen Litanei (27) — ein zweiter Wiederholungszwang gegen den ersten Wiederholungszwang — in Zaum zu halten wäre. Eine solche, die den Faschismus des 20. Jahrhunderts zum absolut Bösen stempelt, um das Problem zum eingrenzbaren Phänomen auszufällen, in Quarantäne nehmend zu isolieren, und von weiteren Nachfragen über dessen Fortleben noch in diesem Anti- einer Welt, die offiziell in ihren Grundlagen vom Faschismus sich befreit zu haben vorgibt, zu dispensieren.

Der unablässigen Wiederholung des Antisemitismus und seiner Banalisierung einher geht also eine andere banalisierende Wiederholung, die ihn jagd, verfolgt und, durch ihr Anti- auf erschreckende Art in ihn verwickelt bleibt. Wenn nicht, ihn subtil fortschreibt.

Diese umgekehrte Banalität, die darin besteht, die Faschismen (oft zusammen mit anderen “totalitär” genannten Herrschaftsformen) zum absolut Bösen zu stempeln, scheint in ihrer unablässigen Wiederholung auch als Garantie einer Gutmenschlichkeit zu fungieren, die nicht weiter nachforschen will. “Weiter nachforschen” bedeutet hier: nach den Bedingungen der Möglichkeit zu fragen, die von den Demokratien und von der Kultur oder Zivilisation für dieses brutale Geschehen geboten wurden. Sich zu fragen, ob es vom Himmel gefallen ist (oder vielmehr aus der Hölle) oder ob es nicht seine Einbruchsstellen in den Mängeln der Demokratie, des Humanismus, des Technizismus oder des Ökonomismus fand. (26)

Der Antisemitismus ist somit vielmehr dem Abendland, seinem „Herzen der Finsternis“ inhärent und für dessen Selbstbezug — für dessen Willen zum konsistenten Selbst — bis in die Verfassung des psychischen Apparat eines jeden, zentral.

Das führt uns zu der Frage, oder dem Verdacht, ob nicht der Judenhass mit der Entstehung des Okzidenz selbst verbunden ist. (27)

2.

Es erfolgt die Eröffung durch die zitierte Wendung jedoch erst, nachdem zwei für die deutsche und amerikanische Ausgabe bestimmte Vorworte den Antisemitismus als ein zunächst nicht nur europäisches, sondern abendländisches Grund-Problem (oder Problem mit dem Grund und Gründenen), ein Problem des sich globalisierenden Westens zu dem auch Amerika gehört, markiert haben. Zu einem Problem also einer sich universalisierenden Welt-Zivilisation, von der auch Russland, Japan nicht ausgenommen sind. Wenngleich immerhin doch die Entdeckung der “neuen Welt”, und ihre Zweiteilung, dem Selbstverständis ihrer sie besetzend-besiedelnden Bewohner entsprechen eine Zäsur bedeuten soll und das Phantasma eines neuen, unabhängig sich erklärenden Anfangs in die Welt bringt, die den neuen Kontinent zugleich als etwas anderes denn eine blosse Expansion Europas dastehen lassen wollte. Etwas anderes also als jenes Europa, das seine Staatsgründungen noch im Schatten Roms inszeniert. So gilt es dementsprechend

den Begründungscharakter dieser Unabhängigkeiten hervorzuheben. Der Akt der Trennung von den Staaten Europas ist untrennbar verbunden mit einem Gründungsakt: eine andere Geschichte beginnt. Was auch immer die Unterschiede zwischen Unabhägigkeit der “Dreizehn Kolonien” und den nachfolgenden sein mögen, sie sind anderer Natur als die europäischen Staatsgründungen. (13)

Mit einem sich explizit aus göttlichem Recht gründenden Amerika habe diese eine Alterität als Legitimation anrufende Selbstgründung im bestimmten Sinne mit der Gründungsgeste Roms gebrochen und weise in dieser Hinsicht mehr Ähnlichkeit auf mit der jüdischen Vorstellung als der christlichen. (14)

Und dennoch: da die Shoa aus dem Herzens Europas hervorgegangen ist, gelte es, ihren Ursprung ebendort zu lokalisieren und analysieren.So gilt den Ursprung einer Weltordnung zu denken, die sich archäeoteleologisch und entelechisch entwirft und mit einem Streuungs-Geschehen sich konfrontiert sieht, das diesen Willen zur Versammlung unablässig bricht und die Perfektibilität verdeutlicht, die allein einer Vollendung einer Endlosigkeit vorbehalten scheint.

3.

Es handelt sich im Kern ihrer Analysen um eine Arbeit, die ein bereits in Banalité de Heidegger für die Ausarbeitung des Problems des Judenhasses bedeutende Rolle spielendes Motiv wieder aufnimmt und weiterführt. Dort lautet die sich auf Überlegungen von Lacoue-Labartes La Réponse d’Ulysse berufende, und sodann antwortend bejahte Frage: Lässt sich dergleichen wie ein „haine de soi de l’Occident“ denken? Und zwar als etwas diesem sich als Philosophie instaurierenden universalistischen Welt-Denken selbst Inhärentes und für es Konstitutives? Ein Selbsthass also, rancoeur, Groll, Grimm, einer europäischen Kultur, der in dem Zorn und der Verzweifung des Abendlandes besteht, insofern es sich in sich selbst gründen und seiner Konsistenz versichern will und dieses entscheidendste Können aller Können — es selbst und ganz bei sich zu sein — doch aus strukturellen Gründen nicht vermag? Zumindest dies doch nur erreicht, indem es ihm stetig mißlingt. (Die Diagnose Nietzsche von der Krankheitsgeschichte des Ressentiments ist nicht weit.) Was eine nach allen Richtungen hin offene Geschichtlichkeit der Schickungsirre ermöglicht, aber die ihr inhärente auf vervollkomnenden Abschluß drängende unidirektionale Teleologie und Soteriologie doch unablässig enttäuschen und vor den Kopf stossen muss. Heideggers Fundamentalontologie, schon in Sein und Zeit, da sie sich diesen Titel selbst noch verlieh, im Begriff, sich zur einer Anontologie des Affundamentalen freizusetzen, wäre in seiner süchtigen Suche nach dem anderen Anfang diesem Groll jener Arche zumindest zuzeiten seines von Lacoue-Labarthe Archi-faschismus genannten sublimierten Hyperfaschismus anheimgefallen. Dem Groll jener Arche als deren Kult er Metaphysik doch erkannte. Und umwillen eines Anderen — nicht mehr anderen Anfangs, sondern etwas anderem als eines Anfangs — abzubauen gedachte. So heisst es im früheren Text Nancy, Banalität Heideggers:

Heidegger konnte wissen, welche Falle die Sucht des Anfänglichen oder des Ur- birgt. Er musste es wissen. Sein Denken hat es impliziert. Aber in der Gewalt des Paradigmas des Anfänglichen verdeckte der alte Selbsthass, der Groll des Abendlandes gegen sich selbst, fortdauernd dieses Wissen.

[…]

Von Groll zu sprechen ist vielleicht richtiger als von Hass (gemäß der bekannten Figur des “Selbsthasses”, die gleichzeitig sehr nahe liegt). Groll bezeichnet das verbitterte und wütende Gefühl, Opfer einer Ungerechtigkeit oder falschen Versprechung geworden, getäuscht oder abgelehnt worden zu sein. Vielleicht ist das ganze Abendland von Anfang an infiziert von Groll gegen sich selbst, und zwar in genau dem Maße, wie es sich eine Vollendung versprochen und bis in unsere Zeit nicht aufgehört hat, sich zu versprechen — eine Vollendung der Natur, des Menschen, des Staates, der Gerechtigkeit oder des Wissens. (Banalität Heideggers, S.50)

Folglich muss also, für den Selbsthass — diese böse Banalität — Gründe haben, dass das vom götzendienerischen Mythos und den alten Autochthonien sich abstossende, autonome, autarke Gründen Griechenlands auf Prinzipien, dem einen Prinzip: der arché eines Zusammenhang stiftenden logos, nicht (ganz) gelingt, und somit, da es um dieses Ganze geht: gar nicht. Dass es sich verliert, fragmentiert, schief läuft, nur auf diese Art läuft. Und diese Gründe für das Mißlingen des Gründens können nicht länger in einem Außen zu verorten sein, weil Okzidentalität sich als Weltlichkeit selbst globalisiert und kein ihr anderes mehr denken kann und will. Sondern die Gründe, bzw. der eine Grund für das Scheitern des Grundes, müssen in einer Verderbnis liegen, die das ansonsten doch so Heile oder die zumindest zum integeren Ganzen berufene, potentielle Intaktheit unterminiert, aus dem innersten Inneren heraus zersetzt. Unser Unglück, ein anderer Name für es, wird in einer radikal mimetischen Figur der absoluten Uneigentlichkeit, der Eigentlichkeitsverhinderung durch bloße Eigentlichkeitssimulation ihre Repräsentation finden. Dem Juden, den Juden, dem Jüdischen.

Dies macht den von vornherein als abendändisches Phänomen im Ganzen in Erscheinung tretenden Antisemitismus, der für Nancy nichts anderes als ein anderer Name für diesen Selbsthass darstellt, seit 20 Jahrhunderten zu etwas von bloßer Xenophobie entscheidend Verschiedenem. Er hat zu kämpfen mit der ungreifbaren Verschiedenheit selbst, und zwar: in sich.
Während nämlich der genuine (gewissermaßen native) Fremde Angehöriger einer anderen Volksgruppe ist, die sich, selber distinkt konturiert nach identischen Formationsprinzipien, klar von der eigenen abgetrennt werden kann, steht „der Jude“ als Chiffre für ein die Selbstidentität des gesunden Volks- oder Geschichtskörper als solche befallenes Übel im Inneren. Steht für einen Fremdkörper und autoimmunitären Schädling, der selbst keine Zugehörigkeit kennt (sich nachgerade von aller Zugehörigkeit zu Volksgruppen — goyim — und ihren Institutionen exkludiert), es sei denn die Zugehörigkeit zu einer Ungruppe der schlechthin Unzugehörigen. Allenfalls in der Lage teilzuhaben (oder böswillig: parasitieren) stellt er die Möglichkeit von Konsistenz und Identität wie sie sich tribal-stammesgesellschaftlich oder später nach dem Bilde der polis, der civitas synthetisierenden und konstituieren will, selbst in Frage und unterminiert sie. Genauso wird die Möglichkeit — die Rolle, die der Jude bei der Konstruktion der hegelschen „schlechten Unendlichkeit“ und dem „unglücklichen Bewusstsein spielt ist untersucht — das eine Bewegung sich sättigt und glücklich in sich selbst zurückrollt, ihre Bestimmung erfüllt, ein Schicksal ist, radikal sabotiert.

„How can everything start with a complication?“ hatte Derrida gefragt. Nancy nun konstatiert eine Spaltung im Ursprung, den Ursprung als Spaltung, innerer Zwist, Widerspruch, Zerissenheit (8,11) des Abendlands als Selbst und sieht in diesem Spaltung-Ursprung, dieser Ursprungs-Spaltung den Ursprung des Selbsthasses als Antisemitismus als einer Banalisierung von Steroptypen:

Die besagte Banalität ist keineswegs entschuldbar — im Gegenteil. Ihre Existenz zeugt von einer Banalisierung, das heißt: von einer der Trägheit geschuldeten Akzeptanz von Stereotypen, die einem unergründlichen Hass entsprungen. (22)

Grund für den Antisemitismus als unergründlichem Sebstthass einer ganzen Kultur und Zivilisation ist der Riss im Grund. Grund für den Hass ist der Ungrund.

4.

Wie genau lässt sich eine derartige Spaltung aber verstehen, bei der es sich um den Ausschluß eines Einschlusses handeln soll und von deren In-Rechnung-Stellung Nancy sich einen tiefgreifenden Wandel verspricht?

Denn die Notwendigkeit eines solchen Wandels wird immer wieder betont und es ist schwer zu glauben, dass dieses Erfordernis nur eine weitere Aufklärung über die Aufklärung meinen könnte und nicht vielmehr doch eine Konversio, eine Bewusstwerdung voraussetzt, die fernöstliche Heillehren wie Psychoanalyse auf den Plan rufen, weil eine andere “Lösung” gesucht wäre, die nicht bemächtigen will, sondern sich einer gewissen Dissolution zu übereignen vermag.

Dieser Zwist, dieser Widerspruch, diese Zerissenheit und dieser Hass hat Europa nicht nur nicht losgelassen. Es wird nach wie vor davon heimgesucht, auch in der völligen Ernüchterung über sich selbst. Der Mut verflogen, nicht der Hass. Man darf vermuten, dass es ihn nicht wieder finden wird, wenn es sich nicht von diesem Hass freimacht. Aber der Wunsch genügt nicht. Es genügt nicht einmal der Wille. Es bedarf wohl einer tiefgreifenden Veränderung dessen, was wie “abendländische Kultur” oder “westliche Zivilisation” nennen.

[…]erst wenn wie die “geschichtliche” und “geistige” Bedeutung einer Aversion erkennen, die den gesamten Gang unserer Geschichte begleitet, können wir vielleicht in diesem Gang einen Wandel einleiten, der so tiefgreifend wie der ist, aus dem er hervorging. (67)

Besteht das Ausgeschlossene im Innen dieser gar nicht so sehr einfachen Spaltung as vielmehr vielfältig verwickelten Komplikation — vielleicht der Reflexivitätsbemühung einer Irreflexvität — genau in jenem, was sich selbst ausschließt, also der Verfügbarkeit entzieht? Sofern das Eigene und seine ersehnte Selbstheit alles ausschließt (und damit einschließt), dem es sich verdankt: Uneigentlichkeit, Widersprüchlichkeit, Abgründigkeit, Grundlosigkeit also Gestalten einer Aporie, die als solche sich gerade entzieht, wie könnte mit diesem die eigene Schließung anstrebenden Ausschließen Schluß gemacht werden zugunsten einer Öffnung eines Anfangens, das nicht aufhört stets neu anzufangen; das nur aufhört, um neu anzufangen und zunächst nichts Bestimmtes sondern dieses Anfangen selbst neu und anders fortzusetzen? Nancy scheint keinen Zweifel zu lassen, dass es ihm um ein Schluß machen, mit einem gewissen Schlußmachen zu tun ist:

Artaud wollte Schluss machen mit dem Gottesgericht: um mit ihm Schluss zu machen, müssen wir Schluss machen mit dem Antisemitismus — mit dem mörderischen Gegeneinander wie auch mit dem tödlichen Miteinander, in Gott, der zwei Prinzipien von Autonomie und Heteronomie und dem Krebsgeschwür ihrer Konfrontation.

Wir müssen Schluss machen mit den Prinzipien, mit dem Prinzip, auf Prinzipien (“Ursprünge”, “Naturen”, “Subjekte”) zu vertrauen, weil es prinzipiell ausschließend, austreibend und vernichtend ist. Es ermöglicht, zusammen mit dem Antisemitismus, jede Art von Rassismus. Unsere Kultur ist nur rassistisch geworden, weil sie dazu den Keim in sich trug. Aber sie ist im Begriff, sich von der Idee der “Kultur” selbst auszuschließen, was alles erwarten (oder erhoffen) lässt. (76)

Schluss machen mit dem Prinzip, auf Prinzipien und gründende und begründende Gründe zu vertrauen, hieße wohl auch, denn es soll das Programm einer Archäoteleologie durchbrochen oder von diesem abgerückt werden, dem das sich globalisierende Abendland bis heute folgt, einmal mehr, Schluss machen mit dem Schlussmachenwollen, mit dem Endlösen, wodurch sich das Schließen schließlich fortsetzt und als Akt verkennt. Mit einem nur vermeintlichen Vertrauen zu brechen, was deswegen keines ist, weil es Absicherungsinstanzen installiert, um das Mißtrauen, das es ist, zu betäuben. Während was nicht mehr in Prinzipien und letzte Gründe vertraut und sich also auch nicht mehr mit einem Versicherungsunternehmen verwechselt, der rückhaltlosen vertrauensvollen Hingabe entsprechen müsste, die Nancy bereits in seinen Büchern zur Dekonstruktion des Christentums als jenen emphatisch anarchischen Glauben konturiert hat, der aller Religionshaftigkeit, wo sie in Heilsökononomie verwickelt und sich in der Observanz vorgegebener Präskriptionen erschöpft, heterogen bleiben muss. Weiter könnte es erfordern, wie Nancy in einem zusammen mit einem Astrophysiker verfassten Buch der die Kosmologie dekonstruierenden Pluri- und Multiversen des frei übersetzten Titels “In welcher Welt leben wir eigentlich?”, nahelegt, eine Haltung des Sich-Versenkens ins Chaos und die Unordnung, sich aufmerksam Einlassen auf eine Streuung, statt der wütenden Bündelung und Zusammenfassung, der ordnenden Domestifikation sich zu verschreiben, welcher die Dispersion nichts als ein Ärgernis ist, das es immer wieder, und eines Tages hoffentlich gänzlich, zu beseitigen trachtet.

Es ginge, mit nochmal anderen Worte, vielleicht darum, die Gewahrung nicht zu vergröbern, sondern die diffizilen Subtitlitäten eines denkenden Innewerdens bis zur äußersten Präzision ihrer irreduziblen aporetischen Impräsizion zu verschärfen. Das heisst, sie zu teilen und sondern bis auf die Sonderung selbst. Auf diese sich teilende Mitte hin fokusieren, in der das Eigentlichste des Eigensten in einem Bruch (Aufbruch, Auseinanderbruch) liegt, in einer mit sich selbst nicht identischen Differenz. Was dem ergründenden Blick also in äußerster Nahsicht in den Fokus rückt, erweist sich als so bestimmungslose wie grundlose Abweichung. Der andere Anfang einer sich in ihrem Irrgeschick bejahenden Anarché ohne allen Grund. „Sine fundamento, sine culpa et causa.“

Tillmann Reik

François Laruelle: General Theory of Victims

Radikal verletzliche Letztlichkeit: Paraphrasen zur Philosophie und ihren Opfern

We pursue a more rigorous and more „human“ theory than philosophy usually pursues, devoted as it is to the cosmos and to being, to the sciences and to the gods. A certain theoretical practice is capable of itself being the „compassion “ philosophy scarcely shows. (6)

We have another idea of style. Style is the imitation of the real and not reality, style alone has the right to be“specular”or uni-specular without being a reflection or mirror, just a uni-side [uni-face] (of) the One. The real itself does not have this right, but its unifaciality is woven from the heterogeneous methods and processes taken from reality, hence its baroque character. It is a fiction which is as rigorous as possible considering its initial axioms.The art of the fluidly imprecise [l’art duflou], of the “wave” or “vague,” of the echo and resonance, of the orphaned amphi-biology of Logos, forms a rigorous sub-rationality within its order but which is certainly not a return to the old case of nihilism. (Laruelle, Philosophie non-standard, 477)

But we are looking for a thinking that, however inventive it is, is the action of a non-acting, an anti-activist wager, a per-formation without performance, how can we“weaken”the excess of action and its decision? (Philosophie non-standard, 222)

1.

„Solange Einzelne geopfert werden, solange das Opfer den Gegensatz von Kollektiv und Individuum einbegreift, solange ist objektiv der Betrug am Opfer mitgesetzt […]. Jedes Opfer ist eine Restauration, die von der geschichtlichen Realität Lügen gestraft wird, in der man sie unternimmt. Der ehrwürdige Glaube ans Opfer aber ist wahrscheinlich bereits ein eingedrilltes Schema, nach welchen die Unterworfenen das ihnen angetane Unrecht sich selber nochmals antun, um es ertragen zu können. Es rettet nicht durch stellvertretende Rückgabe die unmittelbare, nur eben unterbrochene Kommunikation, welche die heutigen Mythologen ihm zuschreiben, sondern die Institution des Opfers selber ist das Mal einer historischen Katastro- phe, ein Akt von Gewalt, der Menschen und Natur gleichermaßen widerfahrt. […] Auf einer Stufe der Vorzeit mögen die Opfer eine Art blutige Rationalität besessen haben, die freilich schon damals kaum von der Gier des Privilegs zu trennen war. (…] Die vielberufene Irrationalität des Opfers ist nichts anderes als der Ausdruck dafür, daß die Praxis der Opfer länger währte als ihre selber schon unwahre, nämlich partikulare rationale Notwendigkeit. (…] Alle Entmythologisierung hat die Form der unaufhaltsamen Erfahrung von der Vergeblichkeit und Überflüssigkeit von Opfern“ (Horkheimer/Adorno 1988, S. 58 ff.).

Täter machen (zu) Opfer(n), weil sie, tuend, Male zufügen. Und, sei hinzugefügt, wo also das zufügende Tun und Machen, die Tat und die Produktion im Spiel sind (wo nicht? wo nicht nicht?) und gesellschaftliche Interaktion zum perpetuierten Ernst eines immer schon virtuellen, und oft genug schmerzhaft aktuellen, Kriegs-Spiels sogenannter konkurrenzkapitalistischer Aneignungskämpfe werden lassen, ist das Opfer, scheint es, nicht weit. Und in seiner tragenden Funktion unverzichtbar.
“Viktimisierung” firmiert als Branding einer Debatte über die rechtmässige Benutzung des Begriffs “Opfer” und ist in den Massen-Medien öffentlicher Diskursmärkte seit den 90er Jahren in aller Munde. Zum Opfer werden oder geworden sein gilt — trotz der Erfahrungen, die nach dem Ende des zweiten Weltkrieges diese Debatte mitangestossen hatten und ihre Folie bilden — als eine, wenn auch zu häufig anfallende, bedauerliche Ausnahme, deren Vorkommen exekutiv sanktionierend ein Riegel vorgeschoben und deren Vorgekommensein ökonomisch entschädigt werden kann und muss. Deren Grundlage als solche in der Betriebsamkeit ihrer Procederes aber nicht belangt werden soll. Umso mehr gilt es darum, zu kontrollieren, was und wer als Opfer gelten und als solches, zur Bemitleidung, ausgestellt werden darf und wem das zu verwehren ist. Selbstviktimisierung muss demzufolge zur Sicherung der richtigen Rechtsansprüche unter anderem, aber allem voran, den Ruf haben, ein perfides inflationierendes Laster zu sein. Denn insofern es sich auf Erschwindlung eines Status verlegt, der ihm von Rechts wegen nicht zu kommt, begeht es das Delikt einer Erschwindelung. Sich selbst zum Opfer eines Unrechts machen (wo doch nur andere einen dazu machen können, die welche etwas antun, und jene die dieses Angetane in seinem Status anerkennen), sei illegitim. Zum Täter einer solchen Inszenierung zu werden, die sich Vorteile und Privilegien durch die Behauptung einer Benachteiligung verschaffen will und mithilfe dieser Tat die anderen zu Tätern im nicht mehr “guten” Sinne subjektiver konkurrierender ins Werk setzender Tathandlungen macht, sondern diese tätige Sich-Durchsetzen, zu dem die Gesellschaft ermutigt und ermuntert, weil sie sich auf ihm gründen will, selbst als virtuelle Un- und Missetat erscheinen lässt, kann und darf im moralischen Bereich — dem umschriebenen Distrikt der Sicherstellung guter Taten — keine Bonität genießen. Denn er macht, sich zum Opfer machend, Unschuldige zum Opfer seiner Täter-Titulierung.
Weil sie derart eine Verdrehung, Verkehrung oder Kollabierung jener binären Hierarchie bewirken soll, auf deren einzuhaltender digitaler Zweiwertigkeit die Gesellschaftsordnung beruht — eine Ordnung aus klar von Tätern zu scheidenden Opfern — muss sie — diese Torsion oder Perversion der Selbstviktimisierung, verworfen werden. Muss verfemt sein, vor dem Hintergrund, dass diese Vertauschung und Verwechslung unablässig konstitutiv stattfindet. Opfer/Nicht-Opfer oder Opfer/Täter: produziert diese binäre Algorithmik, ausgehend von einem primären Dezisionismus, nicht ihrerseits Opfer, die in der Rechnung und den Rechenschaftsberichten nicht auftauchen?

2.

Opfer….La victime, das Wort, bedeutet dabei nicht nur Opfer, sondern Verletzer und Geschädigter. Im heutigen französischen Sprachgebrauch: Leidtragender und im juristischen Sinne der Viktimologie, Teildiszplin der Kriminologie, Opfer eines Verbrechens oder einer Straftat, die sich in erster Linie als Verletzung der Rechte der geschädigten Person versteht. Hier im Besondern die Verletzung der Nicht-Benachteiligungs-Forderung. Wird dieser Status anerkannt, entsteht ein Anspruch auf Entschädigungsleistungen:

“Voraussetzung für Leistungen nach dem bundesdeutschen Opferentschädigungsgesetz ist eine „Viktimisierung“, nämlich die Feststellung, dass ein Antragsteller „Opfer“ im Sinne des Gesetzes ist. “

“Als Viktimisierung wird von Juristen auch die ungerechtfertigte Benachteiligung von Menschen, die Klage gegen ihre Ungleichbehandlung eingereicht haben, bezeichnet, sofern die geltend gemachte Schädigung als „Diskriminierung“ anerkannt wird. Die vier Anti-Diskriminierungs-Richtlinien der EU verbieten diese Form der Viktimisierung (Antirassismusrichtlinie Richtlinie 2000/43/EG, Rahmenrichtlinie Richtlinie 2000/78/EG, Genderrichtlinie (2002) Richtlinie 2002/73/EG, Genderrichtline (2004) Richtlinie 2004/113/EG). “

Die Überzeugung, Conviction, das Wort fände, in der Bedeutung, der Besiegte, seine Wurzeln im Gewinnen — vincere — hat etymologisch nicht den Sieg davon getragen. Wenngleich Ovid in seinen Fasti Überlegungen anstellt, die darauf hinauslaufen, dem “victum” seinen Namen aus der Tatsache seines Gefälltwerdens von der siegreichen, rechten Hand des Victors herzuschreiben.

victima quae dextra cecidit victrice vocatur*1

Für wahrscheinlicher jedoch gilt eine indoeuropäische Wurzel, die auch dem “Weihen” seinen Namen schenkt: eine Gabe für die Gottheit, was die sakrifiziellen Wurzlen der abendländischen Opferkultur in ihrer onto-theo-teleo-technologischen Verfassung brachlegt. Jener Kultur, die einer nicht untrifftigen Hypothese nach auf einer Tauschgesellschaft des quid pro quo und do ut des gründet. Insofern mutet eine weitere Hypothese zur Herkunft des lateinischen Wortes victima ebenfalls plausibel an: die, welche in ihm einen Verwandten von “vicis” sieht. Jenen vitiös kreisenden und lasterhaften Wechsel und Tausch, in dem das Eine das Andere ablöst und als die zweite Seite des Selben stellvertritt.

3.

Allen positiven Definitionen zum Trotz wissen wir jedoch, so jedenfalls Laruelle, bestimmt, in letzter Instanz und mit letzter Autorität, nicht, nicht zureichend begründet jedenfalls — denn jedes Zuviel an positiver Bestimmung wäre hier ein Zuwenig, weil es die Opfer dieser Bestimmung von Opfer und nicht Nicht-Opfern — das, was stellvertretend-vikarisch als übrigbleibender Rest um der Erwirtschaftung des definitorischen Resultats Willen dran glauben und unter den Tisch fallen muss — selbst nicht erfassen kann — was ein Opfer ist. Sonst hätten wir, wüssten wir es, über es gesiegt, oder es zu einem Sieg umgewendet. Was da bleibt, ist hingegen nicht in einfachem vice versa das Opfer als Sieger, victor quia victima, sondern etwas um Sieg und Niederlage gänzlich Unbekümmertes, diesen Kategorien Fremdes. Auf dieses und auf dieses gewisse Unwissen von ihm und seine Unverortbarkeit wäre eine generische Ethik zu gründen:

It is a question of founding ethics on the unlocalizable and sometimes unidentifiable victim rather than on the metaphysical or philosophical force that took him for profit or loss. This would follow a movement of thought begun, for example, by Levinas (Humanism of the Other), and would better agree with our experience of the past century and draw out its consequences. (5)

Wissen wir, abgesehen von philosophischen Definitionen, die sich seiner bemächtigen wollen, was ein Opfer ist, zwar nicht, spüren wir es vielleicht, letztlich, jedoch. D.h. entnehmen es, ohne zu wissen, was das ist, dem gleichsam unmittelbar sich mitteilenden einer non-thetischen, non-reflexiven transzendentalen Empirie. Damit ist gemeint, dem Realen der “gelebten Erfahrung”, des Erlebnisses — le vécu — habe sie auch die — vom Standpunkt philosophischer Non-Kontradiktionalität und logischer Konsistenz aus betrachtet – aporetische und inkonsistente Gestalt einer immer latent traumatischen Erfahrung der Unerfahrbarkeit. Erfahrung der Ohnmacht und Unmöglichkeit. Dem schieren Statt-Haben ausgesetzt ist diese gleichsam gnostische und proto-häretische Erkenntnis der dritten Art. Sei sie also die Erleidnis, passio (sowohl Freud wie Leid, Schmerz wie Lust), Handeln des Nicht-Handelns, eine Erfahrung der Aporie und Aporie der Erfahrung: Schwäche, die eine andere seltsam alles bestimmende Kraft zu sein scheint. Auf die Verhör-Frage ontologischer Ermittlung, “Was ist das?”, Interrogation und Inquisition, bliebe eine Antwort, die sich dem Opfer weiht, nicht über es urteilt, sondern ihm gemäß denkt mit Kompassion und ohne Bemitleidung, und es nicht ein weiteres Mal opfern will, in bestimmter Hinsicht notwendig aus, versagte, hielte sich in der Schwebe oder setzte sich in Klammern. Epoché. Eine Auskunft hingegen, die sich in der Verlegenheit über die Fraglichkeit, von der aus sich die Frage stellt und letztere noch mit in sich hinein zieht, nicht zu halten versteht und mit Prädikationen und Urteilen aufwartet, opfert das Opfer erneut, siegt über es und hat somit zugleich nicht geantwortet. Nicht verantwortlich geantwortet. Gefordert scheint mithin eine aktive Zurückhaltung.
Obzwar sich in der Verquickung von operari und offere, auf die das Wort “Opfer” zurückgeht, anzeigt, dass eine im Rahmen des reinen Tuns und Wirkens geleistet Darbietung und Abgabe an eine Gottheit, welche die Welt der Arbeit und der Tat und ihre tauschgesellschaftliche Ökonomie der reziproken Schuld und Schulden, wechselseitiger Oblilationen, als eine des Bezugs auf eine ideale, hierarchisch übergeordnete Sphäre erkennen lässt, im Spiel ist. Eine teleo-theologische Welt, in der beim Wirken für den guten Gott oder die gute Sache (des Allgemeinen als Zweck und Ziel, der alles als Mittel in seinen Dienst nimmt) anfallende Kollateralschäden des Partikularen unvermeidlich sind und nicht nur zur Tagesordnung gehören, sondern gleichsam die conditio sine qua non allen Funktionierens abgeben. Sie wäre, diese Welt und die sie unterfütternde Philosophie mit ihrer humanistischen Anthropologie, gerade an ihrem Zuviel an Suffizienz als radikal insuffizient zu erkennen, hinsichtlich nämlich des Wichtigsten: der Verteidigung und Parteinahme für das “Menschliche,” vor allem Begriff. Vor allem Humanismus philosophisch-anthropologischen Zuschnitts. Generische Menschlichkeit des Menschen als Gattungswesens (Marx) wäre das, was die Allgemeinbegriffe vom Menschen und der Menschheit ihrerseits schon voraussetzen.

Philosophy has become insufficient – it had to recognize or deny this – through an excess of “ sufficiency “ to ensure that which seems to us to be the first task of an ethics : the defense of humans divided up or divided against themselves. (20)

Es bleibt jedoch unbestimmt, von dieser Unbestimmbarkeit letztinstanzlich bestimmt und der Ordnung des Wissenwollens (als Können) letztlich entzogen, was sich als solches den diversen ins Werk setzenden Operationen handelnder Täter und Töter, die etwas, wenn auch “nur” Thesen, antun und beifügen, als potentielle Schädigungsempfänger immer schon offeriert. Philosophie und ihre intellektuellen Vollstrecker mögen es als Thema verfolgen, aber dabei radikal verfehlen. Das Opfer, victima, bleibt das Ungedachte der als reine Unschuld vorurteilsfreier zureichender All-Reflektierbarkeit sich inszenierenden Philosophie schlechthin, sofern es alle Verfolgung, alle konsequente Persekution von Fragestellungen als von diesen Vorausgesetztes ermöglicht und zulässt, wenn nicht dazu einläd. Wir wissen vielleicht deshalb nicht, mit zureichendem Grund, was ein Opfer ist, weil das Opfer der unbegründeten Unzureichendheit, der Unfertigkeit und vielleicht schlechthinnigen Impotenz anderer Name ist. Und diese vikarisch-viktimarische Unzureichendheit die unilaterale letztinstanzliche Bestimmung bleibt. Reine endliche Letztlichkeit (und: kann man sagen: Lässlichkeit, Lässigkeit und Losigkeit), die schwache und durch diese Schwäche resistente Kraft einer determinierenden Un-, Unter- und Indetermination, deren einer Name “Opfer” lauten könnte.

4.

Indem Francois Laruelle in seiner Allgemeinen Theorie des Opfers in idiosynkratischer Signatur die alle Allgemeinverbindlichkeit aus den Sphären universeller Allgemeinbegriffe in die Dimension des unterdeterminierenden Generischen umlenkt und das Opfer als das schlechthin Humane dieser humiden radikalen Unterdetermination einsenkt, versucht er mit Mitteln seiner generischen Wissenschaft der Non-Philosophie, etwas zu vermeiden: Dadurch nämlich, dass bestimmt würde, wer und was ein Opfer sei, wem das Recht auf diesen Status zukommt und wem es verweigert werden muss — die dialektische Digitalisierung in Opfer und Nicht-Opfer — diesem, qua definitionem die Gewalt ein zweites Mal anzutun. Um die radikale Unbestimmtheit des Opfers,das Menschliche selbst und in Person, dieses — vom Stanpunkt der Suffzienz aus — Kenotische, diese Vakanz und Vakuität zu wahren gilt es also gleichsam asketisch einen Verzicht zu üben, der sich zum Verzicht eines Verzichts verdeutlichen lässt. Es geht, ganz einfach, darum, jenen Verzicht, der im Opfern besteht und womöglich die sakrifzielle Struktur unserer Kultur gefangen in einer Dialektik von Herr und Knecht, Täter und Opfer, bestimmt, zu unterlassen.

Seine mitunter recht harschen Rügen des nicht im Dienste des Menschlichen sondern idealistischer Werte und Zwecke stehenden, engagierten Medienintellektuellen gründen sich denn auch auf eben diese Diagnose: der überexponierte, überrepräsentierte Intellektuelle (Sartre sei sein klassisches Beispiel, aber Zolas “J´accuse” hat das Paradigma vielleiht begründet und Badiou fungiert als zeitgenössische Zielscheibe) unter der Flagge einer (wenn auch verwässerten Philosophie) opfert im Scheinwerferlicht der plusquam-präsenten Phänomenalität das Opfer, in dem er, seinem Narzißmus frönend, diesem selbst zum Opfer fallend,

Derrida, for example, says that narcissism pursues us to death. (102)

der die Arbeitsteilung “Die einen leidend, die anderen reden darüber und prangern es an” freudig bejaht, das Opfer selbst opfert.

But the embedded intellectual in fact orbits around power (which he must seduce to be able to limit), rather than around victims, whose defense becomes a pretext for the exercise of the intellectual’s narcissism. (54)

Was opfert er dabei, selbst dort und gerade, wo er es, mit besten Intentionen, einem idealisierenden Erinnerungskult einverleibt und als Opfer verewigt? Wohl doch die radikale Bestimmungslosigkeit eines X, die -barkeit dieser generischen Menschlichkeit selbst, welche nicht als über- sondern irreduzibel unterdeterminiert zu denken wäre. Als radikale Fremdheit und Sonderbarkeit — strangeness. Durch das Herauszerren seines Entzugs in die Überrepräsentation und -ausstellung des medialen Zirkulations-Zirkus wiederholt sich jener Verrat, der das Opfer zum Opfer macht und je schon gemacht hat.

Anstellle solcher Intellektualität zu treten hätte, so kann man Laurelle ablauschen, eine generische Intellektualität der Imitation viktimarischer Generetizität. Es bedeutet, Unterrepräsentation und -exposition, Unterbestimmtheit seinerselbst als Clone dieser determinierend-unterdeterminierenden Letztlichkeit gleichsam zu “kultivieren”. Die, letztlich, radikale Bestimmungslosigkeit zu retten hieße dann, in einem Denken gemäß (selon de, according to) dem Realen, der Desidentifikation und De-Indivuation sich zu überlassen. Ihm entlang und in Anschmiegung an es. In Mimikry und Mimesis seiner Syntax, die am ehesten als eine A-Taxis oder Anataxis zu beschreiben sein dürfte. Oder gemäß einer Identität, die sich nicht als logischen Syllogismus sondern als quantentheoretische Superposition, der Überlagerung unzählicher möglicher Zustände (auch einander auschließender) zu verstehen gibt. Und so zu denken und schreiben bedeutet eine radikale Um-Orientierung des vom epistemologischen Automaton beherrschten Denkens. Umorientierung zur Anschmiegsamkeit an eine fraktalisierte Desorientierung.

When it is understood that philosophy is a rational mythology become indispensable and planetarily hegemonic, a thought that never admits to being outdated [depassee] because it is racing ahead [depassante] , that it is made to resist all counterexamples and refutations as if it were a reasoning and perhaps rational hallucination, that it is the argued system of its own self-defense like a belief impervious to the doubt it brings about, that it is its own protestation of good faith and of its love of truth, then it is no longer necessary to bother with an internal auto-critique or an external hetero-critique, such as undertaking to limit its sufficiency to a precise point, arguing indefinitely against it for the right to treat it with a certain local exteriority, as do materialisms. (22)

Last and least, after all is said and done: Laruelles Détermination-en-dernièreinstance (DDI), die verbindlich alles entbindende, anfängliche Letztlichkeit und Verletzlichkeit als eine andere primäre (und aller Priorität vorausgehende) ultima ratio, das Ultimum und Ultimatum der zuverlässigen De-Determination, ist auch in der Bedeutung “letzte Instanz” fürs Höchstgericht eine Art Pindarscher nomos basileus in der Auslegung Hölderlins.2 Sie ist jene Voraussetzung, die nicht gesetzt, sondern nur im Axiom gewürdigt werden kann, weil alles Setzen sie voraussetzt und sie nur als dasjenige Setzen kann, was sie nicht setzen kann. Während solcherlei Aporien im philosophischen Kontext und dessen Logik als das Versagen epistemologischer Performanz aufgelöst oder umgangen werden müssen, stehen sie hier für eine Resistenz und immanente Restanz des Realen gegen seine vollständige Repräsentanz in einem Teil seinerselbst. Was sich allein vollständig repräsentiert, jedes mal ganz, auf ein Mal und in Einem perfekt, ist diese Unvollständigkeit und Insuffizienz. Sie kann also als Gesagtes nicht gesagt werden, und versteht man Sprache als den alleinigen Akkumulator von Bedeutungen, verengt sie also semantistisch auf ihre prädikative und urteilende Schicht, muss das als generische Immanenz verstandene Reale und Eine (eher No-One, None, Ohne, Plus d´Un) vor und jenseits der Sprache verortet werden. Aber es liegt auch IN ihr, als ihre Auseinandersetzung und kommt insofern weniger im Gesagten hervor als im Sagen selbst, dem Geschehnis des Sprechens und Schreibens zu Wort. Das “le réel” des Laruelle könnte sich, einem nicht-standardmässigen und nicht standesgemäßen Denken, also am Gemäßesten dort zeigen, wo eine De-Formation sich — in den Worten Werner Hamachers — sprachgerecht ausspricht. Laruelles Übungen in extravaganter Sterilität (Ray Brassier) sind selbst in diesem Sinne Exerzitien einer aus der Zukunft kommenden monotonen Maschinensprache von mitunter ennervierender, wenn nicht quälender Sterilität und Stereotypie. Aber vielleicht kann Denken als Dichten sich (heute) — nicht ein Nicht-Rechnen als bestimmte Operation, sondern Non-Computing als Erweitertes Kalkül — nur auf solch verschrobene Weise formulieren, in einem Duktus, der weniger mit subjektiver Erlebnislyrik zu tun hat, als mit einer inhumanen Tier- oder Computersprache. Um dann deren intime Verwandtschaft mit den Musen offenbar werden zu lassen. Das heißt auch: mit der techné musiké:

Nevertheless, we are still dealing with a surface-inventory that has to move from discursive themes to another model, for example to leitmotifs à la Wagner. Non-philosophy is doubled more globally by a musical organization or tissue. Vertically, it is a spiraled thought, contrapuntal in spirit or with superposed themes (in a musical rather than quantum sense, but the former announces the latter). Horizontally, it is a melody that exposes and reexposes the themes. Its profound or desired model is musical. To be sure, its form is still too classical and insufficiently inventive, and nowadays it dares to go beyond the academic form only in some experimental texts grounded in repetition. It is born of relatively precise obsessions, of repetition through a system of variations, the ideal of a repetitive or variational thought from the great classical models (Bach, Beethoven, Brahms, Wagner) up to the most recent (Cage).

Tillmann Reik

Werner Hamacher: Keinmaleins

Ma(h)(l)-Nehmen: Aparté to autom

Zählen mit Celan

ich finde / hinaus

Daran, dass die Eins von sich selbst nicht gezählt werden kann, zeigt sich somit nicht nur die Gegenstandsungewissheit der Zahl, sondern ihre Inexistenz als Zahl: Es gibt keine Zahl Eins, die von der Zahl Eins gezählt werden könnte; Eins ist nicht. (Heterautonomien*)

Aber Messung und Zählung können ihrerseits wiederum nur von einer Geste her erfahren werden, in der Maße und Zahlen nicht als vorgegebene Größen in ein Kalkül eingetragen, sondern zunächst erschlossen und noch vor jedem Kalkül notiert werden. (Maser, 34)

Then I heard the sergeant shouting: „Abzählen!“ They start slowly and irregularly: one, two, three, four – „Achtung!“ The sergeant shouted again, „Rascher! Nochmal von vorn anfangen! In einer Minute will ich wissen, wieviele ich zur Gaskammer abliefere! Abzählen!“ They began again, first slowly: one, two, three, four, became faster and faster, so fast that it finally sounded like a stampede of wild horses, and (all) of a sudden, in the middle of it, they began singing the Shema Yisroel. (Schönberg, A Survivor from Warsaw)

Il faut bien manger / Man muss recht essen. (Derrida, Ausslassungspunkte)

[…]à vomir / zum Kotzen.“ (derselbe, Gestade, S.169)

  1. Ma(r)termatik, Ma-Thesis und Cena-Zernierungs-Szene

Often the sucking activities of a child are accompanied by a slight nasal murmur, the only phonation which can be produced when the lips are pressed to mother’s breast or to the feeding bottle and the mouth full. Later, this phonatory reaction to nursing is reproduced as an anticipatory signal at the mere sight of food and finally as a manifestation of a desire to eat, or more generally, as an expression of discontent and impatient longing for missing food or absent nurser, and any ungranted wish. When the mouth is free from nutrition, the nasal murmur may be supplied with an oral, particularly labial release; it may also obtain an optional vocalic support.

— Roman Jakobson, Why ‚Mama‘ and ‚Papa‘?

Auf eine, nenne man sie — zudem, weil sie an dieser Stelle, einverleibend zueigen gemacht und verstoffwechselnd prozessierend, als, wenn auch nicht ungebrochen, sowie durchweg eingeklammert, die “Meine” erscheint — Ma-Thesis, zählend (d.h. setzend) — und um ein anderes, von einem gewissen Ma() ausgehendes Zählen, mit Celan, soll es gehen — ist die indoeuropäische Wortwurzel, Radix, Matrix, *ma als linguistisches Universal zu begreifen. Wurzelwort, das, abgründig, eine fast allen Sprachen dieser Herkunft gemeinsame Bezeichnung für die Mutter, also mater, begründet. Oralität als mündliche Verlautbarung fände ihren Anfang somit nicht, wie Herder einmal vermutete, im OR,

Und am Ende sammlet sich doch Alles um das Eine Wort der Ursprache Or! Man staunet, und es ist!

sondern im ersten oder entscheidensten Lallwort des Babytalk.

Die Oralität, der Mund und die Brust sind zunächst abgründige Tiefen. (Deleuze, Logik des Sinns, 232)

Alles beginnt mit dem Abgrund. (ebenda, 233)

Ist also mutmaßlich — rechnet man mit dem Mut*-Maß dieser Ma-Thesis universalis von der Monogenese des Sprachursprungs und zählt, setzt, baut auf es — jener erste Laut in onomatopoietischer Wortgestalt, Proto-Wort, Ur-Wort, das beim Schließen und Öffnen der Lippen des Säuglingskörpers im Zusammenhang mit dem Saugen an der Brust (lat. mamma), pars pro toto, der entweder leiblichen Mutter, Mama, oder supplementierenden Amme (griech. ammá) hörbar wird**. Es ist der Mund, der, bereits bereit, sozusagen, wider Willen unterwegs zur Sprache zu sein, von Ma zu Ma,  die Ma und ihre Aufmerksamkeit suchend das Ma macht oder gar in bestimmter Hinsicht dieses Ma, zur Figur geworden, ist. Ma als Laut und Bild, Lautbild und Lautbildung. Genauer und anders gesagt, wird die Alte(n)ration eines Vorgangs — des Stillens — verlautlicht, dem eine eigenartige non-reziproke Verstrickung des Lassens mit dem Machen zukommt, eine Passion und ein aktives Erleiden, von welchem *ma dann klanglich hörbar zeugt und Kindermund in Wort und Bild kundtut. Kindermund tut Ma-heit kund. Zeugt davon — aber wovon genau? — wie Testament oder Ma-rtyrium.

()

Im Begriff, sich, Sich-Anklammern(d) – Auf-Suche-Gehen(d)1, dem Nährenden der mitunter zur besseren Auffindbarkeit erigierten Brustwarze (lat. Mamilla; Papilla mammae) inklusive ihren zahlreichen Drüsenausgängen, inmitten des sie einklammernd austellenden Warzenhofs (Areola) der Mamma der Mama  zu nähern, in einer verabgründigend-kaskadierenden, sondierenden Sonderungsbewegung, die die Mutter bereits kannibalisch als in Teile zerlegt und zerstückelt präzisiert, hungernd nach Sättigung und Labung, die fehlt, aber eben gerade vom Begehrten, das den Hunger zu verursachen scheint, entfernt — jedenfalls in und als, letztlich in Gänze unaufhebbare Trennung des Mundes von der Brust und der Lippen voneinander: Erfahrung der Qual und Pein, Marter, Malheur und Malaise, unaufhebbarer Ungänze — artikuliert und formt sich das helle und gellende “a” wie ein Lust- oder Schmerzschrei. Während der stimmhafte Konsonant, im Augenblick hergestellten Kontakts, Wohligkeit und Behagen der auto-affektiven Berührung des eine Klammer bildenden Mundes mit sich, mitsamt des eingeschlossenen, alimentären Partialobjekt der Anderen, immer schon anders als bloß anders, (m)other, genauer der Mamilla der Mamma der Mama, die dieses Sich, sie per Introjektion einschließen wollend, in seiner Schließung unterbricht, gleichsam als Nebeneffekt Sprache bahnend, verstimmlicht. Der kindlichen Ambivalenz- und Ambiguitätserfahrung ist die Mater — und ihre Fremd-Sprache: Wissenwollen: was will sie bedeuten? —  stets zunächst und zumeist: Marter. Marter-Sprache ihr Erscheinen. In dieser *einen*, sich vordergründig mal gebenden, mal entziehenden, genauer jedoch wohl stets nur als Entzug, Schied und Entbindung gebenden Mutter wiederholt sich etwas, clont sich. Keine Mutter, Keinma, ein Fehl und fortwährende Lyse (nicht nur des Kindes von der Mutter, wiewohl des Kindes und der Mutter jeweils auch von sich selbst), dessen supplementierende Ursprungsprothese die Mutter gewesen sein wird. Die Mutter ist somit — und nicht erst der von Joyce als legal fiction bezeichnete Vater — eine These. These des Eins eines Keins. Als erstes Mal bereits eine Wiederholung.

(*)

Schließt m, stimmhafter bilabialer Nasal, so öffnet a, der ungerundete offene Zentralvokal, mag es zunächst scheinen, und der Mund dient als Schleuse oder Furt, bildet als geschlossene Klammer eine Tür. Amamamama. Wie ein Fort/Da, nur dass da ein Fort ist, was anders zum Da sich verhält als dieses Da sich zum Fort. Denn es gibt, da, eine Trennung, Anwesenheit einer radikalen Abwesenheit, welche die geregelten Terme, das Fort wie das Da, von sich selbst separiert. Furt des „fort“.

*ma- that is nearly universal among the Indo-European languages (Greek mamme „mother, grandmother,“ Latin mamma, Persian mama, Russian and Lithuanian mama „mother,“ German Muhme „mother’s sister,“ French maman, Welsh mam „mother“).

Probably a natural sound in baby-talk, perhaps imitative of sound made while sucking. Its late appearance in English is curious, but Middle English had mome (mid-13c.) „an aunt; an old woman,“ also an affectionate term of address for an older woman.2

Ma — somit, kindlicher Muttermund der Porzellankiste sämtlicher sprachlicher Ausdrücke für “Mutter” in den indoeuropäischen Muttersprachen, wird als erstes Wort des noch zur mündigen Mündlichkeit mutierenden Infans, dem alle anderen erst werden folgen müssen (die es aber, still, jederzeit muss begleiten können wie eine Plazenta), und aus dessen Mutismus heraus gleichsam eine Mutation dieses Mutismus — derart nicht allein zur Mutter und Matrix, oder mit Celan: Radix, Matrix, allen Sprechens erklärt. Das Kind zur Mutter der „Mutter“; richtiger: seine Sprache, die nicht die seine ist, sondern es überkommt, zur Mutter der Mutter, wie des Kindes. Jedoch diese Herleitung verquickt überdies jenes Sprechen mit dem “Stillen” in doppeltem Sinne und mutiert das eine ins andere: das schweigend Sprachlose, Mutismus, und die Säuglings-Brusternährung. Sprache erweist sich aus dieser Warte somit nur oberflächlicher anthropologischer Analyse als ein allmählich sich entwickelndes, d.h. differenzierendes “System” organisierter Schmatzgeräusche. Vor allem aber jenes Geräuschs küssenden Beißens, das sich, sich nähernd, zu nähren sucht: einer Aggression, die teilt und zerteilt wird. Obgleich von Sprache meist erst dann die Rede ist, wenn sich der Laut vom Körper dezidierter trennt als der Körper sich von sich selbst, erweisen sich Semiose und Somiose als von Beginn an ineinander verwickelt. Im Grunde aber — diesem Abgrund, worauf das Ma de profundis ruft — zeugt der Laut nicht etwas und nicht als erstes, gebiert nichts, sondern zeugt von einem Nichts und einer Stille, über die er nicht verfügt. Einer Pause und einem Ausstand.

Als Laut ist Ma* für den Moment des Erklingens seines Vokals , a,

Je parlerai, donc, d’une lettre.3

derart also ebenso Emblem einer klaffenden Öffnung, die den geöffneten Ma-Munde zum Bilde einer Wunde (sowie weiter: einer Wunde einer Wunde…) figuriert, der die Begegnung mit einem anderen Ma-Mal sucht. Emblem, nicht diese selbst. Es ist, oder gemahnt doch wenigstens daran, jedesmal in dieser Stellung ein Wund- und Mahn-Mal, welches das Ma sagt, im Begriff Mahl zu halten, oder gerade davon, wie von der anschließenden digestiven Sonderung des Zuträglichen vom Abträglichen, abstiniert. Das Ma jedenfalls, wo es ist (und also sich, im Vokal, Inbegriff der Klanglichkeit, verlautet und erklingt), ißt gerade nicht. Es lässt vielmehr ab, für den Moment, und aus davon, sich ins essende Einverleiben einzulassen. Bestimmt das sich anbahnende Sprechen zum Nicht-Essen, wie allerdings auch das Essen selbst ermöglicht und durchsetzt von einem Nicht seinerselbst.

Die Sprache wird ermöglicht durch das, was sie unterscheidet. Was die Laute und die Körper trennt, macht aus den Lauten die Elemente für eine Sprache. Was sprechen und essen trennt, ermöglicht das Sprechen, was die Sätze und die Dinge trennt, ermöglicht die Sätze. (Deleuze, S. 231)

Lässt die Klammer des Mundes locker, klammert damit im gleichen Zuge – und mit einem Mal – seine Zwecksetzung als dienendes Mittel zum schnappenden Schließen ein. Als das Offene, als welches ein Nichts sich umklammert, ermöglicht es so aber zuallererst das Fassen und Zuschnappen, Kappen und Kapern des künftigen homo capax zum malmenden Mahl, hamm (und mampf), und unterbricht es, es aufschiebend. Wollte man das Graphem und Ideogramm dieses konstitutiven Suspens notieren, dann vielleicht so:  ()
Auf es – die Einklammerung eines Kein, durch die sich die Klammerung als Klammerung selbst in Klammern setzt: Keinklammerung – ist zu zählen, mit ihm/ihr ist allein zu rechnen. Zählt man, besonders mit Celan, zählt man diese niemandsrosigen Stein-Früchte, diese Ma-Mandeln (). Scheide/Schneide eines „plus d´un“ und One 2 many.

Es ist dieses Doppel-Graphem mit seiner konvexen und konkaven Krümmung — ( ) —, das im ersten Vers von Celans Gedicht seinerseits mit der Doppel-Metonymie von Klinge und Schneide charakterisiert wird, die sich zum einen durch die ikonische Analogie mit der graphischen oder typographischen Klammer nahelegt, zum anderen durch den Anklang von Klinge an den Reim als Klangphänomen und durch die materielle Zusammengehörigkeit von Klinge und Schneide. (Epoché. Gedicht. Celans Reimklammer um Husserls Klammer, S.152)

(()))

Da keine Einklammerung zu denken ist, die nicht ihrerseits bereits die Einklammerung einer Einklammerung wäre, die Einklammerung von Nichts und somit auch die Einklammerung keiner Einklammerung (usf.), teilt sich eine teilende Mitte mit, die als der unendliche Regress einer Dopplung oder Halbierung ein mise-en-aybme abgibt, das weder Mutter noch Kind mehr stellvertritt, sondern eine Entbindung und Losigkeit an der beide nur teilhaben, sein muss. Mut-Err. Mèrre. Es ähnelt keiner Geburt mehr, als welche Heidegger noch die ontologische Differenz zu denken scheint, noch einer Schöpfung, stattdessen am ehesten der Trennung, der, innehaltend und hemmend, Ma-Ma von sich selbst separiert, wie sie M von A und die beiden jeweils von sich selbst trennt nur so als distinkte Sinnesdaten phänomenal werden lässt. In „Ausstellungen der Mutter“ findet Werner Hamacher dafür, für diese andere Differenz, den Ausdruck „Afferenz“.

2. Mal h(a)emme(r)nd

( ), das ist kein Transzendental, keine Form, die das Bildungsprinzip aller Formen enthält, sondern dasjenige Vor der Form, das die offene Reihe historischer Transzendentale (,,physis“, ,,logos“, ,,ousia“, ,,Ich“, ,,Geist“, ,,Wille“ oder „Sein“) erst zuläßt (Maser, 44)

Ähm. Wenn also erneut, hier und jetzt, dieses Mal, nach einem Zögern und als ein verlegenes Räuspern, ein stotternd sich doppelnd oder hälftend h(a)emmendes Ma,

Sprache ist nur halbwegs ein ontologischer Prozeß; die Philologie hat sich auch mit der anderen Hälfte zu befassen. (48. These)

im Machen, wie im Ha- (französisch A-), Hä- oder Häm — (Ha)MAMAMAMAMAcher, StigMa(h)(l), Mal-leer und -heur geforscht wird, dann vor diesem Hintergrund: dem einer Mutter-Mündigkeit ihrer Tragweite und Mutation; der Frage, wie mit ihr (nicht) zu rechnen ist. Einer Mutter als unterstelltes Emblem der Hervorbringung, die in Hamachers Texten an allen Ecken und Enden imponiert; hervorkommt als Gestalt des Austrags, wie eines Aus´ allen Tragens. In Zusammenhang mit der Dichtung Paul Celans wohl zuerst im Text „Die Sekunde der Inversion“ aus dem „Entfernten Verstehen“. Alles zudem unterlegt von der Frage: Wie könnte man dem noch im Performativitätsdenken sich erneuernden idealistischen Produktionsparadigma ein Schnippchen schlagen. Wie könnte das Machen – Bewirken, Schöpfen, Tun — in seiner schädlichen und schändlichen und immer zu grobschlächtigen Tätlichkeit, Zufügung, die sich von kultisch vergötzten toten Vätern ins Amt gerufen im Auftrage einer den Un-Fug richtigstellender Rache durch Setzen sieht, gehemmt werden? Oder doch auf ein Hemmnis, ein Zögern in ihm, ein Aussetzen inmitten der Hyperaktivität von Urteils- und Verrechnungsoperationen, geöffnet. So, dass es ablässt — Hemm mehr, Ham, let! Ablässt von der Rache heimzahlender, aufrechnender Wiedergutmachung?

O cursèd spite,

That ever I was born to set it right!

Mittels eines Hämmerns womöglich, könnte man mit Ham(ach)ers Text zu Celan, Häm,  zu denken versucht sein. Oder Häm-Mas; wenn das Ma in die Position jenes Häm gerückt werden kann. Die De-Position eines Strike, welcher das Häm mehrt, in order to reach the ham as an aim, die Teleologie zur Bejahung einer multidirektionalen Schickungsirre aufrüttelnd. Als das eigentliche Heim, Refugium eines konstitutiven Rests von Unzuhause, wäre diese mehrende Haemmung und ihre Ma-Thematik und Martermatik ein verqueres Unding wie der Odradek. Durch ein Mehr-Hämmern mehr hemmen, weil die Ballung sich, so, diversifizierend auf eine vorgängige Streuung hin, lockert. Vielleicht somit auf jene inhärente multiple Auto-Inhibition hin freisetzt, die in einer unentschiedenen Bestimmungslosigkeit, einer letztinstanzlich determinierenden In-, Un- und Unterdetermination, einer Untermininierung, liegt. Einen letzten Grund grundloser Abweichung. Und damit: in einem reinen Gestus, den man als Sprache überhaupt, bare Sprache, bezeichnen könnte. Was ist das Häm, ti esti?

Die Polysemie des »Häm« verdankt sich seiner semantischen Indetermination und, a limine, seiner Asemie. Seine Kraft, eine Pluralität von Bedeutungen — und zwar einander nicht korrespondierenden, sondern widerstreitenden Bedeutungen — auf sich zu ziehen, entspringt aber nicht in seiner bloßen Offenheit, seinem Zögern vor der definiten Aussage und seiner Halbheit, sondern darin, daß es eben dies Zögern, diese Offenheit und Halbheit exponiert. »Häm« zögert nicht nur, sondern als Transkription eines Räusperns markiert es sein Zögern; es öffnet sich nicht nur aufs Nichts seines Sagens, sondern mit dem Halbzitat aus Beniamins und Kafkas Texten macht es diese Öffnung auf Nichts explizit; es ist nicht nur ein halbes Wort, es spricht seine Halbheit, als das homophone, wiederum griechische, Hem aus. In ihm ist markiert — und das ist der Gestus, aus dem seine Sprache und Sprache überhaupt aufsteigt -, daß es eine Markierung nicht gibt. Und invers: in ihm werden alle Markierungen eingezogen bis auf diejenige, die besagt, daß es keine mehr gibt. Sein Gestus — und »Häm« ist nichts andres als Gestus — ist Ammarkierung: Eröffnung einer Markierung aus ihrem Nicht und Reduktion aller möglichen Markierungen auf diese eine, daß sie keine mehr sind. (Häm, in: Keinmaleins, S.34)

Ein weiterer einmaliger, womöglich ennervierend monoton-motorischer und steril-stereotyper und maligner Versuch, etwas, ein Ma(h)l, wie in einer Ma-Maschinensprache prozessierend, malträtrierend, recht zu essen, speisen und verzehren — manger — also Nahrung zu konsumieren und zu verdauen konzentrierte sich auf ein Zählen und Rechnen mit diesem Häm und Ma, die beide den Namen Hamachers durchwandern und aufsprengen. Fürs Mal des Mahls und Mahl des Mals darin ein rechtes Maß finden, wäre die methodische oder stilistische Herausforderung.

Mahl n. ‘Essen, Einnahme eines Essens’, mhd. māl ‘Gastmahl, Mahlzeit’. Ahd. mhd. māl ‘Zeitpunkt’ (s. ↗Mal) entwickelt in mhd. Zeit über ‘Zeitpunkt des Essens, zu einer festgesetzten Zeit aufgetragenes Essen’ die Bedeutung ‘Essen, Speise’ (wie auch nl. maal, engl. meal, schwed. mål ‘Essen, Mahlzeit’).

Mal1 n. ‘Zeitpunkt’, ahd. (um 1000), mhd. mnd. māl ‘ausgezeichneter Punkt, Zielpunkt, Grenzzeichen, Zeitpunkt, festgesetzte Zeit’, nhd. Mal ‘Zeitpunkt’ und (davon nur orthographisch geschiedenes) ↗Mahl ‘Mahlzeit, Essen’ (s. d.), mnl. mael, nl. maal ‘Zeit(punkt), Mahlzeit’, afries. mēl, aengl. mǣl ‘Maß, Zeitpunkt, Jahreszeit, Mahlzeit’, engl. meal ‘Mahlzeit, Essen’, anord. māl ‘Zeit(punkt), Mahlzeit, Maß’, schwed. mål ‘Mahlzeit, Essen’, got. mēl ‘Zeit, Stunde’ (germ. *mēla-) geht mit mnd. mēle ‘Trog, Mulde, (Butter)maß’, aengl. mēle, mæle ‘Napf’, anord. mælir ‘Maß, Köcher’, got. mēla ‘Scheffel’ von einer Grundbedeutung ‘etw. Abgestecktes, Abgemessenes’ bzw. ‘Gefäß zum Abmessen, Maß’ aus und kann als Bildung mit l-Suffix an die Wurzel ie. *mē- ‘etw. abstecken, messen, abmessen’ angeschlossen werden. Mit t-Suffix sind vergleichbar aind. māti- ‘Maß, richtige Erkenntnis’, mímāti ‘mißt’, griech. métron (μέτρον) ‘(das rechte, volle) Maß, Ziel, Länge, Größe, Silben-, Versmaß’ (s. ↗Metrum), lat. mētīrī ‘(ab)messen’ und russ. métit’ (метить) ‘ein Zeichen machen, zielen, trachten’. Die im Germ. entstandene Bedeutung ‘Zeitpunkt’ entwickelt sich aus der räumlichen Auffassung ‘Punkt im Raum’.

(Nebenbei: Können Maschinen, gar Computer so essen, Gericht halten, dass sie, sich, die Unverdaulichkeit des Anderen mitessen lassen und dabei sich selbst verzehren und zerlegen?

Können Cornputer sich dekomputieren und sich eben dadurch als Computer erhalten? Können sie sich als Rechner entrechnen und mit ihrer Entrechnung rechnen? Können sie sich selbst skandalisieren? Und wenn sie es können, was heißt dann ›können<? (Reparationen, 13)

Und dies — wie ginge das zusammen? — auf Grundlage einer scheinbar essentiellen Essstörung, Mal-Nutrition und der kalkulierten Engführung des Nutritiven, Digestiven, Trophischen mit einer Weise, wie Ganzzahliges integrativ verrechnet wird. Mit dem Ma-them. Das Rechnen sodann mit dem Rechten und Richten. Überblendet und -lagert, nicht um zu verwirren, sondern damit eine Unklarheit bis zur Überdeutlichkeit präzisiert wird.)

Sprache ist das Einmal eines Kein-Mal, das sich in fortgesetzten Wiederholungen erhält (164)

Ebenso: Repetitio est ma(r)ter studiorum, sic est! Mater, Mutter4, Maser5, Muta. Und Mathe. Es ginge um eine Ma(l)thematik und Mater-matik. Etwas nicht mehr Muttergemachtes oder eher noch das, was auch die Mutter erst (zur Mutter) macht, ohne zu machen.

Die Maserungen – der Hyle, der Hülle, des Holzes, der Materie, des Maritimen, der mother – , das sind die Linien, in denen sich ein Werden zur Hyle, zur Materie und zur mother abzeichnet, ihr Wachsen und aus sich Herauswachsen, ihre Matherungen; Figuren, wie man sie von der Schnittfläche an Marmor oder gefällten Bäumen kennt und die man nicht kennen könnte ohne den Schnitt. (Maser, 79)

Die Wiederholung ist, nicht nur für die Mathesis der Magister, die Ma(r)ter, in voller Ambivalenz und verkörpert somit das zugleich Nährende wie Ver- und Aufzehrende, das bis zum Zero hin und von ihm aus Sehrende, Auf- und Ausrichtende wie Fällende. Verkörpert Semi- wie Somiose, “macht” also die Zeichen und Wunder wie die Körper und Gräber, mit ganz anderer, entmachtender “Macht”. Ist Faktor und Facteur. Das heisst jedoch, die Wiederholung isst auch diese Ma(r)ter und verleibt damit sich selbst, immer noch ein Ma(h)(l) und noch ein Ma(h)(l), einen Ruin ein, ein Malheur, das sie von innen aufzehrt. Das sie damit eben auch “ist”. Die Wiederholung, das Nocheinmalundnocheinmal, ist, indem sie — sich, also Sichten und Schichten dieses sich sensend-sichelnden Sich und Selbst — isst. Auto-Phagie. Ein so nährendes wie malignes Martyrium is(s)t dieses procedere, ähnlich vielleicht also wie die pharmako-logische Sprache, dem Benjaminschen Kraus-zitat, was Dike — Sprachgerechtigkeit voransteht, die der Gerechtigkeit sein könnte. Etwas ähnliches oder gar dasselbe?

. . . Sprache [ist] die Mater der Gerechtigkeit.

Lingua est mater justitiae. Mutter- Ma(r)ter- und Muta-Sprache erhält nur und bewahrt, sich, nur, von Fall zu Fall, indem sie alles Aus-, Ein-, Ab- und Zurichten, sowieso alles Halten gleichzeitig zugrunde richte und stürzt. Gibt, indem sie — von sich — nimmt.

„Aber wer ißt, wer liest, käut, wie auch immer, wieder. Ihm schließt sich die Verdoppelung von an sich und für sich Verdauen, von Vorverständnis und Verstehen, von Text und Lektüre nicht einfach zur synthesierenden Trias und zum dialektisch-hermeneutischen Zirkel zusammen. Die triadisch-zirkuläre Figur öffnet sich mit der Ekelbewegung der Lektüre gegen ihre »eigene« Operation zum Viereck.“ (Pleroma, 305)

Und das hast Du immer wieder von neuem getan; daran bist Du irgendwie physiologisch gestorben. (Nancy, Grabrede auf Hamacher)6

Retry, retrial, also juridisches Wiederaufnahmeverfahren oder digestives Wiederkäuen, beide Ma(h)le, das eine und das andere Gericht, so wie die Digestion und die Digesten, sind im Grunde, gleichzeitig, gemeint und keins. Ihrer beider Vermählung und Zermahlung, und doch diesmal mit Nachdruck auf einem anderen Rechnen und Rechten, einer Art Quanten-Algebra, die sich aus einem Dichten nicht ganz wie ein Resultat oder outcome eines zu lösenden Problems, so doch ähnlicher der Dissolution eines Poems, ergibt. Sich ergibt wie eine Ergebung: klagloses Sich-Fügen ins Los des Un-Fugs einer -losigkeit und deren Maß und Metrum oder Matrix. Lass sein!
Gesetzt also den Fall, es ließe sich, ein weiteres Mal — denn einmal ist, dieser ganz andereren, aporetischen Arithmetik gemäß, keinmal — ein Gesetz des Falls des Gesetzes formulieren. Einmal ist keinmal, dem von Benjamin mehrfach ausgedeuteten Spruch nach7,

Das Einmal ist keinmal […] hat es mit dem Experiment und seiner unermüdlichen Variierung der Versuchsanordnung zu tun.8

aber, gilt deshalb auch schon, wie fürs rechnende Grundwissen gewohnt, einmalkeins gleich keinmaleins? Mit anderen Worten: gehorcht diese Algebra der Multiplikation — und Mal-Nehmen ist gleich einem wiederholten, nocheinmal und nocheinmal, Addieren, die Repetition einer tätlichen Male-Zufügung, wie das Dividieren die Subtraktion mehrmals durchführt und die Division mit dem Kehrwert multipliziert — den Gesetzen des Tauschs, also der Kommutativität? Mutatis mutandis

Eins zum Andern, ein Mal zum andern Mal -: das könnte die Formel der Malerei wie der Zeichnung, der Sprache wie des Denkens, der Erfahrung sein. Das Eine wäre Eines nicht, ohne auf ein Anderes verwiesen zu sein, das eine Mal kein Mal; würde es sich nicht (in sich, an sich selbst) in einem anderen Mal und in keinem doublieren. Deshalb gibt es kein Mal, das nicht der Bewegung der Alteration folgte, und keines, das nicht in eine Serie von Duplikationen – und Duplikationen keines Mals – eingetragen wäre. Eins zum Andern – : das heißt immer noch einmal andern zugewandt sein – mäandern – und seine Einzigkeit genau in dieser verandernden Mannigfaltigung einer unsichtbaren Falte finden. (Maser)

Denn wenn nicht, fügte sich das Eine vielleicht dem Anderen (etwa als Keins oder Kein-Eins), das schon da war, anders hinzu, als das Andere dem Einen, weil es dazu immer schon *ein* anderes (und also ein Keins) gewesen, für eins genommen worden sein muss. (Ist diese Eins des Einmalnullgleichnull also eine andere als die des Einmaleinsgleicheins?)
Es muss, damit eine Zahl, um, was auch immer mit ihr weiterhin zu unternehmen, gegeben und zum Verrechnen zuhanden ist, einmal ge- oder entnommen worden sein, dividierend subtrahiert. Eine auf diese Art dividierend subtrahierende Mal-Nahme muss stattfunden haben. Setzt man also Einmalkeins und Keinmaleins gleich, bleibt etwas übrig, ein Rest: das Kainsmal des (k)einmal, die Markierung als teilende Nahme. (K)einmaligkeit. Im ursprünglichen Zahlzeichen, der ins Holz einritzten Kerbe und dem “Auf dem Kerbholz haben” verschränkt sich Rechnen und Richten (I, II, III, IV, V….X). Teil-Nahme geschieht. Da die rechnerischen Grundoperationen ineinander übersetzbar oder immerhin, umrechenbar scheinen, bedeuten sie, auf eine Art, dasselbe, nämlich hinsichtlich des Umstands, das ihre Operationen jeweils einmal vollzogen werden. Einmal teilen, einmal malnehmen, einmal dazugeben, einmal abziehen, wenn auch mehrmals? Teilen sie alle ein bestimmtes Malnehmen, d.h. haben es gemeinsam? Nenne man dieses: Schrift?

*=+=-=/=1

Teilen sie alle ein bestimmtes (K)einmalnehmen (d.h. wiederholtes Zu- und Beifügen, was gibt, in dem es nimmt). Teilen sie alle ein geteiltes Mal und nähren sich von ihm…Teilen eine (“selbst” unteilbare?) Teilbarkeit, bar der Teile.

Vorausgesetzt, donc, es ließe sich ein Gesetz des Gesetzes als Prämisse in eine Formel kleiden. Einer Prämisse, im Sinne dessen, was es, das von dieser allen Prämissen vorgängigen Prämisse gesetzte Gesetz, nur dadurch stabilisiert, dass es es stürzen lässt. Gesetzt, es ließe sich, rursus/iterum, one more time und encore une fois, im gleichen Zug der Versuch unternehmen, in einem Diktum oder Verdikt synthetisieren, worin jene vielbeschworene Gerechtigkeit, um die es Werner Hamachers proto-politischer Philalogie

18

Jede Definition der Philologie muß sich indefinieren – und einer anderen Raum geben.

24

Philologie, Philallologie, Philalogie.

ein Leben lang zu tun war, bestehen könnte. Jene Justierung — adikeia und also Un-Gerechtigkeit — durch die Sprache sich selbst, ohne Selbstgerechtigkeit einer begründenden Rechtfertigungskunst, gerecht wird. Das heisst ihrer genuinen und generischen Sprachlichkeit, ihrem realen Überhaupt, in letzter Instanz am Angemessensten entspricht: worin es, zur Gänze, sich aussprechen und sich freisetzen kann. Dann vielleicht so: Sprache entspricht sich am genauesten und spricht damit vielleicht auch am Adäquatesten und — sofern deren Chef-Defitionion die adququatio rei et intellectus ist — wahrt sich am Wahrsten, indem sie sich — ihre Bestimmung zu bestimmen — ent-spricht und derart ans Unangemessene ihrerselbst anmessend, das Andere, das sie ist — noch genauer: das andere Andere — mitsprechen lässt. Ihre Vakuität als das, vor allen Entscheidungen, für alle Entscheidungen, Entscheidenste, das Ent-. Diese Mandel der Keinklammerung. Eine Krisis vor jeglichen dezionistischen Spechtakten wie diesem Diktum selbst, das sich dadurch jede philosophische Dialektik und ihre Reflexivität brechend, zeigend auf die es ermöglichende Strukur oder (nach Werner Hamacher) Destruktur zurückwendet. Nicht also wie im narzißtischen Spiegelspiel auf das phantasmatisch Imaginäre zurückwendet, Phantasmen, Phantome, Phänomene oder konstitutive oder regulative Ideale oder Ideen, hingegen auf die unbeschichtete Rückseite des Spiegels, die Unterbrechung, der sich die narzißtische Auto-Position der phantasmatischen Autarkie des Logos verdankt, ohne dass dieser es sich anmerken lassen dürfte. Wie ist diese Re-Flexion zu verstehen, wenn sie nicht die des Bewusstseins ist, sondern einer Sprache, die auch ihre Eindeutung zum Logos splittern lässt.

Sie [das Intervall, die Pause, der blanc, TR] sind Zonen eines Offenen, das nicht von der Sprache als transzendentalem Logos erzeugt, sondern von der Sprachvakanz als attranszendentale Lücke freigelassen wird. (173)

Wohin biegt sich dann das das “Re-” zurück, ohne zu brechen, wenn nicht immer schon in eine Brechung und Streuung, die das Gesprochene gleichsam unilateral und non-reziprok (in)determiniert.
Kann aber bei einer fortgesetzt zu sich zurückkehrenden Streuung von einer Rückkehr überhaupt die Rede sein, handelt es sich doch um die Rückkehr zu einer Nicht-Rückkehr des Abstandnehmens und Abscheidens, der Wiederaneignung einer Enteignung. Es präzisiert sich die das Denken monopolisierende Reflexivität damit zu einer Art Irr-Reflexivität der Frakturation…Vor, in einem nicht chronologischen Sinne, liegt diese proto-kritische Krise, aber vor allem auch in und zwischen — inmitten. Sprache, so wäre also die aporetische Defintion, ent-spricht sich, sofern sie sich jener sie in Hälften und Hälften von Hälften vom Hälften… teilenden Geschehnisdimension in ihr öffnet, für und mit ihr spricht, durch die sie sich indefiniert und -determiniert.

3. Latent-laterale Automie: Zählan, zählanders

Dass dieses Andere des Anderen, dessen Eigenstes und Eigentlichstes, seine Zeit sei9, das Verzeihen, was in einer von allen Attributionen letzlich unbeeindruckbaren Bestimmungslosigkeit liegt, die unilateral alles Bestimmte determiniert, ohne sich selbst von ihnen bekümmern zu lassen, war die Entdeckung Werner Hamachers. Oder genauer, es war und ist die Entdeckung Hamachers, dies als die Entdeckung Paul Celans bemerkt und ausgearbeitet zu haben. Eines Celan freilich der Leser von Benjamin, Kafka, Hölderlin, Heidegger ist. Hamacher nunmehr entdeckt, wird bemerkbar, Celans als Entdecker dieser Entdecker und ihrer Entdeckung. Die Entdeckung: das schlechthin Ungedeckte, Bedeutungs- und Zukunftsoffene.

Celans Entdeckung war die Rettung des radikal Bestimmungsfreien. (241)

Retten, aus einer Gefahr befreien, in Sicherheit bringen und bewahren: es könnte, sofern das zu Hütende jenes ist, was nicht in einem Depot ein für alle mal gesichert und nicht in einem Arbeits-, Straf- oder Vorrats-Lager interniert und akkumuliert werden kann, ein fortgesetztes Zittern, Schütteln, eine Konkussion und Sollicitaion erfordern, die lockert und löst. Lassen macht:

Man versucht, wenn auch nicht ohne Bedenken, das nur westgerm. bezeugte Verb *hradjan mit der Wortgruppe um ,gerade (s. d.) zu verbinden, vgl. lit. krė͂sti ‘schütteln, schüttelnd streuen, rütteln’, kretė́ti ‘zittern, schlottern’, mir. crothaim ‘ich schüttele’, ahd. redan (9. Jh.), mhd. reden ‘durch das Sieb schütteln, sieben, sichten’ (germ. *hreþan), ahd. (h)rad, gi(h)radi ‘rasch, schnell’ (8. Jh.), und an dort genanntes ie. *kret- ‘schütteln, sich rasch bewegen’, Erweiterung der Wurzel ie. *(s)ker- ‘drehen, biegen, kreisend bewegen’, anzuschließen

Nicht mithin wie die Philosophie bis Husserl dem platonischen Auftrag der Rettung der Phämonalität (Platons σῴζειν τὰ φαινόμενα /sozein ta phainomena) zu frönen sowie dabei ihrer eigenen monopolischen Stiftungsleistung, der transzendentalen Synthesis sich zu allererst zu vergewissen. Sondern, es käme offenbar darauf an, für eine Dichtung und gleichwohl ein von ihr verandertes Denken, statt nur anders zu interpretieren, zu verändern, indem gemäß diesem Bestimmungsfreien, umwillen dessen alle Bestimmungen da sind, zu denken versucht wird. Dafür muss im Sinne jener Freisetzung gesprochen werden, die noch die Einklammerungsbewegung der phänomenologischen Reduktionen, welche sich als transzendentale synthethische Egoität von dieser Freisetzung, und mit dieser, ihrem Tod, freihalten will, deaktivierend in Parenthese setzt. Es muss sich die Philosophie selbst von der Sprache außer Kraft setzen lassen; vom Dienst suspendieren.

Die Philosophie einer Sprache, die zu sich als einer irreduzibel anderen steht, beginnt erst mit einer Epoché der Philosophie, die sie eine von sich befreite und anders als Philosophie sein lässt. (179)

Jean-Luc Nancy weist in seinem kurzen Vorwort auf dieses “mettre toute force hors d’usage” hin, was Hamachers retten von Celans Retten auszumachen scheint.

um zu sagen und zu tun, was über Dich eine erstaunliche Macht vollbringen wollte – erstaunlich ebenso durch seine Intensität wie durch sein immerwährendes Begehren, alle Kraft außer Gebrauch zu setzen. Das Wort Kraft (2) begegnet bei Dir am häufigsten im Syntagma außer Kraft.

Von hieraus hört man Hamachers Name nicht nur, wie Nancy nahelegt, als Macher des Ha. Vielmehr des Häm, besser noch Lasser des Häm, ein anderer Ham-Let und, noch französischer, und unter Wegfall des Apirationslautes noch atemloser, als A-Macher. Macher einer Privation, Entmach(t)er des Gemachten wie des Machens, da alles darauf hinaus läuft, dass sich diese Bloßheit nicht einach nur macht, und nicht etwas, sondern, dass sie lässt. Für eine andere Macht also, die des Ent-.10

Hamachers Suggestionen im Text des Titels “Suggestiones” legen anhand der Darstellungen von Jean Daive über Celans letzte zehn Jahre frei, inwiefern eine Rettung des radikal Bestimmungsfreien, durch die per sprachlicher Suggestionen erfolgten Einspannung in ödipale Triangulationen, letztlich zur Identifikation Celans mit dem Mordwunsch gegen ihn, der eigentlich einer der verwitweten Claire Goll an ihrer Mutter gewesen war und sich sodann auf Celan übertrug, führen musste. Die Entdeckung der Rettung radikaler Bestimmungslosigkeit, des Bestimm-Baren, welche nur im fortwährenden Abschütteln und Mausern vollziehen kann, ist dichterisch vollbracht — in einer Dichtung, die zu ihrem Versagen stehend, sich von Kunst und sich selbst lossagt und freisetzt — wie biographisch mißlungen. Der Verwahrung gegen die in ihrem terroristischen Diktat über-determinierenden Infamie waren in ihrem Bemühen der Außer-Kraft-Setzung Grenzen gesetzt. (253)

Dass er sie nicht durchwegs hat festhalten können, hat ihn das Leben gekostet (242).

Wie das? Wie könnte eine Bestimmungslosigkeit und also eine radikale -losigkeit überhaupt festgehalten werden, wenn nicht durch die Insistenz (auf) einer Aporie, welche die Einheit der personellen Identität zur Keinheit apersonaler Anynomität per Öffnung einer Des-Identifikation hin durchbricht, indem sie diese Insistenz veruneindeutigt. Es wäre dies dann ein anderes Eines, das das Zugleich von Eins und Keins zur unaneigenbaren (und, da unendlich teilbaren, unteilbaren) Streuung hin bezeichnet, bei der die beiden einander Widersprechenden nicht in einem Dritten aufgehoben sind, was sie versöhnt. Vielmehr, gleichsam überblendet, das Zugleich und simul meint, was im griechischen auch hama heisst. Auf ein Mal eines Kein-Mal: zur gleichen Zeit dieses und jenes, das Selbe und das Andere.

Diese Selbe, der verzeihenden Zeitigung, ein (N)one oder No-one, ein Ohne, versieht Hamacher als Resultat seiner Lektüre von Celans demokritischer Parmenides-Veranderung mit einem aparten Namen, der Autos und das Tomische so zusammenführt, wie er das automaton, die Zufallsnotwendigkeit mit der die Atome per Devianz einander zufallen, anklingen lässt:

Wenn diese zwei Gedanken- und Auslassungsstriche und die Lücke, die sie auseinanderhält, das ist, was vom Selben bleibt, dann sind sie eine Abbreviatur für die Bewegung des ganzen Gedichts. Da es von einem veränderten to auto spricht und sowohl auf das automaton im Fall der Atome — der Ungeteilten — des Demokrit wie auf ihre Teilung hindeutet, lässt sich diese Minimalformel für das, was vom Selben bleibt, übersetzen in ein Wort, das es noch nicht gibt. Es könnte, Ungewesen und Da, heißen: to autom. (208)

Welche andere, anders als ganzzahlige, fraktalere und mit dem Ungrund rechnende Grund-Rechenart — andere Weise des Rechnen wie des Richtens —  bietet sich in dieser Hama-Mathematik des Kein-Ein und Autom nun dar? Welches mit und auf und aus Celan zählen. Welches Zählanders? Das Sprechen und Rechnen zum Sprechnen verflechtende Kalkül der Dichtung als Aparté einer Sprache des Sich-Beiseite-Sprechens:

Das Gedicht, in jedem Sinn eine Partitur seiner selbst, teilt sich: sich selber der Reim und mit sich in ursprünglicher Paarung einig, aber sich selber auch Klinge und Schneide, als Eingeklammertes von jeder autarken Setzungsaktivität geschieden, lässt es sich zu einem Aparté, einem lateralen und Latenz-Phänomen seiner selbst werden. Da jedes Element seines Textes Reim und jedes Klammer ist, die zusammenhält und zugleich suspendiert, ist jedes einzelne Element und die gesamte Komposition zugleich Affirmation und Suspendierung dieser Affirmation, Bestätigung und ihre Beiseitesetzung, Setzung und Absetzung. Husserls Residuum der Subjek tivität wird bei Celan zu einem Rest ihres Verstummens. Wenn die transzendental-phänomenologische Reduktion die reine Tätigkeit des Subjekts zu retten sucht, so rettet Celans Rediktion dieser Reduktion mit jener Tätigkeit zusammen ihre Vertanheit. Das Einer bewahrt nicht weniger als das Eins sein keins. Der attranszendentale Rest des transzendentalen Residuums — das Gedicht als singbarer Rest, aber auch als des Singens barer Rest — erhält sich als Widerstand gegen den Akt wie gegen seine Desaktivierungen. Akt gegen den Akt, ist er der von sich freie Akt, ein Akt ohne konstitutives Subjekt, ohne Anhalt am vorgesetzten Telos einer Wirkung, aber auch ohne ein »Ohne«, in dem er sich als nichtig setzen würde, weder verloren noch erkoren —: der von sich selbst entlassene, der Akt der Freiheit vom Akt.

 

Häm-Letter

 Ha, mach´ er,
ache and harm
Ahm Rache!
Ähm, ach…rrrrrrrr

()

Tillmann Reik

* Texte Hamachers, die außer dem angezeigten Keinmaleins zitiert werden und in denen die Mutetr wie das Zählen, um die es hier gehen soll, eine Roll spielen, sind insbesondere:

Maser. Bemerkungen im Hinblick auf die Bilder von Hinrich Weidemann, Berlin: GalerieHetzler 1998.

Ausstellungen der Mutter: Kurzer Gang durch verschiedene Museen“, in: „geteilteAufmerksamkeit“ – Zur Frage des Lesens. Herausgegeben von Thomas Schestag, DebrecenerStudien zur Literatur 3, Frankfurt/New York: Peter Lang 1997, S. 53-90

Heterautonomien: One 2 Many Multiculturalisms. (Ins Japanische übersetzt von YasuhikoMasuda), Tokyo: Getsuyosha Limited 2007.

** „Es wird jedoch immer wieder davon berichtet, dass in Einzelfällen auch Männer zum Stillen fähig gewesen sein sollen. So berichtete Alexander von Humboldt 1799 von einem venezolanischen Bauern, der sein Kind nach dem Tod seiner Frau monatelang gestillt habe. Durch Hormonzugabe kann diese Fähigkeit heute künstlich ausgelöst werden. Charles Darwin selbst spekulierte in seinem Werk Die Entstehung der Arten, dass bei frühen Säugetieren beide Eltern stillen konnten. Dies konnte jedoch weder bewiesen noch widerlegt werden.“ https://de.wikipedia.org/wiki/Brustwarze

1 vgl. Imre Hermann: Sich-Anklammern – Auf-Suche-Gehen, in: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, 1936 Bd. 22, Heft 3, S. 349–370.

2 https://www.etymonline.com/word/mamma?ref=etymonline_crossreference

3 Bekanntlich der Eröffnungssatz von Derridas programmatischem Text “La Différance”.

4Ausstellungen der Mutter: Kurzer Gang durch verschiedene Museen“, in: „geteilte Aufmerksamkeit“ -Zur Frage des Lesens. Herausgegeben von Thomas Schestag, Debrecener Studien zur Literatur 3, Frankfurt/New York: Peter Lang 1997, S. 53-90.

5

6 https://faustkultur.de/3190-0-Nancy-Grabrede-auf-Werner-Hamacher.html

7Einmal ist keinmal

Beim Schreiben hält man hin und wieder über einer schönen Stelle inne, die besser gelungen ist als alle andern und nach der man plötzlich nicht weiter weiß. Etwas ist nicht mit rechten Dingen zugegangen. Es ist, als gäbe es ein böses oder unfruchtbares Gelingen, und vielleicht muß man gerade von diesem einen Begriff haben, um zu erfassen, was es mit dem rechten auf sich hat. Im Grunde sind es zwei Parolen, die sich gegenübertreten: das Ein-für-allemal und das Einmal ist keinmal. Natürlich gibt es Fälle, wo es mit dem Ein-für-allemal getan ist – beim Spiele, im Examen, beim Duell. Nie aber bei der Arbeit. Sie setzt »Einmal ist keinmal« in seine Rechte. Nur ist es nicht jedermann gelegen, auf den Grund der Praktiken und der Verrichtungen zu dringen, in welchem diese Weisheit Wurzel schlägt. Trotzki hat es getan in den paar Sätzen, mit welchen er der Arbeit seines Vaters auf dem Getreidefeld ein Denkmal setzt. »Ergriffen«, schreibt er, »sehe ich ihm zu. Mein Vater bewegt sich einfach und ganz gebräuchlich; man möchte nicht meinen, er sei bei der Arbeit; seine Schritte sind gleich, es sind Probeschritte, als suche er sich den Platz, wo er erst richtig anfangen kann. Seine Sichel macht schlicht, ohne alle künstliche Zwangslosigkeit, ihren Weg; eher könnte man denken, sie sei nicht ganz sicher; und doch schneidet sie scharf, hart am Boden und wirft in regelmäßigen Bändern nach links, was sie niedergelegt hat.« Da haben wir die Art und Weise des Erfahrenen, welcher es gelernt hat, mit jedem Tag, mit jedem Sensenschwung von neuem anzusetzen. Er hält sich beim Geleisteten nicht auf, ja, unter seinen Händen verflüchtigt sich das schon Geleistete und wird unspürbar. Nur solche Hände werden mit dem Schwersten spielend fertig, weil sie beim Leichtesten behutsam sind. »Ne jamais profiter de l’élan acquis«, sagt Gide. Unter den Schriftstellern zählt er zu denen, bei welchen die »schönen Stellen« am rarsten sind.”

8 GS VII.1, 359

9 Die als Urform von Sein und Zeit geltende Vorlesung von 1924 “Der Begriff der Zeit” (GA 64) Heideggers kulminiert in einen Schluß, der die ontologische Was-Frage zur Wer-Frage transformiert:

“Was geschah mit der Frage? Sie hat sich gewandelt. Was ist die Zeit? wurde zur Frage: Wer ist die Zeit? Näher: sind wir selbst die Zeit? Oder noch näher: bin ich meine Zeit? Damit komme ich ihr am nächsten, und wenn ich die Frage recht verstehe, dann ist mit ihr alles ernst geworden. Also ist solches Fragen die angemessenste Zugangs- und Umgangsart mit der Zeit als mit der meinigen. Dann wäre Dasein Fraglichsein.” (GA 64, S.125)
Celans Umdeutung im Meridian, auf die oben angspielt wurde, verschiebt also eine Heideggersche Deutung von der Jemeinigkeit und ihrem seltsamen Besitzcharakter hin auf eine Enteignung durch den Anderen. Zeit, das bin nicht ich und das ist nicht meine, es ist die des anderen:

“Noch im Hier und Jetzt des Gedichts – das Gedicht selbst hat ja immer nur diese eine, einmalige, punktuelle Gegenwart –, noch in dieser Unmittelbarkeit und Nähe läßt es das ihm, dem Anderen, Eigenste mitsprechen: dessen Zeit.”

10 Die Ganz-andere-Allmacht oder Allmacht-des-Ganz-Anderen oder Etwas-Anderes-als-Allmacht wird in Derridas Buch über Cixous thematisch.

Norman O. Brown: The Challenge of Islam

Re-Komplikation

Es gibt mehrere Islame, wie es mehrere Okzidente gibt. (J.Derrida)

Auf die Frage, was der Islam — eine derart schon in der Fragestellung als ungeteiltes Bollwerk in Stellung gebrachte Homogenität — mit nicht allein Deutschland, sondern Europa, oder gar der sich zusehens mit dem Globus im Ganzen gleichsetzenden sogenannten “freien (und vorgeblich friedlichen) westlichen Welt” zu tun habe (die in dieser Gegenüberstellung ihrerseits zur restlosen monolithischen Selbstidentität versteift auftreten), außer letztere, sich selbst für etwas radikal anderers erachtend, in auf ihn sich berufenden extremistisch-salafistischen Gruppierung gleichsam aus einem Außen in einem Innen heraus zu bekämpfen, sind die Antworten kontrovers und verworren. Sie reichen von der entschieden zweifelsfreien Bestreitung jeglicher Gemeinsamkeit über beinahe die Unterscheidslosigkeit des Einen mit dem Anderen unterstellende abstrakte Negation jeglicher Differenz bis hin zu einer gewissen Verlegenheit, die man als redlichste, da den Dilemmata der Problematik angemessenste Annäherung ansehen mag. In ihr verschafft sich eine beinahe unverhüllte Ratlosigkeit Ausdruck, welche die faktische Zugehörigkeit jenes Islam zur favorisierten Kultur des Westens und ihren vermeintlichen Standards (die sich anhand prozentual hoher Bekenntnisraten innerhalb okzidentaler Populationen zu ihm schwerlich leugnen lässt) nicht in Abrede stellen will. Aber doch in der Hilflosigkeit ihrer Parteinahmen zugibt, dass die Rede, sei sie auch von einem integralen Teil, von einem Fremdkörper ist, der in der dadurch gar nicht so einträchtigen trinitarischen Geschwisterlichkeit der monotheistischen “Religionen des Buches” einen verstörend ungleichen Bruder abgibt. Einen integralen Teil somit als Fremdkörper im gemeinsamen Stamm vorstellt, was ein Unding ist, aber letztlich doch von derlei Art, die für die „elementaren Strukturen der Verwandtschaft“ typisch zu sein scheint. Um einen solchen Verwandten folglich geht es, der, weil scheinbar auf eine bare, vor-mosaisch abrahamitische Basalform des Monotheismus und damit auf ein im als fokaler Punkt einer orientierenden Sinn-Richtungsmarkierung fungierenden Würfelhaus der Kaaba verkörpertes Monos, was alle Teilbarkeit von sich abstreift rekurrierend — nicht im selben Maß zu brüderlichen Trias dazugehört wie die anderen beiden, inniger verschworenen — auch und gerade nicht jene außer-mosaischen, aus denen das ethisch-postreligiöse “Projekt Weltreligion” sich rekrutieren soll — weil er aufsässiger ist. Für den mithin ganz offensichtlich ein radikal anderes Maß zu gelten scheint, was das Scheitern der Integrationsleistung des westlichen Glaubens-Trinitarismus selbst markiert, der sich als die orthodoxe christliche Weltsicht der auf sukzessiven, progressiven Laizismus und Säkularität Verpflichteten versteht, doch dabei womöglich übersieht, inwiefern die nunmehr offiziell fetischisierte Religion der unirritierbaren Vernunftuniversalität in ihrem Triumpf sich ihrerseits geneaologisch wie generisch der Stiftung durch prophetische Verkündigungen, bloße, bare Sprachlichkeit und ihr Versprechen, verdankt. Einer poetischen Prophetie — Operation in “Volksmetaphysik”, die das Imaginative der Massen struktuiert — im weitesten Sinne verstanden als performative Sprachgeschehnisse, deren “Offenbarungen” umstürzlerische restrukturierende Konsequenzen hatten und haben für die eine — geteilte — Tradition. (Denn das wäre ein „Eines“, was sich einer anderern Einheit — die in der summarischen, subsumtiven Zusammenfassung besteht — hinzugesellt: die eine Teilung.)

Ebenso fehlt es der verbreiteten Rede von der Unterscheidungsnotwendigkeit zwischen wahrem Islam und extremistischen Fundamentalismen, provokativ auch “Islamo-Jakobinismus” genannt, die unter Rückgriff auf brutale physische Gewalt eher die korrumpierten Depravationen phallogozentrischer politischer Ideologien entsprechen (darin die Kehrseite fundamentalischen Neo-Konservatismus, sofern dessen klandestinen Sympathien wirklich in den NSU-Untergrund hinabreichen) an einem Kriterium dafür, worin diese von solchen Entstellungen freie Reinform denn bestehen sollte. Wenn nicht in dem, was sich im weltpolitischen Handeln eben auf ihn, den einen Islam, beruft.

Für Norman O. Brown, den Literaturwissenschaftlicher, der, zur Zeit jener Islamischen Revolution für die auch Foucault (manchmal zum Leidwesen seiner heutigen Anhänger) überschwänglich sich begeistern konnte, den Entschluß fasste, endlich “seine Hausaufgaben zu machen” und all die nötigen Studien nachzuholen, welche ihm eine wirkliche Einschätzung der politisch-theologischen Situation seiner Tage gestatten würden, wird der Islam — dessen Fragmentierungen und politischen Scheitern er Rechnung trägt, aber ihn eher als fruchtbar zu machenden Symptomkomplex in seiner apokypytisch-propethischen Genese behandelt — in einer sehr deutlich von Henry Corbin und seinen Arbeiten zum shiitschen Sufismus beeinflussten Deutungen zum integralen Teil einer unterdrückten und unterdrückenden Geschichte des Westens. Und zwar nicht als ein Teil, welcher der vom dominanten Strom als Zielvorgabe gesetzten Läuterung durch Aufklärung und Verweltlichung noch harrt. Sondern, der stattdessen diese Revolution als Ereignis selbst womöglich als erstes in der Weise politischer Repräsentation initiert hat. Es geht um eine Tradition, die er als die der apokalyptischen Prophetie bestimmt, eine Art aufständischer poetischer Performanz wohl, welche allein besagte Tradition als eine fortwährender Restrukturierungen temporalisiert.
In den Jahren 1980 und 81 widmete Brown der “Challange of Islam” eine Vorlesungsreihe, aus der zwei Texte im Band Apocolypse and/or Metamorphosis (1991) hervorgegangen sind. Sowie eine Verschriftlichung der gesprochenen Vorträge, welche seit 2009 (sieben Jahre nach dem Tod des Autors) vorliegt. Gleich die erste der Vorlesungen beschreibt eine heute vermutlich nur schwer nachvollziehbare Läuterungserfahrung: durch politisch-theologischen Fundamentalismus aus einem dogmatischen Schlummer erweckt worden zu sein.

„An essential ingredient in the impetus that leads to my being here offering to lecture on the challenge of Islam comes from the Ayatollah Khomeini, and my discovery of my total inability to situate what was happening… and relate what was happening to our understanding of what was going on in the world…. There is a truth in saying that I owe it to Ayatollah Khomeini to have been, as it were, woken up from my dogmatic slumber, and required to consider the subject of these lectures“ (The Challange of Islam, 1).

Nicht zum barbarischen Außen, eher zu einer alternativen Interpretation dieser selben Tradition wird der Islam erklärt. Er wird zum Signum dessen, dass mit dem Christentum schon früh etwas kolossal schief gelaufen ist, zum Symptom dieses Defekts. Durch die Inferiorisierung judenchristlicher Strömungen, welche heute als die als Häresien verfemten des Gnostizismus und Doketismus und besonders Ebionitismus bekannt sind, bildet sich, nach Browns Darstellung, im transjordanischen Raum während des frühen siebten Jahrhunderts eine Sammelbewegung, die jenes Rejektierte zu einem Bollwerk gegen den Zäsaropapismus, den Kult des Schulterschlusses von Priester und König verdichtet. Es handelt sich um eine erste radikale politische Revolution, Aufstand und Aufbegehren gegen den Verrat an einem Versprechen durch falsche Kompromisse, die Brown auch als erste protestantische Reformation bezeichnet.

Taking an ecumenical view, appreciating a little better the symbiotic rivalry between „first worlds“ and „third worlds,“ and that „law of uneven development“ which makes yesterday’s „backward“ tomorrow’s challengers, we begin to see Arabia and Mecca in the seventh century c.E. as the dynamic frontier and link between, and refuge from, two superannuated empires, Roman and Sasanian. We begin to see the Transjordanian cultural matrix in which Islam was born as a refuge for the preservation of a variety of saving remnants from the Judeo-Christian tradition. There were on the one hand Jewish (including Samaritan) and Jewish Christian (Ebionite) refugees from the destruction of Jerusalem and later persecutions; on the other hand „heretical“ Christian deviations from conciliar orthodoxy and the Constantinian compromise: Monophysites, Nestorians, Jacobites; and more elusive, perhaps more pervasive, remnants of „Gnostic“ Christianity. In the Transjordanian alembic these saving remnants of the Judeo-Christian tradition interacted with bedouin resistance to imperialism to produce Islam. And not only the Judeo-Christian tradition took refuge in the desert from the triumph of Caesaropapism— also another essential element in the subsequent dialogue between Islam and Western Civilization: Greek philosophy. „When Justinian, in the year 529, closed the schools of philosophy through anxiety for the Christian doctrine, he did not realize that if he had let them continue, the anti-Christian philosophy would not have been in the least dangerous, because it would have perished of itself, but being compelled to emigrate toward the Orient, it would, centuries afterwards, exercise an influence upon Christian thought more powerful than he had ever feared.“‚ The death of Justinian brings us to the birth of the Prophet (c. 570 S.E.) (The Prophetic Tradition, S.49)

It is no accident that Hegel’s meditations on world-spirit, world-history, and world-religion, yield only a caricature of Islam. In the prophetic tradition, properly understood, Islam must be perceived as a legitimate dialectical response to the failure of orthodox Christianity. Protestants should be able to see that the need for a Protestant Reformation was there already in the seventh century c.E., to be perceived by prophetic eyes. Blakeans should be able to see that there is no way to accept „Again He speaks“ in Blake unless we accept that again He speaks in the Koran. It is time to discard the time-honored prejudice that treats Koranic theology as a confused echo of halfunderstood Jewish or Christian traditions, selected and polemically distorted to concoct a newfangled monotheism to supply „backward“ Arabs with a „cultural identity.“‚ New light is coming from two directions: on the one hand the more ecumenical vision of world-history represented by Hodgson; on the other hand a profounder appreciation of Judeo-Christian heresy, the alternatives eliminated by that triumph of orthodoxy which Hegel regards, as he regards all world-historical triumphs, as the triumph of God. Victrix causa deis placuit sed victa Catoni. (S.48)

Da das Verständnis der Gründungsszene des Islam ein Verständnis dessen, was häretische Gnosis meint, voraussetzt, geht es auch um den Umgang mit dem Triumph einer Weltlichkeit oder Verweltlichung als linear-teleologische Historizität, dem etwas sich kontrastiert, was als “mythisch” zu charakterisieren insofern in die Irre leitet, als damit eine Anleihe am Hellenismus suggeriert wird, der seinerseits aber von einem Synkretismus restrukuriert wird. Das Apokalyptische einer alle lineare Historizität aufsprengenden Unzeitigkeit des Jetzt.

Zudem und damit einhergehend: Die Tradition des allgemeinen Prophetismus, auf welcher zu bestehen Brown der islamischen “Idee” zuschreibt, kennt nur ein einziges Wunder. Und das ist das Buch. Jenes Buch im Besonderen, welches, wohl aufgrund seiner apokalyptischen Machart als unlesbar für westliche Raster vielfach bezeichnet worden ist. Den mit einer kaum zu überbietenden Einhelligkeit von westlichen Lesern als unlesbar verworfenen Koran.

We can read the Bhagavad-Gita in translation, and Confucius; we cannot read the Koran. Carlyle has perfectly articulated the response of every honest English- man: „I must say, it is as toilsome reading as I ever undertook. A wearisome confused jumble, crude, incondite; endless iterations, long-windedness, entanglement; most crude, incondite;-insupportable stupidity, in short! Nothing but a sense of duty could carry any European through the Koran…. With every allowance, one feels it difficult to see how any mortal ever could consider this Koran as a Book written in Heaven, too good for the Earth; as a well-written book, or indeed as a book at all.“ (The Apocalypse of Islam, S.69)

Im Zuge einer Untersuchung der 18. Sure legt Brown (dem es gleichzeitig zentral stets auch um die Darlegung der Bedeutung des Islam für die Theologie Blakes zu tun ist) im Fahrwasser der Analysen Corbins frei und vor dem Hintergrund der Bemerkung Massignons diese Sure sei die “Apokalypse des Islam”, was er für die in jener kryptischen Passage komprimierten Grundstruktur der Machart dieses Buches hält: den ahistorischen Synkretismus eines literarischen Raums, mundus imaginalis von Joyceianischer Dimension, Spielraum der Neuzusammensetzung kleinster Elemente sämtlicher Zeiten, die das homogene unilineare Zeitkontinuum sabotiert, zugunsten einer aufrührerischen Gleichzeitigkeit, für die das Hereinbrechen des Eschaton nicht das Ziel einer gerichteten Entwicklung sein kann, sondern in jedem Moment zu erwarten ist:

Massignon calls Sura XVIII the apocalypse of Islam. But Sura XVIII is a resume, epitome of the whole Koran. The Koran is not like the Bible, historical; running from Genesis to Apocalypse. The Koran is altogether apocalyptic. The Koran backs off from that linear organization of time, revelation, and history which became the backbone of orthodox Christianity, and remains the backbone of the Western cul- ture after the death of God. Islam is wholly apocalyptic or eschatological, and its eschatology is not teleology. The moment of decision, the Hour of Judgment, is not reached at the end of a line; nor by a predestined cycle of cosmic recurrence; es- chatology can break out at any moment. (86)

Joyce also: Und zwar geht es um jenen Joyce, der, mit subtiler Kenntnis, in Finnegans Wake nach Auskunft James S. Athertons und in seinem Buch The Books at the Wake 111 der 118 Suren zitiert. Finnegans Wake seinerseits erst, und die Leseerfahrung für die dieses kryptischste Buch literarischer Avantgarde öffnet, ermöglicht, geht es nach Brown, die Lektüre des Koran:

we are the first generation in the West able to read the Koran, if we are able to read Finnegans Wake. In fact Carlyle’s reaction to the Koran „a wearisome confused jumble, crude, incondite; endless iterations, long-windedness, entanglement“ is exactly our first reaction to Finnegans Wake. The affinity between this most recalcitrant of sacred texts and this most avant-garde of literary experiments is a sign of our times. Joyce was fully aware of the connection, as Atherton shows in the most exciting chapter of The Books at the Wake; I particularly like his discovery in the Wake of the titles of one hundred and eleven of the hundred and fourteen suras. (89)

Die traumwandlerische Gleichzeitigkeit einer Totalität historischer Elemente lässt eine andere Form von Geschichtlichkeit erscheinen, die eschatologisch strukturiert ist, ohne teleologisch im Sinne uni-linear zielgerichteter Fortschrittsbewegung, ohne ein Eins-nach-dem-Anderen zu sein.
Umstritten und kontrovers erscheinen muß neben vielem anderen heute vor allem die äußerst ungetrübte Einschätzung, mit der Islam und Marxismus zusammengerückt werden und in ihnen revolutionäres Potential erkannt wird, vor der Folie eines für Brown typischen spinozistisch-marxistischen Immanentismus des Einen-Geteilten:

“I end with a vision of two kinds of social criticism alive in the world today: Marxism and Islam. Two still-revolutionary forces. Two tired old revolutionary horses. Neither of them doing very well, but it would be a mistake to take any comfort from their failure. The human race is at stake. And they both, Marxism and Islam, would agree on one proposition: There will be one world, or there will be none” (12).

In besagter literarischer Gleichzeitig eines mundus imaginales jedoch tritt mit jener schon von Corbins Studie wie von Massignon ins Zentrum gerückten Figur des Kidr (oder al-Chidr), die mit Elijah teils gleichgesetzt, teils zum Paar ergänzt wird, eine rätselhafte, alle Zeiten durchreisende Gestalt in den Blick. Mysteriöser Fremder, der Mose erscheint als sein Führer und als Memento einer die rigide Gesetzförmigkeit der Schariah korrigierenden Transzendenz gelesen werden kann; Gerechtigkeit, die nicht mit dem Recht zusammenfällt. Als ein Exzess, der in nichts als der radikalen Immanenz der “spirituellen” Erfahrung des je Einzelnen und dessen singulärer, normativ nicht normalisierbarer Beschaffenheit und “Zielssetzung” besteht. In Corbins Worten liegt die Funktion des Kidr darin:

„to reveal each disciple to himself… He leads each disciple to his own theophany…because that theophany corresponds to his own ‚inner heaven,‘ to the form of his own being, to his eternal individuality… Khidr’s mission consists in enabling you to attain to the ‚Khidr of your being,‘ for it is in this inner depth, in this ‚prophet of your being,‘ that springs the Water of Life at the foot of the mystic Sinai, pole of the microcosm, center of the world.“ (Corbin, Alone with the Alone, 61)

Einiges deutet darauf hin, und Brown spart nicht mit derlei Suggestionen, dass anarchisches Potential, so es vorhanden ist, in dieser seltsamen Un-Figur der De-Determination zu suchen wäre, sofern sie alle interpretatorische Indienstnahme als Mittel zum Zweck des Einzelnen wie des Textes (und eben des Einzelnen als Textes) je schon sabotiert, zugunsten einer anderen Gerechtigkeit und Angemessenheit, die von politisch-theologischen Systematisierungen je schon verraten wird.

*

Schreibt ein Rezensent über das Buch Sex, Djihad und Despotie: Zur Kritik des Phallozentrismus von Thomas Maul, “mit einem umfangreichen Studium der Quelltexte (Koran, Sunna, Hadith- Sammlungen, Fatwas, Scharia Texte)” gewähre “der Autor einen Blick in eine fremde, teils bizarre Welt voller Regelungen und Strafzwänge.”, dann wäre zum einen zu fragen, inwiefern auch die als dominantes Gegenparadigma sich instituiernde rechtsstaatliche Weltgesellschaft des Kapitalismus als — neo-evangelisch-protestantischer — Religion nicht gerade auf dieser delimitierte Abundanz an Normativität mit damit verbundenem exekutiven Exzess (konfessionell, das heißt: mit dezidiertem Bekenntnis) beruht. Und ob nicht, zweitens, der Blick auf jene apokryphen prophetischen oder angelischen Figuren überhaupt all solche Öffnungen stets gewährleistet hat, die darauf hinweisen, dass das positiv als verbindlich Statuierte schon Niederschlag der Heimsuchung durch eine andere Offenbarung war.

To start a new civilization is not to introduce some new refinement in higher culture but to change the imagination of the masses, the folk who shape and are shaped by folklore and folktales.

Dass “der Westen” sich dem Islam in dem Maße gleichsetzt, wie er sich ihm entgegensetzt ist das Verblüffende Fazit gegen Ende der Traurigen Tropen von Levi-Strauss. Verblüffend vor allem deshalb, weil es auf Passagen der harschen Kritik folgt, die ein Unbehagen an dieser Kultur über weite Strecken unverblümt zum Ausdruck bringen.

Die Gründe für dieses Unbehagen, das ich in der Nähe des Islam verspüre, kenne ich nur allzu gut: in ihm finde ich die Welt wieder, aus der ich komme; der Islam ist der Westen des Orients. […] Ich verzeihe es dem Islam kaum, daß er mir unser eigenes Bild vor Augen führt […] (Traurige Tropen, 401)

Browns Buch eignet sich für eine Rekomplizierung der Problematik vortrefflich. Und zwar das Wort derart verstanden, dass ein höchst notwendiges Gewahrwerden von komplexen Komplizitäten durch es ermöglicht wird, die das Andere im Einen nicht als das beruhigend Gleiche erkennen lässt und genauso wenig in ihm nur das schlechterdings Verschiedene erblickt. Sondern einen wider Willen Verbündeten und damit Gleichen erahnt; Verbündung, die darin liegt, dass das je eigene in nichts anderem sich findet als einer für alle Arithmetik integritätshöriger Integralismen verstörend-verwickelten Inhärenz des Anderen im Selben. Vielleicht ist dies das Unbehagen in und an der Kultur, der bis in den offenen Selbsthass reichende Argwohn und Ingrimm einer öko-nomischen Kultur des Eigenen und Selben an sich selbst, welches am dringlichsten der Durcharbeitung bedürfte, sich aber auch am hartnäckigsten gerade einer solchen widersetzt.

Tillmann Reik

 

Alenka Zupančič: The Odd One In: On Comedy

Vis Comica — Inkonsistenz des Zweins

Hegel « il ne sut pas dans quelle mesure il avait raison ».
Et tort d’avoir raison.1

Jedenfalls ist sie selbst, wie auch die Komödie, ursprünglich von Stegreifversuchen ausgegangen und zwar jene von dem Chor, der den Dithyrambus anstimmte, diese von den phallischen Liedern, die sich ja bis auf den heutigen Tag noch in vielen Städten im Gebrauch erhalten haben. (Aristoteles, Poetik)

Überraschend erwartbar

Intensifikation und Übertreibung sind ihre bevorzugten Mittel; die überzeichneten Körperlichkeiten schon der commedia dell´arte, „durch Masken, künstliche Bäuche, Stirnen, Lenden und Buckel – wenn nicht gar Phallen“ (Borchmeyer), stehen dafür ein. Wenn nicht gar Phallen, die demonstrativ das monströse Zeichen-Zeigen der Sem- und Somiose selbst zeigen und bezeugen — nicht Bestimmtes bedeutende reine Bedeutsamkeit — und damit nichts anderes exhibitionieren als eine Scham der Bloßheit:

This theory of the origins of comedy is widely accepted, and strongly corroborated by (documented) conventions of the staging of comedies in the early days: the actors often wore costumes to which big leather phalluses were attached, sometimes additionally highlighted by being painted, for example, in red. (213)

Am Ende fügt sich jedenfalls alles — darum, um diesen glücklichen finalen Fug, geht es doch zunächst, denkt man, das ist der Witz, besser: der Witz des Witzes, die das Lachen triggernde punchline — den Erwartungen gemäß paarig zu jedermanns Zufriedenheit und keinerlei Wünsche bleiben offen. Erfüllung. Gelingen. Befriedigung sämtlicher Bedürfnisse. Grenzenloses Vergnügen. So soll zum Beispiel auch zu guter Letzt im Dénouement der Knoten einer peinlichen Verwicklung, Verwirrung und Verkennung sich lösen und das Happy End als telos in einer oder mehrerer Eheschließungen (oder der Anagnorisis), den Beteiligten angemessenen Neu-Bindungen also, konkludieren. Besagen jedenfalls manche Theorien, welche sich von der Tragödie des Verschwindens der Aristotelischen Schrift über die Komödie — des zweiten Teils von dessen Poetik, deren Fehlen, als Gründungstext, vielleicht gerade der Witz, der springende Punkt, also das Herz dessen ist, worum es geht, diese konstitutive Dislokation —

„καὶ ὅσον στιγμὴ αἱματίνη ἐν τῷ λευκῷ ἡ καρδία. Τοῦτο δὲ τὸ σημεῖον πηδᾷ καὶ κινεῖται ὥσπερ ἔμψυχον, …“

„und ähnlich einem blutigen Fleck in dem Weißen [erscheint] das Herz. Das Mal aber hüpft und bewegt sich gleich wie [beseelt] lebendig, …“

– Aristoteles (384–322 v. Chr.): Geschichte der Tiere (Historia Animalium), Buch VI, Kapitel 3, 3./4. Satz

die Komödie lässt sich nicht gründen — die gute Laune nicht verderben lassen und weitestgehend frohgemut das Muster, was der Stagirit fürs tragische Genre vorgelegt hat mit inversen Vorzeichen fürs Komische ergänzen. Das heißt, es wird mit einem als Komplement vorgestellten Addendum vermeintlich symmetrisch vervollständigt. Als ob sich dann, zur Gänze, zwei Hälften des Dramas gefunden hätten, gemäß dem Mythos vom perfekt passenden Gegenstück, das der Komödiant Aristophanes im Platonischen Symposion wirkungsvoll als eine (in ihrer Komplexität meist unterschätzte) Geschichte von Schnitten in Szene setzt. So nachhaltig das Paradigma für eine Logik der Komplementarität gründend, dass dessen womöglicher Unfug über den Fug noch heute vielfach für deckungsgleich mit Platons Lehre selbst erachtet und somit vielleicht, auf tragisch-komische Art, gehörig verwechselt wird. Denn stimmt das wirklich, dass zunächst die Komödie das einfache Gegenstück zur Tragödie und das Spezifische der Komödie und des Komischen im Allgemeinen darin zu finden ist, dass am Ende alles stimmt, passt, rundweg aufgeht, keine Wünsche offen bleiben und jedes Töpchen seinen Deckel gefunden haben wird? Oder ist das Unfug, mit dem der genuin subversive Zug des komischen Unfugs, sein Schräges und Verqueres, Erwartungs-Inkongruentes, nicht gefasst werden kann, eben weil es dieses um der logischen Konsistenz willen begradigt? Stabile Kategorien anwendet für die Beschreibung einer fundamentalen Destabilisierung und Subversion aller Kategorialität und damit Humor von einer intellektuellen Resistenz zur konservativen Versöhnlichkeit mit dem status quo neutralisiert?

Besteht der desidentifikatorische Witz des Witzes überhaupt demgegenüber nicht vielmehr darin,

the moment in which substance, necessity, and essence all lose their immediate—and thus abstract—self-identity or coincidence with themselves” (p. 34)

dass etwas, in unvorhersehbaren Trouvaillen der Serendipität, sich findet oder ergibt, was keineswegs gesucht worden ist, was uneingeladen und ungelenk hereinbricht und die bestehenden Koordinaten, die Symbolische Ordnung und den Großen Anderen in die Schwebe versetzt, temporär vom Dienst suspendiert oder sogar nachhaltig verschiebt und die derart ihrerseits von ihren sonstigen Ämtern im Leben freigestellten mit offenem Munde darstehen lässt? Münder wie klaffende Schlünde, weil der Riß, die Inkongruenz im Herzen des Symbolischen — glücklich– sich freisetzt? Glück, Gelücke, als die Lücke innewerden lässt, die jeden Zug regellos durch ihr Un- öffnet? (Wenn auch auf wiederum so vertrackte Art, dass das Überraschende darin besteht, dass etwas gar nicht so Überraschendes eintritt: der Liebhaber im Schrank sich findet oder ein nackter Hintern unter einem Rock.) Darin ähnlich einer Liebesbegegnung.

At this point we could perhaps draw a parallel between jokes and love encounters: could we not say that the love encounter is structured like a good joke? It always involves a dimension of an unexpected and surprising satisfaction, satisfaction of some other demand than the ones we have already had the opportunity to formulate. That is to say: we can very well set off on a date with the explicit intention of finding ourselves a “partner,” or even falling in love.Yet if this happens, if something like a genuine love encounter takes place, it still always surprises us, since it necessarily takes place “elsewhere” than where we expected it, or intended it to take place; it takes place, so to speak, along “other lines.” We look in one direction and it comes from the other, and it satisfies something in ourselves that we didn’t even demand to be satisfied. This is why a love encounter can be quite upsetting, and is never simply a moment of pure happiness (where everything finally “adds up”). It is always accompanied by a feeling of perplexity, confusion, a feeling that we’ve got something that we don’t know exactly what to do with, and yet something rather pleasant.

Einer Art Epoché noch der husserlschen Epoché gemäß, die im Namen des Sinns von allem Unerheblichen absehend ihre Einklammerungen vornimmt, Reduktion der Reduktionen, die ein etabliertes struktural-symbolisches Sinngefüge dem Sinn wie der Sinnlichkeit auferlegt hat und damit eine Versetzung in die Schwebe, der gegenüber sich jede Versöhnung wie ein schwerfälliger Rückschlag ausnimmt. Reduktion auf die von allen Reduktionen befreite Reduktion selbst.

Auf der Suche nach einer Phänonemologie des Geistes, der — nicht nur den Namen der Spirtuose und des Digestivs, jener (wie das Humide des Humors) liquiden Liköre2, tragend, dem Zugleich von Rausch,Taumel und Ruhe verschrieben sich erweist:er ist die (Un)Ruhe —

Das Wahre ist so der bacchantische Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist, und weil jedes, indem es sich absondert, ebenso unmittelbar auflöst, – ist er ebenso die durchsichtige und einfache Ruhe.

als spirit, ésprit und schließlich Witz vom Gang durch die Fremde zu sich selbst zurückkehrt bietet sich ein Hegel als Gewährsmann an, dessen kapitale Kapitelüberschriften (des gerade genannten Werkes) wie perfekte Komödientitel fast Shakespearschen Formats anmuten (“Die Lust und die Notwendigkeit”, “Die absolute Freiheit und der Schrecken.”, “Das Gesetz des Herzens und der Wahnsinn des Eigendünkels.” ). Bis hin zum Absoluten Wissen als — und das ist nicht ironisch gemeint — absolutem Witz.

the ultimate comedy (and this is not meant ironically!) bearing the title “Absolute Knowledge.”

Das absolute Witzeln wäre der Gag, der seine Vermittlungs-Mittel (ent)-heiligt.

Dass Hegel nicht wusste, in welchem Maß er Recht hatte, Verstand hatte, in den Griff bekam und die Oberhand gewann (avoir raison), wie sehr er also unrecht hatte damit, so sehr recht zu haben, wie schwach er war darin, so stark zu sein, konnte Bataille zu einem souveränen (und das heisst, weder Herrschaftlichem noch — denn er, der Servus ist der Server und Konservierer, die Wahrheit und der Bewahrer seines Herrn — Knechtischem) gelösten Lachen provozieren, ein Kichern auslösen. Aber es ist nicht sicher, ob das Absolute im Moment seiner letzthinnigen Selbstbegegnung nicht ebenso — weniger unendlich wohlgemut als hysterisch-albern — die Fassung verlieren wird und immer schon und immer noch nicht wird verloren haben. Denn es wird nicht zu sich passen. Das Allgemeine wird sich als der Idiot der Familie erkennen, die aus nichts als ihm selbst besteht; aus nichts als Idiotie, der Oddity (Eigenartigkeit, Seltsamkeit, Kuriosität, aber auch Widrig- und Ungeradheit) der Eins. The Odd One, eine K(eins) oder ein Zweins für die folgende schräge Formel maßgeblich ist:

We could say that the singular mathematics of comedy is based upon the following axiom:

½ + ½ =1 + x (where x designates what I call the comic object).

Nochmals freiheraus gesagt (also unter Verwendung der rhetorischen Figur, die vorgibt, keine rhetorische Figur zu sein, Parhesia) ist das Allgemeine so idiotisch wie seine individuelle Erscheinung.

This is to say—and to put it bluntly—that the universal itself is precisely as idiotic as its concrete. and individual appearance.

Dass Alenka Zupancic in ihrem Buch, das Hegel viel verdankt, und oft auf ihn zu sprechen kommt, die einschlägige Passage aus der Ästhetik nicht zitiert, in der sich die Wendung von der “unendlichen Wohlgemutheit” findet, der David Forster Wallace Romn Infinit Jest beinahe seinen Namen verdankt — in Wirklichkeit stammt er aus Hamlet 5,1 –, sondern nur im Vorbeigang erwähnt

In his lessons on aesthetics, Hegel points out that to the comical belong an infinite good humor and trust.

verwundert.

Zum Komischen dagegen gehört überhaupt die unendliche Wohlgemutheit und Zuversicht, durchaus erhaben über seinen eigenen Widerspruch und nicht etwa bitter und unglücklich darin zu sein, die Seligkeit und Wohligkeit der Subjektivität, die, ihrer selbst gewiß, die Auflösung ihrer Zwecke und Realisationen ertragen kann. Der steife Verstand ist dessen gerade da, wo er in seinem Benehmen am lächerlichsten für andere wird, am wenigsten fähig.

Den eigenen Widerspruch, über ihn erhaben, glücklich ertragen, die Ruhe und Gelassenheit nicht aus einer Konsistenz mit sich, der Selbst-Übereinstimmung und Widerspruchsfreiheit, sondern allenfalls der Konsistenz einer Inkonsistenz zu beziehen und der Einwilligung in diese ungelöste Paradoxie als das andere, unverfügbare im Selbst, was dieses Selbst ausmacht: diese Charakterisierung einer “komischen”, humorvollen, gelösten, gelassenen Subjektivität (freilich immer in der Gefahr allzu behäbiger Selbstzufriedenheit) spart Zupancic aus, trotz ihrer Verweise auf das Genießen des Phallus. Damit liegt sie nah an der romantischen Ironie.

In jenem ursprünglichen Sokratischen Sinne […] bedeutet die Ironie eben nichts andres, als dieses Erstaunen des denkenden Geistes über sich selbst, was sich oft in ein leises Lächeln auflöst. (Schlegel)

Der Steifheit des Verstandes-Ständers in seiner unkaputtbaren, stehaufmännchenhaften Lächerlichkeit könnte als eine der Erscheinungsformen von Zupancis Paradebeispiel fungieren:

To take a kind of archetypal example: a toffee-nosed baron slips on a banana peel (thus demonstrating that even he is subject to the laws of gravity), yet the next instant he is up again and walking around arrogantly, no less sure of the highness of His Highness, until the next accident that will again try to “ground” him, and so on and so on.

Aber worum es hier geht, ist noch etwas anderes: die Unpassendheit des Ego und des Es. Denn eine gewisse Obstination, eine Preservanz, das beharrliche Zurückkommen und Sich-Wiederholen von etwas, das allen Versuchen, es zurückzudrängen Paroli bietet, in Zusammenhang mit einer Unzerstör- und Verletzbarkeit sind Charakteristika, die sich durchhalten. „Das Begehren ist nicht tot zu kriegen.“ Zusammen mit einer Mechanizität dieser Repetition, die wirkt als sei sie dem Leben aufgeproft. Bergsons Definition des Komischen lautet denn auch genauso: du mécanique plaqué sur du vivant. Nur erweist sich das Mechanische weniger als dem Leben und seiner Spontaneität aufgepropfte, es entfremdende Technizität, denn als dessen eigenstes Un-Prinzip: Todestrieb und/oder Wiederholungszwang. Die Unzerstörbarkeit etwa der Comic-Helden ist das Untote eines Lebens/Tods, das in schlechter Unendlichkeit nicht aufhört (nicht) aufzuhören.

The comic universe is, as a rule, the universe of the indestructible (this feature is brought to its climax in cartoons, but is also present, in a more subtle way, in most comedies).Regardless of all accidents and catastrophes (physical as well as psychic the concrete universal or emotional) that befall comic characters, they always rise from the chaos perfectly intact, and relentlessly go on pursuing their goals, chasing their dreams, or simply being themselves.

Ein Begehren, das nicht totzukriegen allerdings, das dann dieser glückvollen Betrachtung zugänglich ist, nicht den verzweifelnden, ausweggslosen Zug der stupiden Repetition zu markieren, sondern deren hoffnungsvollen Aspekt hervorkehrt.

in comedy, the universal is on the side of undermining the “universal”; the comic movement, its “negative power,” is the movement of the universal itself (and precisely as movement, this universal is also the subject). (Linguistically,we are very well aware of this: language recognizes that comedy, precisely in its materialism, is a matter of spirit; this is evident in numerous terms that link the comic mode with spirit—in the broad sense of mental capacity. Let me mention just a few: wit in English;4 geistvoll or geistreich in German, as well as witzig and Witz, which have the common root with the English wit; French is especially eloquent in this regard—avoir de l’esprit, être spirituel, faire de l’esprit, mot d’esprit, or just simply esprit.)

*

the comic can be a very good introduction to the psychoanalytic notion of the drive: the bottom line of both is that repetition is life, or perhaps more precisely that life is the inherent gap opened up by repetition itself (140)

Dass bei Zupančič in letzter Instanz alles auf Geschlechtlichkeit als einer basalen Spaltung und Inkonsistenz, als einer Nicht(mehr und noch nicht)-Eins, hinausläuft, welche keine Antwort auf alle Fragen bietet, sondern die Fraglichkeit selbst darstellt — eine Ontologie der Sexuierung entfaltend, wie sie in ihrem späteren Buch näher ausgeführt wird — zeigt sich im dem Phallus als essentiellem Appendix gewidmeten Schlußkapitel. In „What is Sex?  wird durch die ontologische Frage nach diesem ganz und gar anontologischen, da selbst-widersprüchlichen und Inkonsistenten, Sexuierung selbst zum „Gegenstand“ eines Materialismus. Es ist eine Sexualität, die umso sexueller, umso sexier wird, je mehr sie sich von einer bloßen reproduktiven Kopulationsfunktion entfernt: ursprüngliche Widernatürlichkeit, primordiale Perversion aller Substanz. Im gleichen Zuge steht hier Komödie, nicht Genre des Endlichen, sondern des Unendlichen, ein für einen Materialismus, sofern sie „“gives voice and body to the impasses and contradictions of this materiality itself“ (47). In der Darstellung der frappant inkongruenten Unrealistik ihrer Handlung liegt überdies ihr Realismus.
Welche Rolle spielt hier der Phallus, versteht man ihn als Signifikant der Kastration, nicht den eines vollen Genießens und der Fruchtbarkeit (obwohl er, „natürlich“, im imaginären Register immer als dieser Garant von Möglichkeit und All-Potenz fungieren wird, welche den Riß gerade verschleiert),

In the imaginary register, the phallus is put up as the ultimate veil of castration—the position from which it draws its power to fascinate.“You want to see? Look at This (and you won’t feel the need to look any further)! (202)

„as the ultimate comic reference“ (191)? Er steht, kann man vielleicht sagen, für die (Un)Fuge. So sehr, dass die Komödie als Genre der Copula (oder: des (Un)Fugs) — einer Relation ohne Relation — bezeichnet werden kann, deren privilegierter Signifikant eben jener Phallus in seiner Janusköpfigkeit immer gewesen war?

To be the odd one out: das meint, abseits stehen, nicht dazugehören, überzählig und übrig, das fünfte Rad am Wagen sein. Was behauptet sich also, laut The Odd One In,  in der Komödie, against all odds, als das ausgeschlossene Wiedereingeschlossene von seiner ganz untragischen Seite als lösend-lassend Ermöglichende: die Diaporie, mit anderen Worten: Eros?

 

Tillmann Reik

1 Derrida, Bataille zitierend und ergänzend: L’ÉCONOMIE GÉNÉRALE, in: L’écriture et la différence

2“ L’esprit, comme on le sait, ne dénomme pas par hasard les liqueurs les plus fortes, les esprits de vin ou les spiritueux à la confection desquels président une fermentation ou une distillation, processus destinés à dégager une essence, c’est -à -dire la vérité pure, idéelle et sensée d’une substance concrète, opaque et sensible. L’esprit ou la liqueur, la liquidité ou la liquoricitéde l’esprit ne représente rien d’autre que la sensibilité de l’insensible, la sensualité exquise du Sens pur: véri té, transcendance, di vini té, révélation, extase.” (Jean-Luc Nancy, Ivresse)

Alain Badiou: Number and numbers

Verästelte Numerosität. Zahlen teilen: Null.

Nun (Or) haben aber die Nombres als Zahlen keinen Sinn, sie haben rundweg (carrément) keinen Sinn, nicht einmal einen pluralischen. […] In ihrer Bewegung zumindest (die Schrift im Quadrat (au carré), die Schrift der Schrift, die durch die vier Oberflächen hindurchgeht und aus dem primären Grunde nicht vielstimmig ist, weil sie von ihrem Wesen her nicht in der vox, im Wort ihren Ort hat) haben die Nombres keinen gegenwärtigen oder bedeuteten Inhalt. A fortiori auch keinen absoluten Referenten. Deshalb zeigen sie auch nichts, erzählen sie nichts, repräsentieren sie nichts, wollen sie nichts besagen. (Derrida, Dissemination)

In our situation, that of Capital, the reign of number is thus the reign of the unthought slavery of numericality itself. Number, which, so it is claimed, underlies everything of value, is in actual fact a proscription against any thinking of number itself. Number operates as that obscure point where the situation concentrates its law; obscure through its being at once sovereign and subtracted from all thought, and even from every investigation that orients itself towards some truth. (Badiou, Number and numbers, 213)

Eine Zahl bezeichnet die Anzahl der Einheiten, aus denen etwas besteht. (Euklid, Elemente, Buch 7, Definition 2)

I.

“Doch die Verhältnisse..”

“Alles ist Zahl”

Gibt es, hier und jetzt und, wie es scheint, bis auf Weiteres: immerdar, einen ewig aktuellen Neo-Pythagorismus der kultischen Zahlenverehrung? Niederschlag einer gleichsam sich für prästabilierte kosmische Harmonie ausgebenden zeitlose Mode, damit einhergehend, dass, was die Zahl, über ihre Funktion als Instanz des Maßes, Messens und der Bemeisterung zur Herstellung einer Ordnung, im Modus des Rechnens und Zählens, ist, in dieser Ideologie gerade nicht gedacht werden darf? „Womit wird da gemessen und gerechnet? Was wird, als Mittel, in den Dienst der Zwecke von Kalkulationen gestellt?“ wäre diesem „Denken“ das Anathema. Ist Seinsvergessenheit folglich als eine Weise der Zahlvergessenheit zu bedenken?

„Was sind und was sollen die Zahlen?“ (Dedekind)

Die Rede wäre somit von einer Ära des Despotismus, wenn nicht Tyrannei der Zahlen, in der vollen Ambivalenz des Genitivs: In heutiger Zeit soll, dieser Erzählung gemäß, die von Kritikern wie Apologeten des früher “das Bestehende”, “die Verhältnisse” oder sogar “Kapitalismus” genannten Weltzustands zumindest in Teilen geteilt wird, in Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Rechtswesen (oder Politik als von Medico-Technoscience unterfütterter Rechts-Wirtschaft) mit immer weiter steigender Tendenz, nur noch jenes zählen, was gezählt, was also, wie etwa (das Beispiel aller Beispiele) Geld, in Gestalt von Zahlen abgebildet werden kann. Und sonst: nichts.

That number must rule, that the imperative must be: ‚count!‘ – who doubts this today?

What counts – in the sense of what is valued – is that which is counted.

Meinungsumfragen, Wahlen, Finanzökonomie, empirische soziologische Statistiken, medizinische Studien, etc., führen, in den Charts auf ihren Displays und Screens, eine probabilistische Vorstellung von Wahrheit vor Augen, die sich auf die Macht der größeren Zahl und die Majestät der Majorität gründet, aber zunächst auf Zählbarkeit alles Seienden überhaupt und der Identifikation mit dieser Zählbarkeit — d.h. Identifikation der Identifizierbarkeit von Identitäten — und dem “Wert” beruht. Ohne Rest muss in bürokratisch-administrativen Prozessen verbucht werden, denn auch dieser wird, obwohl er stets anfällt und als ärgerlich unprozessierbarer Rückstand “bleibt”, von sorgsam entsorgenden Kalkülen recyclend in verwaltende Verwahrung genommen. Wie etwa zuletzt die “Würde des Menschen”, als ein bei der Produktion anfallendes Abfallprodukt, von beispringenden Rechtsinstituten zwar geschützt, aber jenes undefinierbar Inkommensurable, was so betitelt, bemessen und bewertet wird, gegenüber diesem Schutz (der wie alles Gutgemeinte das Gegenteil von gut sein könnt, sofern er eben unvermeidlich jenes betreibt, was er abwehren will) und dessen Zurichtung wehrlos bleibt; dem Schutz ausgeliefert und einen Rest lassend, den dieser Schutz gerade verfehlt.

Kann man diesen übrigbleibenden Rest, der fürs Kalkül und seine Operationen nicht zählt als das Zahlhafte selbst ansehen?

Dass etwas zählt, d.h. wert ist, mit einbezogen zu werden (Mitgliedschaft und Zugehörigkeit in “Klassen”, ob sie noch so heissen oder nicht, spielt dafür, dass sie, solang Klassifizierzung und Deklassierung vorkommen, eine Rolle spielen, keine Rolle), überhaupt etwas wert ist, gelten und irgendwo dazu gehören darf, meint dann ausschließlich, dass man, zum einen, in diesem Sinne auf es zählen (also bauen und gründen) kann, dass es ein zureichend zuhandenes, tragfähiges, fungibles und vor allem selbst-identisches Element der Manipulation darstellt. Sowie zum anderen, dass es von Bedeutung, von Belang ist für Zwecke der Verwertung, der Verrechnung, in kalkulatorischen Operationen, die sich rechnen, also nicht nur aufgehen, sondern gewinnbringend einen Kapitalstock mehrend amortisieren müssen.
Kapital ist, der Marxschen Definition zufolge, Mehrwert heckender Wert. Oder kürzer, in der vollen Tautologie seines Phantasmas reinen zirkulären, reflexiven Selbstbezugs: Kapital ist sich selbst heckendes Kaptital. “Heckung” eines als Identitätspol fetischisierten kapitalen Selbst, das sich selbst, wiewohl zugleich im Zentrum stehend, als immer größere Einheit aller Einheiten umschließen will. Kapitalismus mutet dann also an wie der Fruchtbarkeitskult der integren Eins als monarchischer Primus inter pares, wie er sich schon in der Euklidischen Bestimmung der Zahl niederschlägt, die der metaphyischen Idealisierung der souveränen Eins und des Einen, das mit sich ein und dasselbe ist, verschworen ist. Mitsamt deren Aporien, die darin z.B schon liegen, dass das All-Eine, das aus identischen Ein(s)heiten besteht, von strukturell anderer Beschaffenheit sein muss als das, was es beinhaltet. Es kann keine Zahl sein und muss jenseits ihres Feldes verortet sein. Die Griechen kannten keine Null; aber für den späteren Neoplatonismus und die Mystik nähert sich dieses Eine immer mehr der arabischen Null an. („Euclid’s definitions show how in the Greek conception of number, the being of number is entirely dependent upon the metaphysical aporias of the one.“ Badiou, Theoretical Writings).

„It could be, certainly – and Neoplatonist speculation appeals to such a thesis – that the ineffable and archi-transcendent
character of the One can be marked by zero.“

0

„Im zinstragenden Kapital ist daher dieser automatische Fetisch rein herausgearbeitet, der sich selbst verwertende Wert, Geld heckendes Geld, und trägt es in dieser Form keine Narben seiner Entstehung mehr.“

Einer generalisierten Numerik mit ihren alle Lebensbereiche durchdringenden Algorithmen geht es dann auch vornehmlich um eine maschinelle Reproduktion stabiler Problemlösungsmechanismen, die, durch abweichungslose Wiederholung, die Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit, welche “Zukunft” im emphatischen Sinne eignet, Kontingenz, die durch alle Rechnungen einen Strich macht, absorbiert und tilgt. Die Differenz, die jeder Wiederholung einher geht, minimierend und die Abweichung, den status ante herstellend, rückgängig machend oder aussortierend, sofern sie sich nicht aneignen lässt. Als universelle Programmatik der Programmierung kann folglich aber Kultur im Ganzen betrachtet werden (und wohl auch die nach diesem idealistischen Paradigma konstruierte “Natur” und ihrer Wissenschaft mit ihr: der Bereich des Kommen und Gehens von etwas, das auf sich selbst zurückkommt), und was die jüngste Zeit von der entfernteren Vergangenheit unterschiede, wäre vor allem das Raffinement einer immer sophistizierter und vollendeter (d.h. lückenloser) sich ins Werk setzenden abrundenden Schließungbemühung Einunddesselben, die den Nebeneffekt hat, in ebenso gesteigertem Maß Aus- wie Unabgeschlossenes, Devianz und Unwucht zu re-produzieren. Bedeutet Kapitalismus also (entgegen dem Anschein, den das Gewimmel einer Unzähligkeit von Kursschwankungen anzeigender Zahlen im täglichen Leben suggeriert) vor allem, die Verknechtung der Zahlen unterm ideologischen Primat und Prinzipat der Eins, dessen einzigem, die Konsistenz des “Zustands” sichernden Gesetz? Eine Indienstnahme, für die Unzähligkeit und Unzählbarkeit gerade nicht zählten?
Durch sie, diese „Ideologie“ würde unterschlagen, dass sich in jeder Eins nichts anderes in einer Markierung zu begrenzen und in einer repräsentativen Figur zu sammeln versucht als eine irreduzibel mannigfaltige Streuung. Die Eins, die gezählt wird (und als eine 1 hypothetisch gesetz wird), ist Effekt der Bemühung, eine einer inkonsistenten Vielheit (der Null oder Leere?) ausgeschnittene Menge zu bannenund benennen, im Namen, der Begriff ist, zu fassen und nehmen. (Die englische number aus dem lateinischen numerus stammend, teilt mit dem Namen sodann auch die Wurzel im griechischen nemein.) Dabei, im Eigen-Namen, aber eher die Unizität, die Einzigartigkeit, die Singularität benennnt als die Einheit, die dennoch als Phantasma im Moment des “Verrats” an die Ordnung des Allgemeinen (das eine Allgemeine der vielfachen Einheiten) entspringt. Es gibt — wäre dann das “Gesetz” aller gesetzten Zustände — Versammlungen, Für-Eins-Zählungen, sie sind möglich als jeweilige ausgeschnittene Kollektionen von unzählbar und unversammelbar Mannigfaltigem. Aber es gibt nicht das Eine als Gegebenes, und Vorliegendes, keine letzte, totalisierende Versammlung dieser Versammlungen, was das ver-raumzeitlichende Differenzierungsgeschehen als eines charakterisiert, das nicht mit sich identisch ist und diese multiple, dissipative Inkonsistenz zur Ermöglichung braucht. Es gibt nicht das Eine, es gibt (Un)Stetigkeit des sich entwischenden Nicht-Einen. Ein Geben gibt es, was ein Teilen ist (aber ist ein Teilen, ein Teilen, ein Einteilen?). Es gibt ein „Es gibt“ von nichts. Es gibt: Sprache.

Was bedeutete nunmehr, dass sich jede mathematische Entität als Menge, Klasse, System (also die Einzahl einer Vielzahl) darstellen lässt, wenn nicht, dass es unendlich zusammengesetzt und also unendlich zerlegbar zu denken ist. Dass es die aporetische Einheit einer Uneins, einer nicht-einshaften unendlichen Zerteilbarkeit ist?

II.

Von der Setzung muss gesagt werden, dass sie das Indefinite, das sie durch die Markierung der Eins begrenzt, in diese Markierung selbst einträgt. Die Markierung erweist sich in ihrer Aporie als de-markiert, die Setzung als einem Anderen aus-gesetzt, die Definition als indefiniert. Die Eins und deshalb jede weitere Zahl (mit der problematischen Ausnahme der Null) erweist sich daran, dass sie sich selbst nicht zählen kann, als eine Markierung, die weder dem Begriff der Zahl noch auch dem der Markierung genügt, sofern dieser Begriff Einheit und Existenz postuliert. Daran, dass die Eins von sich selbst nicht gezählt werden kann, zeigt sich somit nicht nur die Gegenstandsungewissheit der Zahl, sondern ihre Inexistenz als Zahl: Es gibt keine Zahl Eins, die von der Zahl Eins gezählt werden könnte; Eins ist nicht. (Entsprechendes gilt von allen Zahlen, weil alle mit der Eins oder einer entsprechenden numeralen oder nominalen Einheit operieren müssen.) Die zwingende Folgerung aus diesem Befund lautet, dass die Zahl selbst zahl-los, unzählbar, also in striktem Sinn un-endlich und nicht-seiend ist. Wenn Zahlen dennoch operationsfahig sind, so nur unter der Bedingung, dass jede zählt, ohne gezählt zu werden. Eine Zahl zählt nur, sofern sie reine Setzung und also nicht in ihrer Applikations-oder Selbstapplikationsfähigkeit fundiert ist. Ihre Operationen lassen sich nur auf die Zählungsfunktion, nicht auf eine Substanz der Zahl aufbauen. Die Thesis Eins ist Hypothesis. Sie erschöpft sich in Operationen. (Hamacher, Heterautonomien)

Auf die Frage also:

Doch wenn nur die Zahl zählt,die Zahl aber der Name für etwas Zahlloses und Unzähliges ist, warum zählen Zahlen, von denen es unzählige zu geben scheint, überhaupt und wie und was? Sich selbst, also ein Nichts und eine Unendlichkeit?

wäre die Antwort, die Zahlen als Anzahlen und Mengen, Mannigfaltigkeiten, also sektionierte Kollektionen einer dissipativen, inkonsistenten Unzähligkeit nimmt, dass eine “1” nichts anderes darstellt, figuriert und zur Gestalt ein-bildet als den Namen der Menge (oder Nahme), die Null enhält. Desweiteren “2” den Name der Menge, die 0 und 1 enthält, und dies in alle Unendlichkeit fortsetzbar. Unableitbar, da als Axiome vorausgesetzt, wären dann die Null und das Unendliche. Oder: die Null als Unendliches?

Ob Zahlen, nach Dedekind zunächst “freie Schöpfungen des menschlichen Geistes” als “Mittel, die Verschiedenheit der Dinge leichter und schärfer aufzufassen” etwas jenseits von Kalkülen und Verrechnungen, in die ihre Freiheit gebunden und verkettet wird, erzählen („tell“ und „tale“ sind das selbe Wort: Zahl) über sich oder von Anderem, könnte dann immerhin beantwortet werden mit einer Vermutung: Sie erzählen, ohne etwas zu bedeuten, nicht nur von der (Selbst)-Verschiedenheit der Dinge, sondern von der stets abwesend-anwesenden Unendlichkeit und der Leere vor dem Anfang als inkonsistenter Multiplizität. Das heisst aber, sie erzählen von einer Fundamentalaporie ihrerselbst und stellen sie aus. Stellen zudem aus, dass sie, diese Inkonsistenzen und Aporien, etwas aller (Geist)Schöpfung Vorausgegangenes sein müssen.

Ob die Dominanz der Zahl im globalen “Kapitalismus” genannten Gefüge, damit zu tun hat, dass zuwenig von und bei der Zahl, statt zu viel gedacht wird, wäre die Frage. Denn dann wird sie in ihm eher erniedrigt als erhöht und” Tyrannei der Zahl” könnte nur heißen, dass die Tyrannei von etwas Anderem ausgeht und noch die Zahl betrifft, die nur als repäseantativer Knecht für alles andere Versklavte einstehen muss.

III.

“die Definition des Unendlichen, welche den Kern meiner ganzen Untersuchung bildet“ (Dedekind)

Alain Badious “Number und numbers” (im Original 1990 als Ergänzung zu Das Sein und das Ereignis erschienen) ist, entgegen der notorischen Mathematikverachtung der Philosophie seit spätestens der Romantik und dem deutschen Idealismus, bemüht um eine Emanzipation der Zahl (er schreibt sie groß) aus der Verknechtung in Kalküle. Dies im Zuge seiner Abkoppplung einer mit Mathematik zusammgedachten Ontologie von Metaphysik, die dem Einen huldigt. Und er rekurriert dafür auf die Zahlentheorien von Frege, Dedekind, Peano, um mit Cantors Mengenlehre in der Ordinalzahl die Unendlichkeit freizulegen, deren Niederschlag jene Zahl zu sein scheint, von der unklar ist, was sie überhaupt ist.

Whence my plan: To examine the theses of Frege, Dedekind and Peano. To establish myself within the set-theoretical conception. To radicalise it. To demonstrate (a most important point) that in the framework of this radicalisation we will rediscover also (but not only) ‚our‘ familiar numbers: whole numbers, rational numbers, real numbers, all, finally, thought outside of ordinary operational manipulations, as subspecies of a unique concept of number, itself statutorily inscribed within the ontology of the pure multiple.

Die reine Multiplizität ohne das Eine freizulegen, erfordert so scheinbar, paradox, den Rekurs auf die Unifizierungsbemühungen jener, die dem wirren Un-Konzept der Zahl eine konsistente Theorie zur Seite stellen wollten. Sowie darüber hinaus, einen weiteren Schritt, der darin liegt, jene disparaten Unifizierungsbemühungen zu vereinheitlichen. Was vereinheitlicht wird, stellt sich jedoch als eine radikalisierte Dissolution heraus. Die Zahl (die als solche unzählig und zahllos ist) wird dadurch zu einer ontologischen “Paraphrase” des Seins (von dem man fragen könnte, ob das substantivierte Possesivpronomen ihm, das sich nicht “hat”, noch genügt: es wäre vielmehr von nun an das “Keins”) selbst, das durch sie erst gedacht werden kann, infern es sich selbst durch sie denkt. Dies nicht ohne die Kautele, dass jenes, was Badiou das Ereignis nennt, und die es “begleitenden” Wahrheits-Prozeduren, niemals gezählt werden können.

Number is neither that which counts, nor that with which we count. This regime of numericality organises the forgetting of number. To think number requires an overturning: it is because it is an unfathomable form of being that number prescribes to us that feeble form of its approximation that is counting. Peano presents the inscription of number, which is our infirmity, our finitude, as the condition of its being. But there are more things, infinitely more, in the kingdom of Number, than are dreamt of in Peano’s arithmetic.

Nach umständlichen Beweisen durch spannende, wie schwer nachvollziehende Formeln (die, obgleich sie behaupten, sich kontextfrei von selbst zu verstehen nicht ohne Erläuterungen auskommen, die sie übersetzen) landet Badiou bei den Conway-Zahlen, die, von Donald Knuth in seinem Roman popularisiert, auch als die Surrealen Zahlen bekannt sind. Für Badiou werden sie zu zu etwas wie der Zahlhaftigkeit aller Zahlen selbst und einer Form des Seins und dessen inkonsistentem Exzess. Sie umfassen, als eine ganz eigene Klasse, diesseits und jenseits aller Klassen, und enthalten alle jene Klassen von Zahlen, die man gemeinhin im Sinn hat, wenn von Zahlen die Rede ist und stellen für Badiou so etwas wie das Wesen der Zahlen, ein Gewimmel von unzählbarer Leere und Neutralität in ihrem Herzen, von dem schon die 0 zeugte, dar.

 

Dass in diesem Sinne „die Zahl“ (ausgehend nicht von der gegebenen Eins, sondern der nur als Eins zählbaren Unendlichkeit und inkonsistenten Mannigfaltigkeit der Null) dem Begriff strukturell vorausgehen und ihm inhärieren muss wie eine regellose Teilbarkeit, lässt mutmaßen, dass vom begrifflichen Denken anders mit Zahlen gerechnet werden müsste. So heisst bereits das polemische Eingangskapitel, das die Nummer 0 trägt: Number must be thought.

Number, as number of nothing, or zero, sutures every text to its latent being. The void is not a production of thought, because it is from its existence that thought proceeds, in as much as ‚it is the same thing to think and to be‘.16 In this sense, it is the concept that comes from number, and not the other way around. (23)

IV.

Selbst noch die Utopien des Multikulturalismus, die nicht eine Kultur auf Kosten aller anderen privilegieren wollen, geben das Prinzip der Einheit unter einem Begriff einer Sprache und geben das Prinzip einer einzigen Vereinigungsform, die Vereinigung durch den Warenverkehr, nicht preis. Die Frage ist also: Wer zählt urıd wer zahlt? Und weiter: Lässt sich, wo es um das Verhältnis zwischen Kulturen und wo es um die Akkulturationen der Kulturen zu tun ist, noch einfach zählen? (Hamacher, Heterautonomien)

Wie viele sind wir?

– Wie zählen? Wie läßt sich das berechnen? (Derrida, Politik der Freundschaft)

 

Andere halten Verwandtschaft mit der unter ↗Zoll (s. d.) behandelten Wortgruppe für möglich, knüpfen also an die Wurzel ie. *del(ə)- ‘spalten, schnitzen, kunstvoll behauen’ an. Die Bedeutungen ‘Zahl, das Zählen’ und ‘Aufzählung, Erzählung, Rede, Sprache’ hätten sich dann in vorliterarischer Zeit aus ‘eingekerbtes Merkzeichen’ entwickelt.

 

Dass Badious Aufgriff mengentheoretischer Erwägungen für eine Ontologie des irreduzibel Multiplen, die sich, genauer, auf eine Anontologie des Mehr-und-weniger-und-anderes-als-Vieles zubewegt, manifest politische Implikationen aufweist, wurde betont. Wo immer Mit-Sein (mit der vollen Aporie ein Mit-ohne-Mit-(Kein)Sein zu sein) im Spiel ist, ginge es um eine Teilhabe ohne Zugehörigkeit, reine Partizipation ohne ganze Teile und ohne ganze Teile beinhaltendes Ganzes. Und ohne bloß, im alten Sinne, „vieles“, „multiples“. Mit diesem Ohne. Denn woran wird teilgehabt, wenn dies Zugrundeliegende keine opake, sui-suffiziente, saturierte Substanz mehr, und diese Gemeinschaft keine autarke Körperschaft mehr sei? Aneinander oder nicht doch vielmehr am Teilen selbst? Und was hat da teil? Hat das Teilen an sich selbst teil?
Was sich im Zuge von Badious zahlenspekulativer Meditation freilegt, das Makro-Feld der surrealen Zahlen, die Zahl selbst als inkonsistente Multiplizität, ist das nicht dieses unmögliche Teilen, das nichts Bestimmtes sagt, aber die Eröffnung eines unendlich differenzierbaren Zwischenzeitraums meint, der Bestimmungen wie Konsistenzen und Identitäten zulässt, aber nicht braucht? Nur weil Badiou unter Sprache den logos apophantikos des urteilenden und prädikativen Ausssagens und thetischen Setzens und Bestimmens zu verstehen scheint, muss er diese seltsame gespaltende und gedoppelte Marke der (großgeschriebenen) Zahl als etwas schlechthin Unsprachliches begreifen. Die Ähnlichkeiten allerdings, die zwischen dem, was Badiou hier als (im französischen großgeschrieben) Zahl zu bedenken und der Vergessenheit zu entreissen gedenkt, zur Derridaschen Analyse der Spur, der grammé und der marque sind so frappant, dass sie nicht unentdeckt bleiben können. Das Motiv der Dissemination ist wohl, nicht zufällig, in einem Text über Sollers Nombres erstmals in Erscheinung getreten, in deren „Praxis“ „des opérations d’annulation, du décompte et d’un certain zéro textuel“ gesehen werden. Eine gewisse textuelle Null des Nominalen wie Numeralen…

Was zählen und erzählen Zahlen? Which tale do they tell if not the tell-tale of Teilung? Eine Teilung, die jede Geschichte und Erzählung, verstanden als kohärentes, homogenes Narrativ-Kontinuum aufsprengt und zerfasern lässt. Dass auch die Etymologie der Zahl von einer möglichen Partizipation an dieser regellos numerös verästelnden Partituierung — Multiplikationen von Divisionen, Additionen von Subtraktionen vor allem Kalkül — spricht, könnte ein zusätzlicher Wink sein.

„Die Dichte des Textes führt so auf das Jenseits eines Ganzen, das Nichts oder das absolute Draußen hinaus. Wodurch seine Tiefe zugleich null und unendlich ist.“ (Derrida, Dissemination)

Tillmann Reik

Ino Augsberg: Kassiber. Zur Aufgabe der juristischen Hermeneutik

Vom Bindenden des Scheidens

Herrmes Ecken und Kanten

In wessen Namen spricht der Nomos, wenn nicht im Namen des Namens? Des Namens der Nahme, die im griechischen von nemein kommend, das Trennen, Scheiden und Teilen meint?
Für Kant, aus dessen ostpreußischem Namen — von den einschlägigen, dem angelsächsischen Ohr sich eröffnenden obszönen und depotenzierenden Homophonien cunt/can´t abgesehen — unter anderem, die saubere Schnittstelle, der scharfe, etwas steife, möglicherweise versäumte Rand, die spitz zulaufende Ecke1, der Kanton, also abgesteckte Bezirk, heraus zu hören ist – selbst wenn Onomastiker ihn, und hier fransen die Bordüren endgültig aus, als Musikername mit canto/cantor sowie dem Spielmann und seiner Laute in Zusammenhang bringen: das “Lied vom Gesetz”2 singend? — zeigt das Recht sich (wobei die “Rechtslehre” diesen Umstand durch eine doppelte Invisibilisierung zu verheimlichen bemüht ist: es muss darüber geschwiegen und über dieses Schweigen geschwiegen werden3) insofern mit Gewalt je schon verquickt und nicht nur ihr entgegengesetzt, als der — monopolisierten — Erlaubnis zu deren Anwendung, zur Ausübung von Zwang, streng genommen, äquivalent.

Es ist gleichsam more euclido-geometrico zu verstehen, ihm, seinem Postulatcharakter, ist um eine Teilung zu tun, die einen Raum aus zurechenbaren Dingen erschafft, einrichtet4, — vielleicht im Anklang an das “Hegen des Dings”, das Cornelia Vismann dem frühen, nicht urteilenden Richten zumaß — und mit exakten, linearen Schnitten, die in sich selbst nicht geteilt sein dürfen, nicht so sehr eine als Verteilungsgerechtigkeit bereits gegebener Teile zu verstehendes suum cuique, sondern eine “Beurteilung von Besitzansprüchen gemäß den Rechtsgesetzen” (Reinhardt Brandt) zu gewährleisten versucht. Wobei (be)urteilen, wenn es derart auf Besitz, Eigentum, Vermögen, “Gehörigkeit” bezogen ist –ja, womöglich im Einschwören, iurare,  auf ein Gehorsam gegenüber diesen Gehörigkeiten besteht –, diese als Vorgegebene nicht bloß verwaltet, sondern nachgerade — durch mathematische Ab-Teilung — konstruiert. Es liegt die als Forderung vorliegende Ordnung vor, als ob sie vorläge und bildet eine Form des Genauen, Geraden, Direkten, die sich, dezidiert, von allem Krummen, Schiefen, Schrägen und Obliquen, Verqueren absetzt. To set right an out-of-jointness, fügend:

Das Rechte (rectum) wird, als das Gerade, teils dem Krummen, teils dem Schiefen entgegen gesetzt. Das erste ist die innere Beschaffenheit einer Linie von der Art, daß es zwischen zweien gegebenen Punkten nur eine einzige, das zweite aber die Lage zweier einander durchschneidenden oder zusammenstoßenden Linien, von deren Art es auch nur eine einzige (die senkrechte) geben kann, die sich nicht mehr nach einer Seite, als der andern hinneigt, und die den Raum von beiden Seiten gleich abteilt, nach welcher Analogie auch die Rechtslehre das Seine einem jeden (mit mathematischer Genauigkeit) bestimmt wissen will…(hier)

Wenn der Nomos im Namen des Namens spricht, so auch im Namen einer gewissen, einschneidenden, ein- und ausschließenden Nahme, einem nemein, das sich als kapitalisierende captatio (miß-?)versteht: instituierender Besitzergreifung, Gefangennahme, Kaptation, die verbindlich gründet, indem sie, hegend, Eigentum in Einheiten ein-, auf- und zuteilt. So jedenfalls würde ein Carl Schmittsches Verständnis womöglich es fassen. Dass es irgendwie ums Scheiden, ums Trennen, Separieren und Grenzenziehen und -kontrollieren geht, bei dem nicht zuletzt (sondern ganz anfänglich: das Eigentum muss ein Recht sein noch bevor das Recht ein Eigentum werden kann, aber auch vice versa?) die Frage eines „ontologischen Possesivismus“ (Hamacher) nach „mein“ und „dein“ auf dem Spiel steht, dass also Division und Distribution das gesetzlose Gesetz aller Gesetze ausmacht, kann dazu führen, Recht als die Kulturtechnik einer Scheidekunst zu betrachten, zu Zwecken der Bewältigung von Problemen, Lösung von Aufgaben. [Kulturtechnik: Ein beinahe oxymoronischer Ausdruck, wenn man bedenkt, dass sowohl techne (auf eine Wurzel, die das Weben, Verflechten) wie ars (auf das Fügen und Artikulieren verweisend) den Akzent aufs Verbinden legen: Scheidekunst trüge ihr Gegenteil somit bereits mit im Namen und markierten vielleicht die Technik oder Lehre, durch Scheiden zu verbinden, sowie: das Scheiden zu binden und verbindlich zu machen. Alles aber unterm subjektmetaphysischen Willen zum Zustandebringen und Bewerkstelligen aus einem Grund für einen Zweck].

Vom Recht als Scheidekunst sprechen: Dies tut Fabian Steinhauer medienwissenschaftlich, indem er in „Vom Scheiden“ rund um Überlegungen zum sonderbar sondernden und gesonderten Sonderling (S.76) „Römisches Recht“ etwa Ihrings „Geist des römischen Rechts“ zitiert, wo sich die Bezogenheit dieser wie eine analytische Auflösungsbewegung erscheinende “Kritik” (im Sinne des gr. krinein), mit ihren In- und Diskriminierungen auf etwas wie das Ungeteilte zu erkennen gibt:

Es bewährt sich hier eine Bemerkung, die wir früher bei einer anderen Gelegenheit zu machen hatten, daß das Wesen des Rechts in Zersetzen, Scheiden, Trennen besteht. Die juristische Technik lässt sich nach dieser Seite hin als eine Chemie des Rechts bezeichnen, als die juristische Scheidekunst, welche die einfachen Körper sucht.“(zitiert nach Steinhauer, S.71)

Um so dann nach einer kurzen Überlegung zur Metaphorizität der verwendeten Begriffe und der Frage, welche davon als genuin-originär angenommen werden kann, und was bloß im übertragenen Sinne zu verstehen sei, zur provisorischen Schlußfolgerung zu gelangen:

Schon im chemischen Begriff steckt Recht. Jherings Übertragung ist also eine Rückholung, eher regressiv als originell. Er nimmt eine historische Metapher beim Wort.Das Scheiden ist insofern aber auch nicht genuin rechtlich. Die Geschichte dieser Bezeichnung ist das Beispiel für einen Juridismus jenseits des Rechts und damit für eine Genealogie, die nicht genuin ist. (ebenda, S.72)

Die faszinierende Möglichkeit einer Parallelisierung, die Steinhauer darüber hinaus von Gericht und Kino als Schauplätzen der Theatralisierung expliziert, geschieht vor dem Hintergrund, dass der eigentliche, tragico-komödiale Ort, dem das Gesetz zugehörig ist, vermutlich nicht ausmachen sein wird, Katachresen und Übertragungen sind von Anfang an im Spiel. Das Gesetz findet statt vielleicht nicht nur im Außerhalb des Rechts, sondern gar im Außerhalb seiner selbst:

Viel spannender ist es schließlich zu sehen, dass das Gesetz nicht nur vor dem Recht stattfindet, sondern auch jenseits dieser Zone.

Wenn es aber derlei “Übertragungen” gibt, wenn „Juridismen“ und “Gesetzförmiges” außerhalb der Grenzen des genuin Rechtlichen wie outlaws und hors-la-loi schlechthin ungebunden herumirren und frei flottierend ihr offiziell verbotenes Unwesen treiben (und etwa chemische, naturwissenschaftliche, theologische Vokabeln in der Rechtssprache so tun, als seien sie nicht immer schon anderswoher gekommen), wenn derart die Gattungsgrenzen immer schon verschwimmen, sich ungeregelt (ver- und mit-)teilen, wie kann dann das Recht (dessen Hauptaufgabe vielleicht — das wäre hier die oben schon angedeutete These — gerade darin besteht, eine solche Verschmischung der Gattungen durch immer wieder nachgezogene Scheidelinien zu verhindern: das regellose Scheiden also zu bezähmen, hegen, indem es dieses bindet) überhaupt als autonome Zone, oder in Luhmannschen Termini: autopoietisches Kommunikationssystem sich behaupten?

Vielleicht: Indem es sich durch Dichtung, Auto-Poesie (kann man sagen: Mythos?) narrativ abdichtet, auto-immunisierend sich stetig neu abgrenzt, sich selbst in klare Scheidelinien einzufassen sucht, dabei aber stetig neue leaks produziert?

Das Recht muss sich auf diese sich ereignenden Passagen einstellen. Das heißt vor allem: Es muss sich in seiner methodisch angeleiteten Selbstauslegung darauf ausrichten, dass zwischen Begriff und Metapher nicht sauber unterschieden werden kann. Die angebliche geschlossene Autopoietik des Rechts setzt nicht nur eine Autopoetik voraus. Die Autopoetik ist ihrerseits von einer Heteropoetik nie ganz zu trennen. Die Ränder des Rechts bezeichnen Grenzen, an denen das Recht sich – im mehrfachen Sinne des Wortes – versäumt. (Augsberg, S.1)

Kassiber — ein Buch, das Jacob Taubes und Hermes so überblendet, dass der geflügelte Götterbote und Botengott des Griechentums, Tele-Transporter und Gewährsmann des Marktes, der Marken und Margen zum selbsternannten “Erzjuden” und ludernden Lotterbuben gerät — versteht und untersucht “die Aufgabe” der juristischen Hermeneutik — “so zersplittert wie die Geschäfte des die Hermetik wie die Hermeneutik namenspatenschaftlich begründenden, janusköpfigen Hermes”, der sich in den Göttergesprächen des Lukian seiner Mutter Maja als der Götter unglücklichster offenbart, da er sich aufgrund seiner vielfältigen Tätigkeiten förmlich zerreissen muss (93, diaspomenos ist hier das Wort aus der Fremde, was den Boten vom Herd einer Ökonomie des Eigenen vertreibt und in Exil und Diaspora und also Heimatlosigkeit und Unzuhause, in Aussetzung, beheimatet5) — in einem “mindestens dreifachen Sinn” und gibt zu bedenken, dass deren nach talmudischer Lehre mindestens 70 sein müssten, welche Zahl wiederum im rabbinischen Gebrauch für nichts weniger als die Unendlichkeit einsteht. In der Trias von Funktion, Mission und Resignation lässt sich die Aufsplitterung dessen, was mit Kassiber gemeint sein könnte, provisorisch sammeln, indem sie sich prismatisch auffächert und wohl über die trinitarische Einigkeit hinausweisen muss, um das Lassen und die Aufgabe im Sinne der Omission noch in die drei distinkten Aufgabenbereiche selbst einzuschreiben:

Hermeneutik bezeichnet ein elliptisches Verfahren.
Das betrifft zumal die Hermeneutik als Kunst der Auslegung. Deuten heißt Sich-Enthalten. Seine konstitutive Bewegung umfasst nicht nur die aktive Festsetzung von Bedeutung, sondern mindestens ebenso sehr einen Vorgang des Lassens: ein Aus- und Unterlassen, das andere Setzungen zulässt. Die Deutung enthält sich, weil und indem sie nicht ohne weiteres über sich hinausgeht. Statt sofort zum Gedeuteten fort- und überzulaufen , hält sie inne. (110)

Da eine solche elliptische Parahermeneutik auch darin bestehen muss, mag man ergänzen, die Aufklärung über eine gewisse Undurchsichtigkeit (gegenüber dem Willen zur abschließenden semantischen Sättigung) auszuweiten, aufs Milieu des Aporetischen die Instrumente theoretischer Detektion so scharf wie möglich zu fokussieren, kann die Vorliebe für geheime, klandestine Mit-Teilungen als Schmuggelwaren, welche exkludierend-internierende Gefängnismauern und selbst-einhegende Zäune, Dispositive überwachend-strafender Bezwingung, unbemerkt passieren, das ist die Bedeutung des rotwelschen Wortes Kassiber, gleichermaßen als Parteinahme für eine andere Scheidung gewertet werden, die nicht mehr als Kulturtechnik, Errungenschaft einer Zivilisation zur Bemeisterung und Bemächtigung einem Leistungskatalog des homo faber und capax verbucht werden kann: Advokation jener nicht mehr geschichtlichen, sondern “geschichtlichenden” Dauer-krisis, die sämtliche Versuche zur zäunenden Einhegung und Gefangennahme — zur jeder abscheidenden Nahme als Fang, die captatio als Packen und kapitalisierendes Kappen einer capacitas des capere — verhindert und aufhält. Und damit die Soterio-Logik eines ex captivate salus. Die das Binden unterbindende Ent-Bindung, gegen die und aus der heraus die Bindung und Bändigung in Gestalt einer Ent-Entbindung sich mit klaren Scheidungen und Entscheidungen aufrichtet, Gnomon und Norm, wird dann freigelegt als das Gesetz desjenigen Gesetzes, was das positive Recht in seinen Statuten setzt und niederlegt. Dass sich dieses kritische Geschehen in und als brache Sprache zeitigt (deren grammatisch-orthographisch kontrollierte Urteile und Prädikationen jeweils als Versuche des Bruchs mit diesen Brechungen und Teilungen sich — als je immer schon Gebrochene — setzen), hat Augsberg unlängst in einem Vortragstext zu Jürgen Buchmanns “Grammatik der Sprachen von Babel” dar- und also auseinandergelegt.

Der Lotterbube Hermes, überall Wege (er)findender Disaporetiker, der Gott nicht nur der Diebe — das heißt zum Beispiel auch kleptomanischer Sachwalter einer stets unrechtmässigen Appropriation, exlex, hors-loi, der nur durch Beraubung, Nahme erbeutet — sondern mit Augsberg “der Teilungen und Verfremdungen also, der mit der Vielzahl der ihm übertragenen Aufgaben nicht zurande kommt, sondern von ihnen regelrecht zerissen wird” bleibt gerade dadurch Figur, Repräsentation, Emblem für das Bemühen, der Zerreissung und Enteignung (in immerhin scheint´s noch eine bezifferbare Menge von Aufgaben) einen trotzigen Widerstand Konstanz, Konsistenz und Kohärenz entgegenzusetzen, sich, als er selbst und Indivuduum, zumindest identisch durchzuhalten und sei es auch durch um dieser zusammenhaltenden Identität Willen aufgebotene Listen und Verstellungen. Er ist also zuvörderst Figur einer, wenn auch notwendig immer wieder mißglückenden, individuierenden Protektion gegen seine Auflösung, unterm teleologischen Zwang, seine Auslieferungen ungebrochen am Zielort abzuliefern, und nicht von einem Irrgeschick erfasst, unterwegs sich selbst und seinem Auftrag, sich davontragen lassend, verloren zu gehen. Sein guter Wille zur Macht als Zurande- und Zustandekommen, der er ist, wird von etwas anderem als ihm selbst sabotiert. Diesem Anderen könnte vermehrtes Interesse entgegen gebracht werden.
Ob ein mehr dem Ver (und also den Ferrenzen, dem Phorischen und den Portierungen) als dem Stehen sich verschreibendes Denken ihn also weiter zur Gallionsfigur und die Herme zum Phallischen Wappen erklären muss, und nicht eher der Figurlosigkeit dessen sich zu überlassen hätte, was Platons Dialog Ion, noch seinerseits zu gesichtgebend theia moira nennt — einer unfigurierbaren Teilbarkeit in deren Nahme der Gott sich dem Unglück des beinahe Zerreissens ausgesetzt sieht — , bleibt offen, selbst aporetisch unlösbar. Im Namen des Namens zu lesen, ein solches Lesen zu üben, das mit Thomas Schestags Formulierung nehmender wäre darin, sich dem Glück des Innewerdens der Uneindeutbarkeit noch des gewahrenden Innen zu überlassen, sieht im tragischen Zerrissensein des Gottes, das dieser nur als Unglück empfinden kann, sieht in diesem noch das Glück von sich selbst trennenden Un-glück — der Herrmes durchwandernden, seine Herrschaft brechende (F)Erranz und (F)Erratik — ihr Glück(sversprechen): das auch des glücklichen Funds, der Fügung der trouvaille, den das griechische Wort hermaion bezeichnet. Dem Zu-Fall.

Er ist auch derjenige, den man weder vorhersehen noch festhalten kann, der Zufall, das gute oder widrige Geschick, das unvermutete Zusammentreffen; ein unverhoffter Fund oder Vorteil heißt im griechischen hermaion.6 (Jean-Pierre Vernant, a.a.O.)

Aber ob Hermes dieser Zufall ist — mit dem Zufall zusammenfällt — oder doch nur als dessen Abgesandter von ihm Zeugnis ablegt und selber dessen Gesetz untersteht?

Der Name des Namens, die Nahme, durch die Sprache in steter Detonation ihrer Denotationsfunktion sich von sich selbst entfernt und so in unberechenbaren Brechungen spricht, wäre dann nicht mehr so sehr eine technische Bewältigung von Etwas durch scheidendes Herauslösen, sondern noch eine Nahme dieser Nahme selbst, Selbst-Beraubung, ein Scheiden (und Schneiden) des Scheidens (und Schneidens): die unteilbare Souveränität eines Teilungsgeschehens von nichts als diesem Teilen selbst. Diesseits und jenseits aller Kulturtechnik — Besitz, Gut, Habe, Errungenschaft einer Kultur, was immer das sei, und von dieser amortisierend erwirtschaftet — im nicht-chronologischen Sinne vor ihr, erweist sich jene Proto-Technizität eher als grundlose und unmögliche Ermöglichungsgrundlage sowohl von Kultur als auch deren Techniken. Sprache — in ihrem am wenigstens engen und engstirnigsten Sinne: brache Brüche-Brücke, Brücke aus Brüchen — ist ein Name für diese Nahme, für dieses Nehmen, für diesen Nomos der Ab-Norm und Anomie, in dessen Namen auch das Recht richtet, in dem es dieses Scheiden ent-scheidet.

In welcher Nahme spricht denn das Recht, wenn nicht in der der radebrechenden Gaunersprache von Kassibern und Kassibern aus Kassibern. Sprache überhaupt? Dabei ist Kassiber ein Wort, das sich von einem anderen herleitet, welches vermutlich nichts anderes bedeutet als: schreiben. Wenn Recht in seinem „urge to set things right“, dem tragischen Einsatz der direktiven Korrektur im Aufrichten — to right — von Normen, auf ein aufschiebendes, aus-ein-ander-setzendes „to write“ verweist, dann  auf die Sprache einer „transzendentalen“ Illegalität, im Austrag der Präzedenz irreduzibler Korruption, primordialer Delinquenz. Die Sprache verbricht (sich), ihr crimen ist ihr krinein. Ein Verbrechen, das somit vermutlich nicht nur darin liegt, Botschaften wie Waren zu schmuggeln, sondern noch das, was sich als Ware im Verkehr und Handel zu bewahren und unversehrt adressierbaren Eigentümern zuzustellen versucht, die „freie Marktwirtschaft“ der verständlichen Botschaften im Ganzen, ziel- und regellos zu brechen. Sprache bräche das Recht der Eigentumsordnung, die Eigentumsordnung des Rechts, wie alles in ihr Stehende und Ständige, anfänglich und stets auf Neue anders als eine bloße Übertretung, die das Verbot und die Grenzen nur bestätigt. Sie unterbricht und stört die dialektische Aufeinanderangewiesenheit von Grenze und Übertretung selbst. Dies zu gewahren und zu verstehen, wie mit dem zum wirklichen Skandalon präzisierten konstitutiven Rechtsbruch im Recht — Sprache — umgegangen werden könnte, inwiefern es sich etwa — um einer nur mehr schwer „Gerechtigkeit“ zu nennenden Forderung willen — gegen diese Brüche nicht einfach verwahren darf und doch nichts anderes darstellt als eine aufgebäumte Gestalt dieser Verwahrung, darum müsste es einer Rechtstheorie, die nicht nur Grenzpostendisziplin sein will, gehen, wie Kassiber deutlich macht.

Tillmann Reik

1 kant, kante im 17. Jahrhundert entlehnt; aus altfranzösisch: cant = „Ecke“; vermutlich aus einem gallischen Wort für „eisernen Radreifen“ (lateinisch: canthus → la)

2 Marie Theres Fögen: Das Lied vom Gesetz (erweiterte Fassung eines Vortrags am 14. März 2006). Carl Friedrich von Siemens Stiftung, München 200

3 vgl. dazu Peter Fenves: Niemands Sache.Die Idee der „Res Nullius“ und die Suche nach einer Kritik der Gewalt. In der Systemtheorie wird dieser Sachverhalt mit der seinerseits euphemistisch verklärenden Wendung beschrieben, es ginge um die “Invisibilisierung der Gründungsparadoxie”.

4 Mit “Der Richter hegt das Ding.” beginnt Cornelia Vismann das Kapitel übers Theatrale Dispositiv ihres Buches Medien der Rechtsprechung. “Was die dinghegenden Richter nicht machten, ist das, was man heute zuallererst mit dem Beruf eines Richters verbindet. Sie urteilten nicht. Diese Aufgabe oblag nach germanischem Recht den Urteilern.”

5 Ob damit schon (immer) die Ökonomie des Eigenen gesprengt, Hermes, genuiner Gott der Rede, weniger der Schrift (er zeugt auch von einem Tod Thots), als in die Peripherie ausschwärmender Gesandter sich selbst in zählbare Teile spaltet, die sich immer wieder zur Einheit zusammfügenlassen und dem einen Zentrum ihren Ertrag und ihre auswärts gemachte Beute zuliefern, oder das Schema von Zentrum und Peripherie selbst verkompliziert und Hermes letztlich nichts wäre als sein Selbstverlust in unzählige Ferrenzen, bleibt die entscheidende Unentscheidbarkeit, anhand derer beurteilt werden müsste, ob eine Hermeneutik die ihr inhärente Dekonstruktion in voller Konsequenz austrägt. Denn dafür müsste es ihr gelingen, als Hermeneutik zu scheitern. Zu des phallischen Hermes´Bezug zur durch den Kreis symbolisierten Hestia, der häuslichen Ökonomie des Herdes, des Mittelpunktes eines konzentrischen Raumes, das in Zeiten der polis die agora sein wird — und so die Politik unters Zeichen der Versammlung stellt — siehe Jean-Pierre Vernant: Hestia – Hermes. Über den religiösen Ausdruck von Raum und Bewegung bei den Griechen.

6 Das hermaion weist seinerseits auf einen einfachen Steinhaufen, hinterlassen zur Orientierung als Wegmarke, wie die heute noch in alpinen Regionen zu findenden Steinmännchen. https://de.wikipedia.org/wiki/Steinm%C3%A4nnchen . Der glückliche Fund wäre dann eine zur Orientierung dienende Hinterlassenschaft