George Didi-Huberman: Der Kubus und das Gesicht

Dies da: Das Ding.

Im Angesicht des Ungesichts

mit- verwaisend mit euch, Lapilli (P.Celan)

Ein steinerner Gast von bedrängender Präsenz und verwaister Findling; vergessenes, ausgesetztes Überbleibsel. Es dreht sich bei dieser enigmatischen, knapp einen Meter hohen Skultpur um einen kantigen Monolith, der ein unheimliches Überleben zeigt, sich klassifikatorisch nicht den gängigen Schemata einverleiben lässt und aufgrund einer den Gegensätzen Paroli bietenden Resistenz untot überdauert wie ein hartnäckiges Symptom, gegen das kein therapeutischer Abwehrzauber sich wirksam erweist: Alberto Giocomettis in Gips gestalteter „Le Cube“ aus dem Jahr 1934. Ein Objekt, das geometrisch inkorrekt mitnichten sechseitiger Würfel, wie der Name vorgibt, sondern ein Polyeder ist. Die Schwierigkeiten beginnen dort, wo die Vielseitigkeit jenes Vielflächners, sein „poly“, arithmetisch bemeistert werden soll. Im vorliegenden Falle wurden vom musternden Blick der Exegeten zumeist 12 Seiten registriert (das Volumen als verdoppelten Würfel deutend), dabei indes die eine basale und tragende, auf der das kristallartige Gebilde blind zur Erde gewandt aufruht, unterschlagen. Dreizehn Flächen müssen daher redlicherweise mindestens in Rechnung gestellt werden, drei davon tragen dezent eine geritzte Gravur: eine ein Portrait Albertos oder seines Vaters Giavanni, eine andere eine Signatur und die dritte – mise en abyme und re-entry – eine Ansicht der Skulptur selbst. Nichts kann darüber hinaus garantieren, dass jede in sich teils unebene und gebrochene Seite (face), jede Facette, jedes Gesicht (visage) in sich nicht in weitere Binnendifferenzierungen zerfällt, derart die eigene Einheit rastlos in Frage stellt, supplementär jeder Seite weitere addiert. 12+1+n. Ohnehin wird die herkömmliche Algebra durch den Künstler, der ein anderes seiner Werke 1+1=3 benannte, auf die Probe gestellt. Und die Unterscheidung zwischen face und visage deutet an, ob überhaupt eine privilegierte Seite, die repräsentativ dem Ganzen, frontal, ein Antliz verleiht und einen Blick aussendet, unterstellt werden darf, oder nicht doch eine Vielgesichtigkeit ohne Grenzen vorliegt. Keine Stelle der Stele (auch ein Grabstein zu sein hat das Unding den Ruf) vielleicht, die nicht — wenn auch ausgehöhlt — sieht oder blickt.

Giacometti hat, ähnlich wie die Kunstwissenschaft in seinem Fahrwasser, der Selbstinterpretation des Künstlers vertrauend, stetig versucht, den Kubus, den er immerhin Jahrzente später in Bronze gießen ließ, zu marginalisieren, als gescheitert und missglückt zu brandmarken sowie in seiner Relevanz herabzumindern; ohne ihn hingegen je zu vernichten. (Er schob ihn vielmehr, nach der Art eines Fort/Da-Spiels, über die Jahre im Atelier in den Hintergrund und zog ihn wieder nach vorn.) Die Insistenz, mit der er diese verleugnende Abwertung betrieb, lässt erahnen, dass die Dinge im Falle dieser „Krisenfigur“, Übergangswerk zur Spätphase, nicht einfach liegen können; dass der Kubus ihm ein unabsorbierbarer Fremdkörper blieb, gerade weil er in sich etwas verdichtete, das allzu vertraut und entscheidend war. Er habe nie etwas abstraktes geschaffen, außer dem Kubus (der keiner ist) und der sei nicht eigentlich abstrakt, sondern sollte etwas wie ein Kopf sein. „Denn wenn man einen Kopf ‚hätte‘, hätte man alles andere. Wenn man keinen Kopf hat, hat man nichts„, so befand er einmal. Wie macht man aus einem Stein einen Menschen oder vielmehr andersherum und anders: auf welche Art erweist sich das kubisch Mineralische im organisch Fluiden enthalten, et vice versa?

Indem George Didi-Huberman diesen im Abseits stehenden Hapax im Œuvre des schweizerischen Malers und Bildhauers, den er auch als brechendes, auffächerndes Prisma bezeichnet, ausgiebig, Seite für Seite,in 12+1 Kapiteln beschreibt, dessen Überdetermination aufweist, entschreibt er ihn ebenso im Sinne Jean-Luc Nancys, unter- und ent-determiniert ihn nachgerade zu einem Generischen, das, obgleich absolut selbst-immanent genügsam in sich ruhend, sehr genau der Bestimmung des Tranzendenten entspricht, welche die Scholastik zu geben wusste: qui transcendit omne genus. Er gehörte mithin einer Kategorie an, die alle Kategorien übersteigt und somit nicht mehr zur Reihe der Kategorien zählt. Sich dergestalt also dem entzieht, worauf die hermeneutische Sinnsuche — auch Giacomettis eigene — in ihrer unvermeidlichen Reduktivität stets hinauszulaufen droht: finales Kategorisieren. Kategorein, das heißt: beschuldigen, anklagen, eines Vergehens bezichtigen und wird in seinen definierenden Schlußfolgerungen immer eine unentschuldbare Dummheit gewesen sein. (Eine bloße Denuziation derselben freilich immer nur eine weitere.)

Didi-Hubermans minutiös-dekonstruktives Analyseverfahren, das hier im Detail zu duplizieren widersinnig wäre und von der fesselnden Lektüre des Buches (und dessen umfangreichem instruktiven Nachwort der Herausgeberinnen) nicht dispensieren kann, schafft es, eine exemplarische Art der schreibenden Auseinandersetzung zu erfinden, mit Tuchfühlung zum Gegenstand in seiner synthesefeindlichen Ambivalenz, die dem vereinnahmenden Zugriff des Verstehens nicht dadurch entreißt, dass eine absurde reine Leere des Nichtverstehbaren an dessen Stelle gesetzt würde. Vielmehr wird der Eindruck einer Art von (Sinn- oder Bedeutungs-) Losigkeit (mit einem Auschnitt aus Becketts „Losigkeit“ als Motto beginnt die Studie in Essayform) erst dadurch freigelegt, dass eine Überfülle von einander überlagender Aspekte mit obsessiver Akribie sich herausarbeitet, mit der allein man vielleicht am Ende der gleichermaßen opaken wie absolut transparenten pluralen Singularität dieses (und dieses stellvertretend für alle anderen) Unikats gerecht werden kann. Besser gesagt und in den Worten der Herausgeberinnen: „Im praktischen Denken einer solchen materialorientierten wie dialektischen Differenzästhetik sind es die Spannungen, die überhaupt erst ein Widerfahrnis von Alterität eröffnen.“ Tillmann Reik

Georges Didi-Huberman, Mira Fliescher (Hg.), Elena Vogman (Hg.): Der Kubus und das Gesicht. Im Umkreis einer Skulptur Alberto Giacomettis. Aus dem Französischen von Esther von der Osten.diaphanes Verlag, Zürich. 272 Seiten, € 24,95