Niklas Luhmann: Der neue Chef

Köpfe/Rollen

„Der neue Chef ist ein Problem, das sich mit strukturbedingter Typizität laufend wiederholt, eines der wenigen Organisationsprobleme, dem mit Recht universelle Bedeutung beigemessen werden kann.“ (Niklas Luhmann, S.10)

„As for my title, I suppose that the word Cape is from the French cap; which is from the Latin caput, a head; which is, perhaps, from the verb capere, to take, — that being the part by which we take hold of a thing.“ (Henry David Thoreau, Walden)

Das aus dem Französischen entlehnte Substantiv “Chef” schreibt sich, ebenso wie Kapital, Kapitän, Kapitel, der zwei- und dreiköpfige Bi- und Trizeps, aber auch das erfolgreiche Erreichen eines Ziels, die Vollendung innerhalb einer Teleologie, achievement (ad caput venire), vom lateinischen caput her. Es deutet damit, anfangs nur im militärischen Kontext, dem straff durchorganisierten Heer, wo es den kommandoführenden General bezeichnet, hinauf auf den Kopf und das Oberhaupt; die höchste und wichtigste, durch die exponierte Lage jedoch ebenso höchst verletzliche zephalische Stelle innerhalb einer den machtpolitischen Stellenwert ihrer Teile und die Richtung der Befehlskette ordnenden Hierarchie. Zunächst besteht die Hauptsache der Hauptsache als zentraler kybernetischer Steuerungseinheit darin, zahlenmäßig beschränkt, wenn nicht Unikat zu sein, ihre Exzellenz verdankt sich ihrer raren Exklusivität. Doch es dauert nicht lange, bis diese am Aufbau des biologischen Organismus orientierte Metaphorik, spätestens nachdem der Kopf des absolutistischen Herrschers, der im Übrigen schon lange verdoppelt und multipliziert – nämlich in Person einerseits und Erwartungen stabilisierende Rollen andererseits aufgesplittert – war, gefallen und ebenso schnell durch vielfältig nachwachsende Supplemente ersetzt wurde, auch in anderen sozialen Verhältnissen Verwendung fand, zu proliferieren begann und eine Diversität von Häuptlingen einer aus dieser Sicht als poly-tribaler Stammesverbund erscheinende Gesellschaft generierte, wie sie sich etwa in der folgenden bürokratischen, der Ordnung halber alphabetisch sortierten Beispiel-Liste eines gängigen Online-Wörterbuchs niederschlägt, die unendlich ergänzbar ist:

Abteilungschef, Aufsichtsratschef, Betriebsratchef, Ex-Chef, Fraktionschef, Gruppenchef, Konzernbetriebsratchef, Konzernchef, Kreml-Chef, Küchenchef, Länderchef, Landeschef, Marketingchef, Nationalbankchef, Notenbankchef, Parteichef, Polizeichef, Regierungschef, Ressortchef, Terrorgruppenchef, Staatschef, Stabschef, Strategiechef, Verwaltungschef, Vorstandschef, Zentralbankchef

nach Firma/Organisation: Al-Kaida-Chef, Belvedere-Chef, BMW-Chef, Chrysler-Chef, CIA-Chef, Daimler-Chef, Euro-Gruppe-Chef, Ex-Grünen-Chef, Ex-Linken-Chef, EZB-Chef, Flughafenchef, Formel-1-Chef, FPÖ-Chef, Grünen-Chef, IPCC-Chef, IS-Chef, Mercedes-Chef, ÖBB-Aufsichtsratschef, ÖGB-Chef, ÖVP-Chef, PKK-Chef, SPD-Chef, SPÖ-Chef, Volkswagen-Chef (VW-Chef)

Chefdirigent, Chefetage, Chefinstruktor, Chefkoch, Chefkombination, Chefredakteur, Chefsache, Chefsalat, Chefsessel

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Köpfe, die ins Rollen geraten und andererseits (weil sich die Soziologie früh, einschlägig bei Goffman, der Theaterterminologie bedient, um deutlich zu machen, wie sich Soziales inszeniert) Rollen markieren, die selbst stabil bleiben müssen, während die sie spielenden Akteure wechseln. Ist in tribalen Formationen die Rollenzuteilung weitgehend festgeschrieben und geregelt, erweist sie sich in funktional differenzierten Verhältnissen als variabel:

Stabilität ist im sozialen Leben nur erreichbar, wenn das Verhalten der anderen Menschen voraussehbar ist, wenn also zuverlässige wechselseitige Verhaltenserwartungen durchweg erfüllt werden. Dazu gehört, daß diese Verhaltenserwartungen in verschiedener Hinsicht generalisiert sind: daß sie zu komplexen Typen mit verschiedenen Ausführungsmöglichkeiten zusammengefaß sind, daß sie wiederholbar sind, daß sie Konsens finden und daß sie normativen Sinn erhalten und dadurch fortbestehen, auch wenn sie im Einzelfall faktisch enttäuscht werden. Generalisierte Verhaltenserwartungen solcher Art werden heute allgemein als Rollen bezeichnet. (11)

Das Familienoberhaupt ist zugleich Produktionsleiter, Kriegschef, Vortänzer, Mitglied des Stammesrates und anderes mehr. Sein Nachfolger rückt in alle diese Rollen ein. (12)

Ein Konzernpräsident kann verheiratet oder unverheiratet, Tänzer oder Nichttänzer, Kirchenmitglied, Jäger usw. sein. Für das Zusammentreffen solcher Rollen in einer Person gibt es kaum noch soziale Regeln und für Rollenkonflikte keine sozial akzeptierten Lösungen mehr. Jede Nachfolge in eine Rolle bringt daher neue Kombinationen und neue Probleme mit sich. (13)

Immer geht es, wenn – austauschbare – Vorgesetzte im Spiel sind, um Organisation, die sich hierarchisch strukturiert, mit Über- und Unterordnung einer Rangfolge von Mitgliedern über Rollen Kohärenz und Erwartungssicherheit stabilisiert und dadurch Reste segmentärer und stratifikatorischer Gesellschaftsformationen in die moderne, basal funktional differenzierte (und damit laut der gängigen Terminologie: heterarchische, hyperkomplexe und polykontexturale) überführt. Dort wirken derlei per Ein- und Auschluß Mitglieder rekrutierende und “Leute funktional substituierende” Entitäten wie archaische, anachronistische, atavistische Relikte aus grauer Vorzeit, garantieren andererseits jedoch überhaupt erst die strukturelle Kopplung grundsätzlich inkompatibler Funktionssysteme, sind selbst so etwas wie aus den Funktionssystemen herausragende Köpfe. Die Zeit der Moderne (und Postmoderne) ist insofern aus den Fugen und mit sich selbst uneins, als das Entscheidende (und Organisiationen mit ihren legitimierten und legitimierenden formalen Verfahren sind insofern wichtig, als sie Entscheidungen mit Bindungskraft kommunizieren können, um damit die besagte re-ligio/Wiederanbindung des Disparaten zu leisten) an modernen Gesellschaften eben auch etwas ist, was ihre wertvollsten Errungenschaften (die funktionale Differenzierung selbst) stets radikal in Frage stellt:

Der Luhmannschüler Peter Fuchs schreibt dazu in seinem Manuskript “Hierarchien unter Druck – ein Blick auf ihre Funktion und ihren Wandel”(abrufbar unter http://fen.ch/texte/gast_fuchs_hierarchie.pdf):

Organisationen sind in der Lage, die ‚Leute’ funktional zu substituieren. Genau deswegen sind sie diejenigen Einrichtungen, die die strukturelle Kopplung der Funktionssysteme durchführen und damit jene Kompossibilität ins Werk setzen, ohne die funktionale Differenzierung nicht existieren könnte.

Und Fuchs zitiert den späten Luhmann, dessen Ausführungen darin kulminieren, die Ambiguität von Einrichtungen zu betonen, deren Unverzichtbarkeit mit einer Infragestellung gerade jener Errungenschaften einhergeht, die sie andererseits garantieren:

„Sie (die Organisationen, P.F.) können die Personen auswählen, die für eine Tätigkeit in ihren Organisationen in Betracht kommen, und andere ausschließen. Nicht alle Bürger werden Beamte. Funktionssysteme können also mit Hilfe ihrer Organisationen dem Inklusionsdruck der Gesellschaft widerstehen. Jeder ist rechtsfähig, aber nicht jeder bekommt vor Gericht Recht. Das Gleichheitsgebot ist kein Konditionalprogramm. Jeder hat die Schule zu besuchen; aber da es sich um eine Organisation handelt, kann intern entschieden werden, auf welchem Niveau und mit welchem Erfolg. Über Organisationen macht die Gesellschaft sich diskriminationsfähig, und zwar typisch in einer Weise, die auf Funktion, Code und Programme der Funktionssysteme abgestimmt ist. Innerhalb der Organisationen und mit ihrer Hilfe läßt die Gesellschaft die Grundsätze der Freiheit und der Gleichheit scheitern.”

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All diesen und weiteren Verstrickungen, welche die späten organisationssoziologischen Überlegungen Luhmanns, gesammelt im postumen Werk Organisation und Entscheidung (2000), zu Bedenken geben (und die u.a. durch einen starken Exklusionsbegriff frühere Theorieprämissen der systemischen All-Inklusion destabilisieren), sind in den drei frühen Aufsätzen, die das gelbe Suhrkampbüchlein Der neue Chef enthält nur zu erahnen; dafür zeigt sich sich eine (tranzendental-)empirisch gesättigte Binnenperspektive vor allem der bürokratischen Verwaltung der biedermeierlichen Bonner Bundesrepublik weniger als 20 Jahre nach Kriegsende. Bürokratie, die heilige Herrschaft des Beamtenapparats in seinen Schreibstuben und Amtszimmern bildet das kafkaeske – allerdings auf die modernen industriegesellschaftlichen Bürokratien bezogene Szenario dieser Überlegungen. Weder Vademecum noch Handorakel für die Bewältigung des Alltags in hierarchisch organisierten Arbeitsverhältnissen – wenngleich das von Jürgen Kaube erstmals publizierte und wohl nicht ohne Grund vom Autor zurückgehaltene Typoskript “Unterwachung oder Die Kunst, Vorgesetzte zu lenken” als Leitfaden der subtilen Subversion von scheinbar eindeutigen Machtverhältnissen dienen kann – bieten die im 111 Seiten umfassenden Band “Der neue Chef” versammelten drei Texte einen Einblick in Luhmanns organisationssoziologische Frühphase, der entscheidende Schnitte und terminologische Feinunterteilungen, mit denen Luhmann später die Gesellschaft zerlegen wird, um sie danach wieder zusammenzusetzen, noch nicht vorgenommen sind.

Allesamt im Umkreis der Schrift Funktion und Formen formaler Organisation (1964) mit der Luhmann 1966 auch promoviert wurde, entstanden und von Erfahrungen der Jahre 1954-62 als Ministerialbeamter in Lüneburg gespeist, gewähren sie dennoch aufschlußreiche Vorführungen der seltsamen, mitunter grotesk anmutenden Beobachtungsgabe des späteren Bielefelder Soziologieprofessors, dem guter Geist trocken war und der Gag die Mittel heiligt: einer Mischung aus naivster, ja blauäugig-ahnungsloser Überraschungsbereitschaft (wie sie der Band “Gibt es eigentlich den Berliner Zoo noch?” vielfältig illustriert), die ein bescheidenes, tastendes, phänomenologisch-deskriptives Vorgehen mit sich bringt und gleichzeitigem beherzten, risikoaffinen Drauflostheoretisieren, nicht selten allerdings über geschlossener Wolkendecke mit dem eingeschaltetem Autopilot formalisierender Hochabstraktion. Schlagend belegt dies methodisch paradoxe und so sympathische wie problematische Doppel von Zurückhaltung und Überstürztheit jene von Andrea Frank überlieferte Anekdote über einen Luhmann in orangfarbenem Volvo, der, zunächst perplex angesichts der Aporie, eine Kreuzung mit ausgefallener Ampelanlage, offenbar im blinden Vertrauen darauf, dass es schon gutgehen werde, überquert:

„Was ist denn hier los, was soll ich denn hier machen …?“, um sogleich entschlossen hinzuzufügen, „Ach, ich fahre einfach!“ Sprachs, nahm den Fuß von der Bremse und überquerte ohne weiteren Blick nach rechts oder links die kreuzende Vorfahrtsstraße (glücklicherweise ohne damit sich oder sonst jemanden zu gefährden). In diesem Augenblick wurde ihr klar, warum Luhmann in seinen Vorträgen so häufig Beispiele aus dem Bereich des Straßenverkehrs wählte: Er wunderte sich einfach darüber, wie das alles funktioniert und die Beteiligten in den meisten Fällen schadlos hält.“ (vgl. Andrea Frank: Weder Naserümpfen noch Augenaufschlag, in: Theodor Bardmann, Dirk Baecker (Hg.): „Gibt es eigentlich den Berliner Zoo noch?“ Erinnerungen an Niklas Luhmann, Konstanz 1999, S. 69.)

Der neue Chef, titelgebender erster Aufsatz (der dem Namen nach an Kafkas Der neue Advokat und Derridas Das andere Cap erinnert, mit denen er durchaus zu tun hat) und der zweite namens Spontane Ordnungsbildung untersuchen ausgehend von der alles leitenden Annahme, Stabilität setze Erwartungssicherheit voraus, jene nach Luhmanns Ansicht von der bisherigen Verwaltungswissenschaft vernachlässigten Probleme, die sich aus einer Neubesetzung der Führungsrolle ergeben können, da zwar formale Funktionen weitgehend bruchlos an nachfolgende Amtsträger übergeben werden, die nebenherlaufenden informalen („mit all ihren gefühlsmäßigen Bindungen, mit ihren Hilfeleistungen, Gunsterweisen, Informationen, Tauschansprüchen, persönlichen Verpflichtungen und emotionalen Sicherheiten“, 38) hingegen nicht ebenso. Welche Folgeprobleme sind zu erwarten, wenn die Erwartungssicherheit durch Wegfall vertrauter Strukturen plötzlich gefährdet ist, und wie lassen sich derartige unliebsame und an Konfliktpotential reiche Situationen bereits im Vorfeld abwenden oder zumindest mildern und in ihrer Schockhaftigkeit durch antezipierende Vorwegnahme absorbieren?
Denn daran ist innerhalb dieser Axiomatik alles gelegen: Komplexität muss reduziert, Unsicherheit stabilisiert werden, Erwartungen (auch die das Einzelnen von sich selbst) bestätigt, nicht enttäuscht werden. Wie schwierig und unwahrscheinlich dieses Normale reibungslos geregelter Abläufe überhaupt umzusetzen ist, macht Luhmann ebenso deutlich, wie er auf der Notwendigkeit von Stabilisierung als Hauptfunktion von Gesellschaft besteht. Obwohl zuweilen der neutrale, rein konstative Duktus seine Unbrauchbarkeit für Wegweisungen zu behaupten müssen meint („Diese Überlegungen lassen offensichtlich keine allgemeinen Empfehlungen zu“, 32), erweist sich für Luhmann der parallel mitlaufende informale Bereich, in welchem auch ein neugedeuteter Begriff von Spontaneität zum Zuge kommt, in der seinerzeit bisherigen an dem Theorem formaler Zweckorganisation orientierten (vor allem amerikanischer) Forschung als weitgehend unterschätzt:

Die Probleme der Chefüberlastung, die Unvermeidlichkeit widerspruchsvoller Leistungsstandards, die Mängel der am Zweck-Mittel-Schema und am Befehlsmodell der Autorität orientierten klassischen Organisationslehre, die Vorteile eines persönlichlich ausgerichteten „natürlichen“ Handlungssystems, in dem Takt, Vertrauten, Tausch von Gunsterweisen, Prestigeunterschiede und die feinereren Formen gesellschaftlicher Sanktionen das Verhalten steuern — diese und andere einsichten der jüngsten Forschung dürften das Interessen an einer stärker generalisierten Systemsteuerung wecken. (39-49)

Takt wird insgeheim taktisch — obwohl sich die Ausführungen eine Reserve gegenüber Rezepten aus dem Ratgebergewerbe (und der tragischen Frage „Was tun?“) aufzuerlegen versuchen, der sie jedoch nicht standhalten mögen — als eine Art Proto-Ethik (einer Ethik, deren Hauptfunktion für den späteren Luhmann war, vor Moral zu warnen) nicht nur funktional sinnvoll bewertet und, wie alles, auf den zu erzielenden Gewinn, die zu erwartende Effizienz hin untersucht, sondern nachgerade zur conditio sine qua non störungsfreier Abläufe nobilitiert. So heißt es gegen Ende von Unterwachung Oder die Kunst, Vorgesetzte zu lenken, das mit subversiven Ratschlägen aufwartet, wie dem, den Chef durch komplizierte Formulierungen, die längere Zeit des Verstehens erfordern, die Widerspruchsmöglichkeit zu nehmen:

Wichtig ist natürlich Respekt als formale Anerkennung der ranghöheren Rolle. Hier wird oft das Problem der Servilität befürchtet. Es gibt aber Möglichkeiten, Mißachtung respektvoll zum Ausdruck zu bringen, etwa indem man sich als nicht verstehenden, gelangweilten Zuhörer zeigt. Oberste Bedingung ist Takt: Man muß den anderen als den behandeln, der er sein möchte, sozusagen die beabsichtigte Selbstdarstellung im eigenen Handeln auffangen und reflektieren. Ich habe immer wieder versucht, an den Grenzen der Taktlosigkeit zu experimentieren, es zahlt sich nicht aus. Man kann irritieren, die Situation in ein leichtes Vibrieren bringen, vielleicht so stark stören, daß Aufmerksamkeit von einem unangenehmen Thema wegkommt. Vielmehr ist damit nicht zu erreichen.

Dass Takt, Vertrauen, ebenso wie Selbstdisziplin hier taktil-strategisch, d.h. funktionalistisch als effektive Mechanismen der Komplexitätsreduktion, nicht moralische Verhaltensvorgaben behandelt und empfohlen werden und sich von der Einsicht herleiten, dass „Macht […] effektiv nur in Form von Kooporation, nicht in der Form von Konflikt“ ausgeübt werden kann, weist voraus auf die erstmal 1968 erschiene Studie Vertrauen: Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität.
Die Notwendigkeit hingegen, sich (fast ein wenig im Sinne des anerkennungstheoretisch gedeuteten frühen Hegel) im anderen als der bestätigt zu sehen, der man sein möchte (mithin etwa auch die systemtheoretische Aktualisierung der Erwartung eines augustinischen volo ut sis), hält sich durch bis zur, gegenüber den Texten im Band, fast 20 Jahre später veröffentlichten Liebe als Passion. Dort nämlich heißt es:

„Was man als Liebe sucht, was man in Intimbeziehungen sucht, wird somit in erster Linie dies sein: Validierung der Selbstdarstellung. Es geht nicht so sehr darum, daß der Liebende den Geliebten überschätzt oder gar idealisiert. Das kann diesem als ständige Aufforderung, besser zu sein, und als ständiges Diskrepanzerleben eher unangenehm sein, jedenfalls auf Dauer.“

Wie deutlich diese das spätere Werk prägenden Grundprämissen bereits im frühen verwaltungssoziologischen angelegt sind (in deren unmittelbaren Umkreis übrigens auch das vielgelesene Lob der Routine (in 55 Verwaltungsarchiv (1964)) verortet werden muss), lässt sich nun weitergehend erforschen.

Tillmann Reik

Informationen zum Buch

 

Titus Meyer: Meiner Buchstabeneuter Milchwuchtordnung / Jürgen Buchmann: Wahrhafftiger Bericht über die Sprache der Elfen des Exter-Thals

Permanente Permutation: Auf Biegen und Brechen

Sator Rotas[1]

sprechen Vb. ‘reden’, ahd. sprehhan (8. Jh.), mhd. sprechen, asächs. sprekan, mnd. mnl. sprēken, nl. spreken, afries. spreka, aengl. sprecan (westgerm. *sprekan) und die r- losen Formen ahd. spehhan (9. Jh.), asächs. spekan, mhd. spehten ‘schwatzen’, aengl. specan, engl. to speak ‘reden’, mnl. spēken werden wie mnd. sprāken ‘Funken sprühen’, mnl. sparken, aengl. spearcian, anord. schwed. spraka ‘knistern, prasseln’ und die unter Sprache (s. d.) genannten Formen als Schallwörter mit alban. shpreh ‘ich spreche aus’, kymr. ffreg ‘Geschwätz’ und aind. sphū́rjati ‘donnert, grollt’, griech. spharagḗīsthai (σφαραγεῖσθαι) ‘knistern, zischen, strotzen, zum Platzen voll sein’, lit. (ablautend) sprógti ‘bersten, platzen’, ohne anlautendes s- kslaw. prъžiti, pražiti ‘rösten, dörren’, russ. (älter) prjážit’ (пряжить) ‘in Butter backen’ auf ie. *(s)p(h)ereg-, *(s)p(h)erəg-, *(s)p(h)rēg- zurückgeführt, eine g- Erweiterung der unter Sporn (s. d.) genannten Wurzel ie. *sp(h)er(ə)- ‘zucken, zappeln, schnellen’ (auch ‘streuen, sprengen, spritzen’, s. sprühen, Spur)

“Dieses Register, dessen Siglen unter der Lektüre zu bröckeln und zu zerkrümeln scheinen wie der Lehm im Rutengeflecht afrikanischer Hütten, wird offenbar umso chimärischer, je mehr Posten es aufführt.” (Buchmann, Wahrhaftiger Bericht über die Sprache der Elfen des Exter-Thals[2])

“Ehcarps”, also, “Er sah PC.”[3] Anders, das heißt, gängiger gewendet, “Sprache”, aus deren Arche, ach, so sei´s geklagt[4], der englische Schmerz, ache, sowie Rache und Brache (in ihrem Plural gar der Rachen) heraussplittern: vielleicht ein, den sprühenden, spritzenden, sprengenden, knisternden, zischenden, strotzenden, platzenden, berstenden, donnernden, grollenden, vor allem: Spuren streuenden Klang des Sprechens nachahmendes lautmalerisches Schallwort. Darüber hinaus aber (sobald es Sprache gibt, ist sie Meta-Sprache ihrerselbst[5]) Wendung für nichts als eine aufbrechende, sich stets entwindende, gewunden (das heißt sich schlingend und verflechtend) wandernde Wind- Wend- und ergo Wandelbarkeit, morphologische mutatio, meta- und hyperbolé, die allem Geschraubten, Geschwurbelen ihrer Verwendungen voraus geht.[6]

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Sollte zutreffen, dass das Wesen des Literarischen gerade darin besteht, emphatisch über keines zu verfügen, sich in hakenschlagenden Fluchtbewegungen (preschen: ein Anagramm von sprechen) von allem Essentiellen, die Sprache zur Sprache, d.h., siehe oben, zur berstenden Streuung, kommenlassend, frei- und auszuschreiben? Die frühromantische Kunstkritik bis hin zu Blanchots Auslotungen des Literarischen Raums haben das, ohne dadurch je den vorherrschenden, mit ontologischen Präjudizien gerüsteten Rezensionsbetrieb nachhaltig zu stören, implizit zur Prämisse gehabt. Dann nämlich läge die vorrangige Aufgabe einer adäquaten Auseinandersetzung mit Geschriebenem, die, da ebenso auf literarische Mittel zugreifend, notwendig auch eine in ihm ist, womöglich nicht darin, zu kritisieren. Zumindest wenn darunter, wie meist, vulgär die mit Lob oder Tadel sanktionierende, zensurenvergebende Einschätzung einer Leistung, ihres Gelingens oder Mißlingens, verstanden wird. Gemessen an einem Maßstab, der festlegt, wie etwas nun einmal gattungs- oder genrespezifisch beschaffen sein müsse. Über den Wert oder Unwert literarischer Hervorbringungen, deren Gut-, Schlecht- oder gar Bösesein zu entscheiden, – man erinnert sich daran, dass Bataille eben in diesem Bezug aufs Böse, in dieser Teilhabe an devianter Delinquenz, ohnehin ein unvermeidliches Charakteristikum aller Literatur erblickt hat -, richterlich evaluierende Urteile zu fällen, erwiese sich als apriori insuffizient und defizitär hinsichtlich des Textuellen; hätte ihrerseits die Rüge zu gewärtigen, den Gegenständen, ihrem Niveau, das ihnen als Texten zukommt, nicht gerecht zu werden.

Eher hingegen wäre das — mit aller Emphase, aber ohne jedes falsche Pathos: genuin ethische — Erfordernis, sich, schreibend (also streunend-streuend) an literarische Gebilde zu richten, ohne über sie Richtsprüche ergehen zu lassen. Vielmehr ihrer windungsreichen Fluchtbewegung sich anzuvertrauen; den unbeirrbaren Juridismus der Urteilsbildung, der stellen und zu Fall bringen will, folglich nicht nur thematisch zu problematisieren, einzuklammern und in dieser epoché womöglich zu öffnen, sondern aus-schreibend so weit wie möglich zu entkräften. Den randlosen Gespinsten der Schrift gegenüber sich ins gemäße Verhältnis, das nicht selten in einer angemessenen Unangemessenheit bestehen muss, zu setzen. Und in diesem Zuge die je singuläre Weise wie eine befremdliche, heterogene Alterität, ein Aporon in der Form eines Textes sich dem bündigen Verstehen in wohlbegründeter Rede, dem begreifendenwollenden Bemächtigungsgestus eben gerade in idiomatischer und -synkratischer, vielleicht idiosyntaktischer Uneigentlichkeit widerständig verweigert, mitzuvollziehen. Was allem zuvor bedeutet, sich der Schrift, ihren eigensinnigen, mitunter störrischen Krümmungen und Wendungen in mimetischer Anschmiegung folgend, auszusetzen und zu überlassen, doch gleichzeitig sie lassen und, von ihr aufbrechend, verlassen. Selbst und zuallererst dort, wo dies mit einer alle rezeptive Behaglichkeit erschwerenden oder verunmöglichenden Verunsicherung einhergeht, die ihren Grund nicht unbedingt nur in der Desastrosität alles Textlichen findet, sondern genauso sich dem Versagen oder Unbrauchbarwerden jeglicher eingeübten Strategien der Reduktion des Anderen aufs Selbe, vermeintlich bereits Bekannte verdankt.

Entgegenkommend dünken dabei der Einübung in derartiges anderes Verstehen, oder ein Anderes als Verstehen, für das es sogleich nichts und unendlich viel zu erfassen gibt, weil Über- und Unterdetermination ununterscheidbar werden, solche Texte, die ihrem äußeren Erscheinungsbild nach (aber nichts als die reine Äußerlichkeit phänomenaler Non-Phänomenalität sind ja Texte) bereits mit einer, eingeschliffene hermeneutische Mechanismen aushebelnden Fremdartigkeit aufwarten, wie es für zwei Bücher zutrifft, die im Reinecke&Voss Verlag herausgegeben wurden.

Logos-Lego als Titus´ Ritus: Die Semantik, diese Mantik

And shall not Babel be with Lebab? (James Joyce, FW 258.11)

Muster-Yeti, anagrammatisch, das y für ein i genommen z.B. auch Ritusmiete, Timer-Suite, Reisemutti, Mister Etui: Titus Meyer, mit dem Vornamen des demokritisch-epikureischen Atomisten Lukrez. Seine Meiner Buchstabeneuter Milchwuchtordnung verunsichert zuweilen tiefgreifend, ennerviert infantil, mehr noch als sie erheitert und belustigt (“Diese Uneigentlichkeit, eine Art Ironie, die nicht auf Lustigkeit hinausläuft”[7], aber vielleicht auf: Gag, der die Mittel heiligt?), durch die Ernsthaftigkeit ihres kuriosen Spiels mit dem formal rigiden textgenerativen Verfahren, gleichermaßen antik, barock und spätestens seit Oulipo avantgardistisch, des Palindromierens und Angrammierens als Versatzstücke aufsprengende (“Wortkernschmelze” S.56) und re-montierende bricolage. Es erscheint als Wirklichkeitslego. Lichtkreiswolkige Logikwischrelikte (S.56). Der semiotische Mikrokosmos der Wortmanipulation, religiösen und magischen Ursprungs, legt die dynamische Wandelbarkeit, als welche Sprache sich konstituiert, frei:

Tischtänze des Riesenwinds
dieser Silbe. Nerve! Sei Kind!
Sprich! Lach! Nur ein Gag?
Lego-Wesen bilden sie.
(Trostraum Traumrost, S.55)[8]

[…]

Kam Melodei,
Lego-Wege retten
Ohres Eid. Nie hat sie Idole!
Meine geistre ohne Wagnis!
(Sing a! Wagnis?, S.41)[9]

Da das reigentanzende Logos-Lego (Ich möcht dem Faden, roten, zeigen/dass schöner ist der Zoten Reigen., S.48) mittels dieser eröffnenden Limitierung alle vermeintliche Kenntnis darüber, was Sinn (und/oder Bedeutung), den es, Zeilen biegend, spaltet, sei, die diesen ungern als bloß aus “moderiertem Sprachgeröll” (Bertram Reinecke) herausspringenden Effekt betrachtet, unbrauchbar werden lässt. (Oh Plagegeist Sinn!, S.52)

Ich möchte lieber Zeilen biegen:
Sinn spalt ich, wie mit Beilen Ziegen.
Ich wackel an den Zielen-Beigen,
die sich von Ulm bis Bielen zeigen.
(Bienendichter und Zeilenbieger, S.48)[10]

[…]

Enges nie Verbchaotherr anhielt.
Zusammenhaenge innerhalb
Teicherdigem bersten.
(Sterben Reimgedichte?, S.49)[11]

Wie kann man vermeiden, in vernutzten Konventionen (Sitten sind öde, S.23), die mitunter nicht einmal als solche erkannt, sondern für die Freiheit selbst gelten wollen, zu sprechen und demgegenüber die Sprache genötigt werden, sich selbst unablässig zu überraschen? Vielleicht so wie Meyers “Technik” des constrained writing – von der man, ähnlich wie von Zwölfton- oder Reihentechnik in der Musik sprechen könnte, um damit gleichzeitig die im techné Begriff gelegene Bedeutung des Know-How, savoir-faire und der Geschicklichkeit im Fügen zu bezeichnen – es in Szene setzt. Die strenge Form, die den Möglichkeitsraum des Sagbaren von einem ohnehin stets auf einen Fundus des standardmässig erlaubten bezogenen anything goes auf strenge Regularien hin restringiert, scheint quasi maschinenhaft-automatisch nicht gesuchte Findungen emergieren zu lassen. Serendipität kommt ex machina zum Zuge. Trouvailles, die sich dem Verfügungswillen des Autors, der bloß zum pflichtgetreuen Exekutor des entfesselten Gesetzes der Buchstabendrehungen und -wendungen degradiert ist, entziehen. (Im trobar, dem vom gr. tropos abstammenden altokzitanischen Wort fürs Dichten als Finden, findet sich dieses noch als ein Wenden und Drehen, trepein). Weshalb diesen als Silben-Artist im akrobatischen Sinne zu verstehen vielleicht zu kurz greift: die virtuose Akrobatik liegt eher auf Seiten der Sprache als findiger Drehung, Wendigkeit, Biegung, also Topos, und Flexion, und im Zuge dieser ständigen Überspanntheit: streuender Brechung, Atropie[12], denn in einem wie auch immer geniehaft über sie gebietenden, herrisch sie zu- und herrichtenden Dompteur[13].

Aufbrechende Windungen und Wendungen, Kehren, Drehungen, Torsionen, Per- und Kon-Versionen: Sprache entbirgt sich als die ursprüngliche Deviation, die Abweichung vom rechten, richtigen, geraden Weg, die sie ist: verquerer dis-cursus, doch spiegelbildlich auf sich zurückgeboten. Die für die tropische lexis wie anhand der Wörter “Strophe” (Wendung) oder “Vers” (von vertere, umwenden) ersichtlich, üblichen Bewegungen des Richtungswechsel oder Wechsels der Gerichtetheit, sorgen aufs Wort und seine Lettern selbst bezogen für beinah babylonische Konfusion. Denn Sinn, der teleologisch Orientierung, die man Bedeutung nennt (und nennen, Vorsicht, liest sich auch rückwärts uniform), gewähren soll, sieht sich angewiesen auf referentielle Uni-Direktionalität, Irreversibilität, Einhaltung der Reihenfolge, Immutabilität der Wort- und Satz-Einheit. Was passiert, wenn, im Palindrom, identische Zeichenfolge wiedergebende und eine schwindelerregende Zirkularität des Kreisens erzeugende Umkehrbarkeit vice versa zur Voraussetzung erhoben wird, die erfüllt sein muss, damit ein Text sich generiert, als formal korrekt validiert und dabei die die intakte Worteinheit umgrenzenden Spatien beim retrograden Lesen überschritten werden dürfen? Ein Hiat wird überbrückt, nachdem an der Mittelachse (im a des arid) gespiegelt wurde, dafür stets ein anderer aufgebrochen, die scheint´s unspaltbaren Segmente dieser DNA-artigen Palindromsequenz ihrer Dividualität, Wege rüttelnd, überführt. Die Sprache bricht, indem sie sich augenfällig unendlich ringförmig und selbstgenügsam auf sich selbst zurückbiegt; ihr Sprechen, in Wendungen, ist die ars combinatoria einer unaufhaltsamen rumpelten Ruptur, keine prästabilierte Harmonie bruchloser Übergänge. Leben eben, findige Wendbarkeit, wie im folgenden Buchstabenpalindrom mit “hundertprozentige[r] Spurtreue”(S.68):

Leben

Kredo liegt. Sitten sind öde.
Im Geiste begehe Welttür!
Eine Dressur, grell: Ehre
Ruettle Wege! Lebe!

In dir, arid: Nie belege
weltteurer, heller Gruss Erde.
Nie rüttle & wehe Gebet.

Sieg mied Ödnis.
Nett ist geil, oder
Knebel.
(Leben, S.23)[14]

Ob das noch Sprache ist, die etwas mitteilen will, mit dem man etwas anfangen kann, sich seinen Reim (den, im Plural, ebenso wie den Eimer, Meyer ja im Namen trägt. Bei Meyer sind Reime, Konsistenzgaranten der alten Schule, einerseits im Eimer, andererseits subtiler regeneriert) darauf machen kann, wird zunächst fragwürdig, weil Zeichen derart desorientiert im Zeigen, Weisen und Deuten von ihrem unmittelbaren Verständigungszweck entbunden wie waise und versprengt in die Nutzlosigkeit gewissermaßen entlassen zu sein scheinen. Aber kann man nicht, wie bereits geschehen, dennoch oder gerade deswegen genauso etwas womöglich mystisch Tiefsinniges hinein oder herauslesen wie in den vermeintlich bedeutungsvollen Ausdruck subjektiver Befindlichkeit etwa eines Goethe-Gedichts? Macht nicht die Literarizität eines Textes eben aus, von den konventionalisierten und legitimierten Verknüpfungsmitteln der alltäglichen Sprache als Kommunikationsmittel gerade zu befreien, der Weise, dass die zum Zweck gewordene Medialiät der Textur in ihrem Eigenwert die einfache Übermittlungen von Botschaften stört oder gar unterbindet und ein emphatisches Verhalten des Lesens einfordert, das anderes verlangt als das bloße Entziffern des Was hinter dem Wie? Vielleicht entbirgt sich hierin, was die Magiker und Mysteriker geahnt haben mögen, etwas vom Unwesen der “Sprache überhaupt”, die Benjamin der Sprache des Menschen an die Seite stellte; oder über dessen Haupt und vielleicht als eigentliches Oberhaupt.[15]

Immerhin findet sich in der fremdartig parataktisch anmutenden Kette von änigmatischen Wörtern und Interpunktionszeichen eine neue, wenn auch unsichere Bezügigkeit, die obgleich zunächst frei von den Funktionen der Designation und Referenz, sofort Mutmaßungen aufspringen lässt, die ein Ausgreifen auf eine externe Wirklichkeit durchprüfen, so als würde Welt bloß (und das ist ein Phantasma, das Sprache selbst erst möglich macht) von Sprache repräsentiert. Gnomisch geprägte Sentenzen von apodiktischer Bündigkeit springen merksatzhaft ins Auge, “Sitten sind öde” und “Nett ist geil, oder Knebel” (ob die constraints dieses Kompositionsprinzip etwa geil oder Knebel sind, bleibt in der Schwebe) und erweisen sich als fähig, für spruchweisheitliche Tatsachenbehauptungen genommen zu werden, deren Richtigkeitkeit schlechterdings schwer zu bestreiten ist.

(Überdies, so öde, mies oder nett Sitte auch sein mag,

Tugend

Rotzte jeder Eide?
Ist Sitte nett? Ist
sie mies? Bei leisem
Muss lauert nur Unheil.

[…]

Gutes, sie hell Ehre lieh,
nur untreu. Als Summe sie
lieb sei. Meist Sitte nett ist.
Sie die Rede jetzt ordne gut.
(S.19)

sie wird, schon weil Unordnung auch eine Ordnung ist und möglicherweise der älteste aller Bräuche, die Oberhand behalten:

Setting weint:

Wie nett singt
Wittgenstein:
“Sitte gewinnt!”
(S.53)[16])

In diesem Moment allerdings, weicht schon das wie Wahn- oder Unsinn (die archaische, dem Mantis überantwortete Mania) anmutende, schlechthin Nichtsagende Murmeln der Wörter herausspringenden Sinnfetzen, die die Zeichen und ihre Konstellation, ihren Ton, ihren Rhythmus als sekundäre Träger einer Bedeutung abwerten und in den Hintergrund drängen. Bertram Reinecke hat die Uneigentlichkeit dieses Murmelns der Zeichen und Laute in seinem Nachwort treffend mit dem Geraune Sterbender verglichen; es mag auch an die närrische Amnesie Dementer erinnern (Amneseie mag Narr, er eselt im Reden, S.52). Indessen entpuppt es sich, bedeutungsloses, da überbordend bedeutsames, klangvolles Parlando, bei Jürgen Buchmann als bezirzende Elfensprache, in der wir “eine Privilegierung des Zeichens [natürlich gut phonozentrisch zunächst als Klang und Laut] erblicken dürfen, wie sie uns auch in der Dichtungslehre der Zeit [des Barock] begegnet.” (WbüdSdEdET, S.10)

Sirenenklänge

“Denn wenn wir anderen lesen, so ist es uns in unserer Einfalt um die Bedeutung des Textes zu tun; Sie aber triumphieren, wenn sie zu schillern beginnt und davonschwebt, um zu platzen, wie die Seifenblasen eines Kindes. Unvergessen bleibt mir, wie Sie eine Vorlesung zur Hermeneutik mit der Bemerkung quittierten, ein Satz sei “keine Batterie von Feldschlanangen, die Sinn speien, sondern ein flämisches Glockenspiel mit ebensoviel Glocken als Worten.” (ebd., S.28)

3ac203ec96[1]“Was treibt Sie, so kaltblütig Sinn für ein Spiel hinzugeben? Welche Sirenenklänge, uns anderen nicht hörbar, verhexen Sie?” (28) fragt Briefpartner Leander Eß den schließlich am 29. September 1701 44jährig cum infarcto cordis tot im Wald aufgefundenen Dorfpfarrer in St.Jakobi zu Almena Martin Oestermann (mit Dehnungs e) und rät ihm als Mittel gegen den Bruch und die Dispersion zur phallischen Aufbäumung, die Verankerung im tranzendentalen Signifikanten: “Ich sehe sie lächeln, doch kann ich nicht anders, teurer, wunderlicher Freund, als eingedenk so mannigfach vermeldeten Schiffbruchs in sie zu dringen, sich fest an den Mastbaum des Kreuzes zu binden. (…)”.

Hätte er sich mal an diesen Rat zur Selbstbindung gehalten, sich wie Odysseus vom Sirenengesang nicht dahinreißen und davon tragen lassen, dann wäre die Passion des “vom Monde heruntergekommenen” Geistlichen für der Güter Gefährlichstes, Sprache, und deren Geläut womöglich nicht zur verfrühten Unzeit lethal verlaufen.

“Einer der unter den Elfen gelebt hat, wird nicht mehr heimisch unter den Seinen und stirbt über ein kurzes.” (14)

Ob er einer manisch-depressiven Psychose, jener auch bipolare Störung genannten Affektstörung litt, wie die (fingierte — aber was wäre in diesem “Wahrhaftigen Bericht”, der auch ein wahnhaftiger ist, denn bloß fingiert? — )Psychoanalytikerin Judith Adler 2005 in einem Aufsatz in der Zeitschrift Risse schlußfolgert oder das Explodieren und Proliferieren der Sprache nicht eher von jenem Symptombündel aus akustischen Halluzinationen, Akoasmen, Stimmenhören zeugt, wie es lange als für die Schizophrenie typisch galt, lässt sich diagnostisch wohl nicht klären. Um Wahnsinn handelt es sich insofern, als es um eine Erfahrung geht, die des Sinnes (oder dessen, was man rechtmäßig darunter verstanden wissen will: der rechten Richtung) entbehrt und wie das ursprünglich agrarische lateinische delirare (de lira ire) aus der Spur geraten, von der geraden Furche abgewichen ist.

“Und so wandere ich allein durch den Frühling als Fremder unter Fremden, allein unter Wundern und Geheimnissen” (ebd.S.15)

Buchmanns barockes Büchlein Wahrhaftiger Bericht über die Sprache der Elfen des Exter-Thals, sicher falschverstanden, wenn man es wohlwollend, doch zu possierlich als vergnügliche und unterhaltsame Novelle rezipiert und damit in seiner gewaltigen Sprengkraft unterschätzt, ist zwar Kleinod, aber alles andere als harmlos. Es ist ungeheuer und unheimlich nicht wegen seiner zauberhaften Märchenerzählung mit kriminalistischem Anstrich, sondern aufgrund des Einblicks, den es im Kleide dieser inszenierten Affäre gewährt: in die Abgründe, die eine ausufernde Beschäftigung mit Lauten und Lettern eröffnen kann.

 

Tillmann Reik

Informationen zur Milchwuchtordnung und zum Wahrhafftigen Bericht.

 

[1] Eine der einfachsten Lesarten der änigmatischen antiken Sator arepo Wortfolge liegt bereits in dem Bezug des Säens und Streuens (des Sämanns, Sator) zum Drehen und zum Rad (Sator (tenet) rotas: Der Sämann hält die Räder/Sämann, du drehst!) wie sie das Palindrom Sator (ent)hält (“Sator” tenet “Rotas”). Diese Volte ist vielleicht auch in den folgenden Überlegungen zu erkennen: der streuende Sator, die Sprache, dreht (und rädert!). (Das Wort Palindrom selbst verweist, so eine etymologische Spekulation, auf die mit dem Drehen und Wenden von Rädern zusammenhängende Wurzel *kwle: „palindrome (n.) Look up palindrome at Dictionary.com„line that reads the same backward and forward,“ 1620s, from Greek palindromos „a recurrence,“ literally „a running back.“ Second element is dromos „a running“ (see dromedary); first is palin „again, back,“ from PIE *kwle-i-, from root *kwel- (1) forming words to do with turning, rolling, and wheels (see cycle (n.)), here with notion of „revolving.“ PIE *kw- becomes Greek p- before some vowels.“ (http://www.etymonline.com/index.php?term=palindrome&allowed_in_frame=0)

[2] S.15. Künftig in buchstabensalataffiner Weise abgekürzt durch WBüdSdEdET

[3] “Selbst wenn eine Maschine also möglicherweise schneller Anagramme oder Palindromworte entdecken mag, schreibt sie damit noch lange nicht bessere Anagramm- oder Palindromtexte.[…]Titus Meyer verwendet den Rechner deshalb nur um seine Texte anschließend auf formale Richtigkeit zu prüfen, ansonsten arbeitet er mit Wortlisten und Nachschlagewerken wie andere Dichter auch.” (Bertram Reinecke, Anstelle eines Nachworts. Einige Bermerkungen zum Gespräch über die sehr strengen Formen. S.74)

[4] Für Nachforschungen über ein der sprAche und allem Sagen gleichermaßen inhärentes wie vorausgehendes schmerzensreiches Klagen, vergleiche: Werner Hamacher :„Bemerkungen zur Klage“, in: „Lamentin Jewish Thought“ (edited by Ilit Ferber and PaulaSchwebel), Walter de Gruyter:Berlin 2014; S. 89-110.

[5] siehe hierzu auch Fußnote 15

[6] Der Versuch, in dem Gedanken an Sprache als Wendung, alles, was in Sprache auf Biegen und Brechen hinausläuft (und im Winden aufs Schlingen und Verflechten), mit ebensolcher sprichwörtlichen Rücksichtslosigkeit zusammenzuzwingen, kann als solcher sicher auch seinerseits nur gebrochen Konsistenz beanspruchen. “Wendung” soll hier jedenfalls nicht als innersprachliches Phänomen eine Rolle spielen, sondern als etwas, das Sprache insgesamt konstituiert und also dekonstituiert.

[7] so Bertram Reinecke im Nachwort

[8] “2.2. Silben-Palindrom, geschüttelt: Siehe 2.1 [Silbenpalindrom, TR]. Allerdings kommt hierbei erschwerend hinzu, dass die Anlaute der Silben immer paarweise ausgetauscht werden: Die Anlaute der ersten und vorletztem Silbe; der zweiten und letzten; der dritten und viertletzten; der vierten und drittletzten …etc. des Textes sind dabei identisch. Daraus folgt, dass die direkte Palindromität einzig auf die Silbenstämme wirkt und die indirekte Palindromität auf die Silbenanlaute, welche palindromisch paarweise alterniert werden.” (S.68)

[9] Buchstabenpalindrom, siehe Fußnote 14.

[10] “7.1 Schüttelreimgedicht, doppelt: Gedicht, bei dem stets die Anlaute UND die darauffolgenden Vokale der der letzten beiden Wörter beziehungsweise betonten Silben zweier Verse ausgetauscht werden.” (S.69)

[11] “3. Wortpalindrom, anagrammatisch: Siehe 1.1 [i.e. Buchstabenpalindrom, TR]. Allerdings ist hierbei das Wort die Zeicheneinheit, die dem Palindromitätsprinzip unterliegt. Erschwerend kommt hinzu, dass die palindromisch korrelierenden Worte Anagramme zueinander sind. Bei diesem Verfahren handelt es sich unseres Wissens ebenfalls um eine Novität.” (S.69)

[12] Atropos (griechisch Ἄτροπος „die Unabwendbare“) ist in der griechischen Mythologie die älteste der drei Moiren.[1] Als Zerstörerin war es ihre Aufgabe, den Lebensfaden zu zerschneiden, der von ihren Schwestern Klotho gesponnen und von Lachesis bemessen worden war. (wikipedia)

[13] Wenn auch die Bemerkung Bertram Reineckes, es ginge ums “Moderieren von Sprachgeröll” den Sachverhalt gut wiedergibt.

[14] “1.1. Buchstabenpalindrom: Zeichenfolge, die vor- und rückwärts das Gleiche oder etwas anderes ergibt. Interpunktion (auch das &-Zeichen) sind dabei außer Acht gelassen. Bei sämtlichen buchstabenpalindromischen Texten dieses Bandes wirkt eine hundertprozentige Spurtreue; d.h. beispielsweise werden “ch” und “sch” als Folge von zwei bzw. drei Buchstaben palindromiert und nicht als die entsprechenden Laute auch wenn daraus ein erheblich höherer Schwierigkeitsgrad bei der Verwendung solcher Laute resultiert.” (S.68)

[15] Thomas Schestag hat daraufhin gewiesen, dass bereits in Benjamins Titel Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, vom dreifachen Über skandiert, sichtbar wird, in welchem Maß dieses Über das eigentliche und einzige Sujet des Textes (über die Sprache) darstellt, Vgl. Thomas Schestag, Lampen (Fragment), in: Übersetzen : Walter Benjamin, hrsg. von Christiaan L. Hart Nibbrig, Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag 2001, S. 38-79.

[16] “4.1. Anagramm-Gedicht: Die Buchstaben eines Verses (meist eines Wortes oder Satzes) werden zeilenweise permutiert. Umlaute können zuihrem Vokal +e aufgelöst werden und umgekehrt.” (S.69)