Jacques Derrida: Geschichte der Lüge. Prolegomena

Pseudologie

 

Das Dasein trägt in sich selbst die Möglichkeit der Täuschung und der Lüge.
Martin Heidegger

Das aber heißt, daß unsere Fähigkeit zu lügen – aber keineswegs unser Vermögen, die Wahrheit zu sagen – zu den wenigen Daten gehört, die uns nachweislich bestätigen, daß es so etwas wie Freiheit wirklich gibt.
Hannah Arendt

Dies Alles will sagen: wir sind von Grund aus, von Alters her – an’s Lügen gewöhnt. Oder, um es tugendhafter und heuchlerischer, kurz angenehmer auszudrücken: man ist viel mehr Künstler als man weiss.
Friedrich Nietzsche

Lügelust, Lügenliebe und Liebeslüge

Wenn, so die Hypothese, die offiziell stets geschmähte Lüge eine Geschichte hätte (etwa in Gestalt aufreihender Narration sämtlicher Lügenereignisse oder einem Aufweis der historischen Veränderungen, denen der Lügenbegriff und die Lügenpraxis als solche unterliegen), würde diese in ihrer Berichterstattung wahr sein und sich aufrichtig erzählen können, ohne sich ihrerseits im Geringsten, bei aller vorgeblichen „Objektivität“, des verfälschenden Geschwindels und der nasführenden Flunkerei zu bedienen? Von der wahrheitsgemäßen Beantwortung dieser Frage (und der Möglichkeit einer solchen) wird die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Historiographie im Ganzen nicht unabhängig sein können.

Wohl nicht zufällig taucht deshalb interessanterweise an zwei Stellen der verschiedene Texte von Platon, Aristoteles, Augustinus, Paulus, Kant, Rousseau, Arendt, Koyré in den Blick nehmenden „Geschichte der Lüge. Prolegomena“ Derridas, die den Versuch einer „dekonstruktiven Genealogie“ unternimmt(67), das sexuelle Begehren im allgemeinen, der vorgetäuschte Orgasmus im Besonderen auf, um allerdings sogleich wieder zu verschwinden:

Ist die gesamte Literatur über den vorgetäuschten Orgasmus (fake orgasm), die heute ganze Bibliotheken füllt, eine Literatur über die Lüge, ja sogar über die nützliche, edle oder Dienstlüge (mendacium officiosum), wenn diese Vortäuschung des orgastischen Höhepunkts stumm bleibt oder zumindest wortlos? (26)

(Mehr als eine Vorlesung wäre darüber zu halten, was die Geschichte der Lüge mit der Geschichte der sexuellen Differenz, der Geschichte ihrer Erotik und Interpretationen verbindet, ohne je auszuschließen, ganz im Gegenteil, dass das Paradigma der Lüge in einem wesentlichen Zusammenhang mit der sexuellen Lusterfahrung steht.) (40)

Lügelogos

Derart nämlich immerhin gibt die gespenstige Problematik der Simulation und des Simulakrums (somit auch des Fabulösen und Phantasmatischen) – gerade wenn sie im erotischen Begehren und einer Lügelust oder -liebe, die Liebeslügen schafft, verankert scheint, d.h. qua performativem Akt „ein Ereignis zu schaffen“, auf die Zukunft bezogen, etwas kommen zu lassen[1] – verräterisch zu bedenken, inwiefern die binäre Opposition Wahrheit/Lüge sich gleichsam transzendental ihrem verfemten Term im Ganzen überhaupt verdankt:
Besteht, da Lügen ein Sagen ist, die Wahrheit zu sagen (oder, wie Augustinus Formel fürs Bekenntnisgeschehen gegenüber einem Gott, der ohnehin alles weiß und somit auf die Informationsübermittlung nicht angewiesen ist, lautet, zu machen: veritatem facere) vielleicht, mit Nietzsche (der des öfteren meint, eine wahre Geschichte über die Lüge erzählen zu können, eine Nicht-Fabel über die Fabel: Götzendämmerung „Wie die „wahre Welt” endlich zur Fabel wurde.) in der moralischen „Verpflichtung, nach einer festen Konvention“ zu lügen?[2] Ist der logos (und damit Dasein womöglich schon in seiner Phänomenalität des Sich-Zeigens) mit Lüge vorgängig und unhintergehbar kontaminiert, ins Lügen verstrickt, so dass bereits im Logos die Lüge (aller Lügen) läge?

Das faktische Dasein des Sprechens als solchen, sofern es da ist und lediglich sofern es da ist als Sprechen, ist die eigentliche Quelle der Täuschung. Das besagt, das Dasein des Sprechens trägt in sich die Möglichkeit der Täuschung. In der Faktizität der Sprache liegt die Lüge.[3]

Wäre es mithin also unredlich, angesicht der vorrangig ethischen und politischen Gefahren, die von einem dekonstruktiven Ins-Wanken-bringen der sauberen Unterscheidbarkeit von Wahrheit und Lüge und damit einer gewissen Rehabilitationsmöglichkeit der Lüge (zumindest der Erschwerung ihrer einfachen Verurteilung) ausgehen (aber, Derrida weist darauf hin: haben nicht alle sich der haarsträubensten Lügen bedienenden Staatsmänner und Diktatoren in die Verdammung der Lügenhaftigkeit eingestimmt, das Loblied der Wahrhaftigkeit gesungen?[4]) von einem transzendentalen pseudos, einer irreduziblen Mendazität, einer Wahrheit überhaupt erst ermöglichenden Verlogenheit des Sagens im Modus des Trügens, Täuschens, Fälschens zu sprechen?

Pseudos kann auf Griechisch Lüge sowie Falschheit, List, Irrtum, Täuschung, Betrug, aber auch poetische Erfindung bedeuten, was die Missverständnisse darüber, was ein Missverständnis bedeuten kann, noch vergrößert. (14)

 

Bezeugtes Wahrheitsversprechen – „Nichts als die Wahrheit, so wahr mir Gott helfe…“

Was aber heißt „Lüge“, wie sie die Tradition verdammt und verbieten will, überhaupt, und was kennzeichnet ihre politische Rolle? Eine Frage, der Derrida vor allem in einer extensiven Inspektion zweier Texte von Hanna Arendt („Truth in Politics“, 1967, und „Lying in Politics: Reflections on the Pentagon Papers“, 1971) nachgeht, die er in einer langen „Pseudologie“ zum Thema, angefangen von Platons Hippias Minor, über Augustinus De mendacio und Contra mendacium bis hin Rousseaus Träumerein eines einsamen Spaziergängers verortet.

Die Lüge besteht in einer Äußerung performativer Art, sie impliziert ein Wahrheitsversprechen, selbst da, wo sie es bricht, und da sie ja auch darauf abzielt, ein Ereignis zu schaffen, einen Glaubenseffekt zu erzeugen, da, wo es nichts festzustellen gibt oder sich zumindest nichts in einer Feststellung erschöpft. Diese Performativität schließt jedoch auch den Bezug auf Realitäts-, Wahrheits- und Falschheitswerte ein, die ihrerseits nicht der performativen Entscheidung unterliegen sollen. (26)

Wir müssen uns daher vielmehr mit der Frage des Glaubens und der Aufrichtigkeit (bonne foi) beschäftigen (16)

Und der der Bezeugung, der historischen Zeugnisse („temoignages“), nicht der des Beweises.

Wahrheit jedenfalls (zumindest in ihrer philosophischen Dimension, wohl aber auch als biblische Offenbarung verstanden), so verhängt es fabulatorisch und als Verdikt eine mächtige und zähe Tradition, welcher Derrida noch Hanna Arendt zurechnet, sei unerschüttlich, fest, solide, beständig (bebaios) und setze sich am Ende als Parusie unerbittlich gegen alle Widrigkeiten, die ihr bloß akzidentell und temporär im Wege stehen und ihrem zur Geltung kommen opponieren, erfolgreich durch und in Szene. Nur dies vorausgesetzt nämlich kann sie die Sakralität und Heiligkeit (was auch bedeutet: Reinheit, Intaktheit, Unbeschädigheit, Ausgenommenheit von allem Trug und aller Korruption), die noch ein die unbedingte Wahrheitspflicht zwingend einfordernder Kant und ein im vierten Spaziergang die „heilige Wahrheit“ preisender Rousseau ihr in Augustinischem Fahrwasser (De mendacio und Contra mendacium ) attestierten, reklamieren, bewahren, sowie ihr Gegenteil bestimmen, reflektieren und inkriminieren. Die Lüge demgegenüber (genuin unbeweisbar)[6], deren Gegenteil wiederum nicht so sehr Wahrheit selbst, sondern Wahrhaftigkeit und Wahrheitstreue (veracitas, von Descartes als Stütze des Wahrheitsbegriffs betrachtet) einnimt, besteht demnach in einer vorsätzlichen, absichtsvollen, bewußten, willentlichen Täuschungs-Handlung (nicht Zustandes).
Was für die meisten der kanonischen Untersuchungen zählt, ist die ausdrückliche Intention, der Wille zu täuschen (fallendi cupiditas, voluntas fallendi), die böswillige Abkehr vom eidesstattlichen Vorsatz, nach bestem Wissen und Gewissen zu reden, so wahr einem Gott helfe.

„Jede Lüge ist ein Meineid“ (S.17)[5]

Möge dies zum Schaden des Anderen ausfallen oder nicht[7]; sie ist kein Irrtum, der Lügende täuscht sich nicht selbst mit dem, womit er den anderen täuscht, er glaubt nicht, was er den anderen glauben zu machen versucht.

„Denn im Prinzip und in ihrer klassischen Bestimmung
ist die Lüge nicht mit dem Irrtum gleichzusetzen.“ (13)

Wie jedoch kann der die Selbstlüge[8] ausschließende Glaube an die Selbstpräsenz und –transparanz des intentionalen Akts spätestens vor dessen abgründiger Komplizierung durch Psychoanalyse und Sprechakttheorie ungebrochen aufrecht erhalten werden, den solche Rede vom absichtsvollen Tun doch voraussetzt, wenn nicht im modus eines „quia absurdum“?

*

Derridas skrupulöse Untersuchung schreitet die Holzwege der kanonischen Pseudologien mit gewohnt aporie-affiner Methodik ab, bis hin zu dem Punkt, an dem sie jäh im Unbegangenen und womöglich Unbegehbaren münden (und darüber hinaus), ohne die verfolgten Schwierigkeiten einer Lösung und einem guten Ende zuzuführen. Gibt es eine ungelogene Geschichte der Lüge, kann es sie geben? Ja und nein. Hierin, in der rückhaltlosen und umsichtigen Herausarbeitung der Aporizität ihrer Fragestellung ohne bequeme, dem Bedürfnis zu wissen, woran man ist, zu pass kommende Rezeptur, liegt wieder einmal der ungemeine Vorzug gegenüber, sowohl aller bloßen Zertrümmerung der überlieferten Schemata, als auch deren höriger Re-Approbation.

Tillmann Reik

 

[1] „Die Lüge ist die Zukunft, könnte man zwar über den Buchstaben von Arendts Text hinaus, jedoch ohne in diesem Zusammenhang gegen ihre Intention zu verstoßen, sagen. Die Wahrheit sagen, bedeutet hingegen zu sagen, was ist oder gewesen sein wird. Dies wäre eher eine Bevorzugung der Vergangenheit. Arendt spricht zwar von einer unleugbaren „Affinität zwischen Lügen und Handeln im weitesten Sinne, nämlich unserer Fähigkeit, die Welt zu ändern, und unserer Begabung für Politik überhaupt“, betont jedoch auch die diesbezüglich gesetzten Grenzen.“ (79)

[2] „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ (http://www.zeno.org/Philosophie/M/Nietzsche,+Friedrich/%C3%9Cber+Wahrheit+und+L%C3%BCge+im+au%C3%9Fermoralischen+Sinn )

[3] (Heideger GA17, Einführung in die phänomenologische Methode, S.35)

[4] „[weiter unten erinnert Koyré daran, dass in Mein Kampf eine Theorie der Lüge enthalten ist und die Leser dieses Werks nicht verstanden haben, dass darin sie gemeint waren; es stimmt, dass Mein Kampf heute mehr denn je einer Untersuchung unterzogen werden müsste, nicht nur in Bezug auf die Praxis der Lüge, sondern auch auf die ausdrückliche Theoretisierung der Lüge, insbesondere der von Hitler so genannten „kolossalen Lüge]“ (68)

[5] In einem umfangreicheren Passus konkretisiert Derrida diesen Befund wie folgt: „Es gibt nicht die Lüge, es gibt dieses Sagen oder Sagen-Wollen, das man das Lügen nennt. Man sollte sich nicht fragen, „Was ist eine Lüge?“, sondern vielmehr „Was macht und, davor noch, was will ein Lügen?“. Beim Lügen würde man sich an einen anderen wenden (denn man belügt nur andere, sich selbst kann man nicht belügen, außer sich selbst als anderen), um eine oder mehr als eine Äußerung oder eine Reihe von (konstativen oder performativen) Äußerungen an ihn zu richten, von denen der Lügner bewusst (en conscience), mit explizitem, thematischem, aktuellem Bewusstsein (en conscience explicite, thématique, actuelle) weiß, dass er teilweise oder gänzlich unwahre Behauptungen aufstellt. Dieses Wissen, diese Wissenschaft (science) und dieses Bewusstsein (conscience) sind für den Akt des Lügens unerlässlich, und die Selbstpräsenz dieses Wissens muss nicht nur den Inhalt des Gesagtem, sondern auch den Inhalt dessen betreffen, was dem anderen geschuldet ist, sodass das Lügen dem Lügner voll und ganz als ein Verrat, ein Unrecht, die Nichterfüllung einer Schuld oder Pflichtverletzung erscheint. Der Lügner muss wissen, was er tut und zu tun beabsichtigt, wenn er lügt. Man muss ab sofort auf diese Pluralität und Komplexität, sogar Heterogenität, bestehen. Die vorsätzlichen Handlungen richten sich an den anderen, an einen anderen oder andere, um sie, vor jeder anderen Konsequenz, durch die einfache Tatsache, sie an das glauben zu machen, von dem der Lügner weiß, dass es unwahr ist, zu täuschen, zu schädigen, zu hintergehen. Diese Dimension des Glauben-Machens, des Fürwahrhaltens, des Kredits, des Glaubens ist hier irreduzibel, obgleich sie unklar bleibt. Die Unaufrichtigkeit (mauvaise foi) des Lügners, sein Verrat in Bezug auf einen zumindest implizit geschworenen Glauben besteht darin, den guten Glauben seines Adressaten zu überrumpeln, indem er ihn an das Gesagte glauben macht, und zwar in dem Fall, dass dieses Glauben-Machen dem anderen schadet, ihn verletzt oder auf dessen Kosten geht, und in dem Fall, dass vom Lügner seinerseits zumindest implizit aufgrund einer Verpflichtung, eines Schwurs oder eines Versprechens verlangt ist, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit sagen zu müssen. (23)

[6] dass es aus strukturellen Gründen nie möglich ist, –im strengen Sinne – zu beweisen, das jemand gelogen hat, selbst wenn man beweisen kann, dass er nicht die Wahrheit gesagt hat. Man könnte nie jemandem das Gegenteil beweisen, der behauptet: „Was ich gesagt habe, ist nicht wahr, ich habe mich zwar getäuscht, wollte aber nicht betrügen, war aufrichtig“; oder auf die immer mögliche Differenz zwischen Gesagtem (dit), Sagen (dire) und Sagen-Wollen (vouloir-dire) verweisend: „Ich habe das gesagt, aber das ist nicht das, was ich, in gutem Glauben, in meinem tiefsten Inneren sagen wollte, das war nicht meine Absicht, es gab ein Missverständnis.“ Es ist nichts beweisbar, was eine solche Behauptung entkräften würde, und daraus sind die Konsequenzen zu ziehen, die furchterregend und unbegrenzt sind. (21)

[7] Metaphysik (D 29, 1024 b–1025 a): Aristoteles kritisiert Platon (Hippias minor (e peri tou pseudous, anatreptikos)): Ein Lügner ist nicht nur der, welcher zu lügen vermag, sondern der es freiwillig und absichtig  tut. (ho eukheres kai proairetikos). Vorsätzlich. Also ist er schlechter als der unfreiwillige Lügner.(15)

[8] „Gibt es die Selbstlüge? Und ist es möglich, sich selbst zu belügen, das heißt sich mit Absicht etwas anderes zu sagen, als man weiß, dass man in Wahrheit denkt – was absurd und nicht umsetzbar erscheint –, und es zu tun, um sich selbst zu schaden, sich zu verletzen, indem man auf diese Weise auf seine eigenen Kosten handelt, was eine Pflicht gegenüber sich selbst wie zu einem anderen voraussetzt?“ (19)