Simone Weil: Anmerkung zur generellen Abschaffung der politischen Parteien

Der Mechanismus der Aufmerksamkeit

L’attention, à son plus haut degré,
est la même chose que la prière. Elle
suppose la foi et l’amour. Il s’y trouve
lié une autre liberté que celle du choix.
A savoir la grâce.
(Simone Weil)

„Die Verstorbene hat sich selbst getötet und zerstört, indem sie sich in einer Phase von Geistesgestörtheit weigerte zu essen“, vermerkt die auf den 24. August 1934 datierte, eine letzte, in ihrer Konsequenz suizidale Weigerung beinahe schon wie einen verurteilenswerten Straftatbestand anklagende Sterbeurkunde. Das Dokument spricht von jener Unzugehörigen von schwer zu greifender Irregularität (Blanchot), zum Todeszeitpunkt im Sanatorium Kent 34 jährigen jüdischen Denkerin Simone Weil, die sich, trotz zeitweiliger Sympathien für Anarchismus, Syndikalismus, Kommunismus, ein Leben lang geweigert hatte, einer Partei beizutreten. Sowie sich irgendeiner sonstigen Institution oder Organisation, am Ende auch der katholischen Kirche durch den Akt der Taufe, einzufügen.

Das kat holon der Una Sancta Catholica et Apostolica Ecclesia fungierte dabei für sie gleichsam als Archetyp aller sich totalisierenden, ihre Mitglieder auf unverbrüchliche Gefolgschaft einschwörenden und die Abweichung rigoros mit dem Anathema sanktionierenden parteiischen Kollektivbildung:

Es ist eine tragische Wahrheit, dass die von Christus gegründete Kirche den Geist der Wahrheit weitreichend erstickt hat […]

Auch deshalb muss die Kirche als Inbegriff einer Ur-Partei betrachtet werden, weil ihr herrschaftliches Streben, vom Teil ausgehend, der sie ist, das Totum im Modus der Selbstexpansion zu umfassen, die Exklusion, die Opferung des Anderen impliziert.

Somit ist der Totalitarismus die Erbsünde der Parteien auf dem europäischen Kontinent.

Wenn die in einem kurzen Memorandum vorliegende und aus der letzten Londoner Zeit stammende Parteinahme von 1943 (aber erst 1950 postum erschienene) Note sur la suppression generale des partis politiques nicht nur für Unparteiischkeit, sondern Parteilosigkeit der politischen Praxis kompromißlos und mit schlafwandlerisch unverunsicherbarer Apodiktizität – einer certitude1, die den waghalsigen Charakter eines sich aus einem Begehren speisenden Wetteinsatzes trägt – die radikale Abschaffung des von der demokratietheoretischen Tradition als konsensfördernde regulierte Rivalität begriffenen Parteinwesens fordert und als ein “beinah reines Gut” bewertet, dann (dies spätestens darf als “Interpretation” gelten) aus dem Impuls heraus, einer Verpflichtung zu dem, was sie als Wahrheit des Denkens versteht keinerlei kollektive Bindung aufzuerlegen, die von der Verantwortung fürs Gedachte auch nur im Mindesten dispensieren könnte. “Wahrheit”, von Weils platonischem, aber im Kern mystischen Denken mit Gerechtigkeit enggeführt und samt dem Gemeinwohl (dessen Status im Rousseauschen Gesellschaftsvetrag die Autorin eine kurze Analyse widmet) an zweiter Stelle als einziges Kriteriums des Guten zugelassen – von ihr gibt es nur eine, während der Ungerechtigkeiten viele sind – kann dabei nicht in einer vorgefertigten Doktrin bestehen.

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Sondern läge eher in einem Begehren ihrerselbst, bestünde aus nichts als dem Verlangen, sich im erfahrenden Vollzug als Bezeugungsakt des Denkens teilhaftig zu werden. Die beinahe2 zirkelförmige Bewegung, die sich in der petitio principi-nahen Bestimmung, Wahrheit als Emergenz oder Emanation des Begehrens nach Wahrheit, niederschlägt, lässt sich auch dahingehend auslegen, das erstrebte Desiderat könne eben niemals etwas bereits Vorliegendes, an das man sich gebunden fühlt, abgeben, sondern sei, ähnlich wie das Augustinische veritatem facere der confessio, performativ erst, im Zeugnis, kommen zu heißen. Es emaniert abrupt und ereignishaft als letztlich unverdienter Gnadenakt (auf den man zwar nicht rechnen, aber hoffen darf) im Zuge des sich der versunkenen Aufmerksamkeit wie einem Exerzitium geduldig hingebenden und damit eine Stätte des Empfangs bereitenden Denkens:

Als Pontius Pilatus Christus fragte: “Was ist die Wahrheit?”, hat Christus nicht geantwortet. Er hatte schon vorher geantwortet, als er sagte: “Ich bin gekommen, um für die Wahrheit zu zeugen.“

Es gibt nur eine Antwort. Die Wahrheit, das sind die Gedanken, die im Geist eines denkenden Geschöpfes aufkommen, das einzig, total, ausschließlich die Wahrheit begehrt.

Dieses totale, sich auschließlich der Wahrheit überantwortende désir de vérité (das wohl mit dem Begehren nach Gott zusammen zu denken ist) und das auf es antwortende “innere Licht der Evidenz” nicht zu verraten3, an die Wirksamkeit des Begehrens und Verlangens zu glauben, rückt Weils implizites Gebot einerseits in die Nähe von Kants Kategorischem Imperativ (dessen Verschränkheit mit dem sapere aude des ohne Leitung eines Anderen zu gebrauchenden Verstandes deutlich wird: Denken als Handeln aufs Allgemeine oder Universelle bezogen- in Absenz eines Begriffs, der nicht schon in die Dialektik von Ganzem und Teil verstrickt wäre – bedarf der Besonderung der idiosynkratischen Zufälligkeit im Modus der Stellvertretung. Denn jene eben ist es, die allen, aneinander teilhabend ohne Zugehörigkeit, gemein ist.) und erinnert zum anderen an Lacans Mahnung “ne pas cider sur son desir”. Denn mit dem Begehren, das vielleicht immer auch begehrt, sich selbst als Aneignungsbewegung durchzustreichen, würde auch der Bezug zum Anderen aufgegeben.

Im Verlangen nach der Wahrheit, in ihrer Leere, und ohne den Versuch, ihren Inhalt im Voraus zu erahnen, empfängt man das Licht. Eben das ist der Mechanismus der Aufmerksamkeit.

Als derart in der auslangenden Bewegung eines sich der Leere und Schutzlosigkeit preisgebenden – und damit Halt und Rückendeckung gewährende Konformität aufgebenden – désir verortete “Aufmerksamkeitsbemühung” (effort d´attention), einer Anstrengung zur Achtsamkeit, die den geheimen, spirituellen wie intellektuellen Kristallisationskern der Abhandlung ausmacht (esoterisch insofern, als nur zu erkennen, wenn man ihn auf den aus anderen Schriften bekannten attention/attente-Begriff bezieht), eignet dem Engagement jedes authentischen singulären Denkeinsatzes der impersonelle Zug des Universalen. Demgegenüber jede sich über die Zugehörigkeit zu einer Partei ermächtigende und beglaubigende Meinungsbekundung unweigerlich dem Partikularismus einer, ihre eigene bornierten Beschränktheit totalisierenwollenden Leidenschaft (passion) verhaftet bleibt, welche als kollektive überhaupt mithilfe von Propaganda zu erzeugen eine der von Weil bezeichneten drei Hauptaufgaben und vornehmlichen Anliegen einer jeden Partei darstellt.

Maurice Blanchot schrieb (in der englischen Übersetzung von L´entretien infini):

Yet how can one not be struck, in reading certain of her writings (at least those having a certain volume), by the tone that is hers and by the manner in which she makes her assertions: with a certitude so remote from herself, so distant from all proof and all guarantee, yet so restrained and nearly effaced that one indeed feels one cannot refuse her a hearing, without hoping in return ever to be heard by her. Not that she would be unable to listen or attend to the words of others; but it is certain she will always respond in this blank and monotone voice, and with the authority that, while imposing itself without the least violence, will nonetheless never yield inasmuch as impersonal truth is incapable of making concessions.

Gerade für eine Beschäftigung mit den stets wie neuerlich brisanten Fragen “Wie ist es um die Möglichkeit eines jeden Einzelnen bestellt, sein Urteil über Probleme des öffentlichen Lebens kundzutun? Wie lässt sich verhindern, dass in dem Moment, da das Volk befragt wird, dies im Klima kollektiver Leidenschaft geschieht?” (so die Werbung des Verlags) müsste sich eine Auseinandersetzung mit Weils intransigentem, zu weitgehend jeder kurrenten Doxa inkongruenten Ansatz als unumgänglich erweisen.

Tillmann Reik

Verlagsinformationen zum Buch

1 Blanchot beschreibt Weils Denken in L´entretien infini als eines, was sich, statt von Frage zu Frage fortzuschreiten, um die am Ende einer Frage-Kette stehende Frage als Antwort zu lesen, von Affirmation zu Affirmation, von Antwort zu Antwort entwickelt. Die daraus erwachsende “certitude” bezeichnet er als aus dem rigorosen Gespür einer Exigenz erwachsene Wette.

2 Dass es sich um einen Kreis handelt, der sich nicht (zumindest nie vollständig, sondern stets nur annährend) schließt, weil in der Drehbewegung etwas Hinzukommendes – vielleicht entspricht dem der klassische Begriff der Gnade – alterierend aus der Bahn wirft und deshalb im strengen Sinne, da elliptisch, keiner ist, vermag vielleicht den Ausdruck der Beinahe-Zirkularität zu rechtfertigen.

3 Es gehört zu den dialektischen Intrikationen, die Weils Denken nicht immer auszutragen (ver)mag, dass eben jener Vorwurf, der dem der Exkommunikation überantwortete (und damit aus dem Schutz der Kirche ent- und sich selbst überlassene) Häretiker zu gewärtigen hat (“Wer den einen wahren Gott, den Schöpfer und Herrn der sichtbaren und unsichtbaren Dinge leugnet, der sei ausgeschlossen”) gefährlich nahe an dem ist, den Weil dem Partei-Konfirmisten zu machen hat: dass er den unsagbaren, undenkbaren Gott (und damit das Gute) selbst leugne.

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