Lesen. Ein Handapparat. Herausgegeben von Hans-Christian von Herrmann und Jeannie Moser

lesen_ein_handapparat[1]Lesen lesen –  Ein Handapparat?

Ein Buch ist ein Ding, und jedes seiner Blätter ist auch ein Ding
und ebenso jedes Stückchen seiner Blätter und so fort ins Unendliche.
Hegel, Wissenschaft der Logik

Runenraunenraten

Klingt im Englischen to read, heidnisch-germanisch alliteriert, das magische Raten der raunenden Runen[1] an, so schwingt eine der basalen Dechiffrierungsbewegung eigene Esoterik mit. Evoziert wird ein dem auslegenden Entziffern eigenes kundiges Künden von Künftigem, zukunftweisendes Deuten rätselhafer geritzter Zauberzeichen, aufgrund welcher jedes sich Einlassen auf, sich Bekümmern um, sich Wenden an, in den rahmenden, musternden und bildgebenden Blick Nehmen von Schrift – offenes, differentielles Verweisungsnetz zeigender Zeichen und Markierungen, von Stäben und Staben eines Sprachgitters, auf dessen vorausgehenden Anspruch und Anlick damit, uneinholbar verspätet, hörend und schauend, geantwortet wird – seinen klandestinen Bezug zum Geheimnis und der okkulten oder proto-religiösen Sphäre der Wahrsagerei, Mantik, Divination durchscheinen lässt („Wahrsager aus Chiffren; Letternaugur“ nennt Novalis demgemäß den Philologen, Leser aller Leser).

Demgegenüber erweist sich das deutsche Pendant profaner. „Lesen“ nämlich, das prosaische, zum Substantiv geronnene Verb und nomen actionis, das dem Band „Lesen. Ein Handapparat“ den Titel verleiht, dem lateinischen legere nah, gibt im Vergleich unverblümter zu erkennen – insofern man es semantisch als (ab-)lösendes Nehmen, pickende, pflückende, rupfende, klaubende Erntetätigkeit (legere als ein tollere[2] und capere, das aufs Kapieren und Kapitalisieren aus ist) dem ausstreuenden Säen entgegensetzt –, dass, auch, neben der scheinbar respektvollen Distanz, die im Deuten von der Faszination ausgesetzten  Lettern liegt, die Bewegung eines (be)greifenden, lagernden Zusammentragens in Rede steht. Eine Regung und Gebärde zeichnet sich ab, die in Hinblick auf einen zu verwahrenden Ertrag sich beutemachend, nachstellend, überlistend auf Jagd und Verfolgung begibt. Ebenso vielleicht bereits ein auf Passung bedachtes, einfangendes Fügen, Binden und Bündeln verstreuter Spuren und Sporen darstellt (lego kann auch, diesmal über legare, das Zusammenwickeln und Aufwinden bedeuten), welches sich, immer zu vorschnell, als Verstehen, d.h. Können und Gekonnthaben, versteht. Durch die Ligatur des im Lesen gelegenen legere und legare entpuppt sich die im Runenraten konnotierte skrupulöse Verhaltenheit und Achtsamkeit als eine handgreiflich zupackende Appropriation.
Jagen und Sammeln, ein von einem aufblitzenden „Da ist etwas!“ initiiertes Verfolgen mit Aneignungsabsicht, bilden den Ausgangspunkt des an Carlo Ginzburgs Indizienparadigma orientierten Ansatzes von Werner Kogge, der aufzeigt, wie sich Lesen mit der Intention des Stellens und Überführens persekutiv in sein Gelesenes, und damit ins Gewirk des Wirklichen, verwickelt:

Kriminalistische Fahndung, Orientierung in der Wildnis, Fährtensuche auf der Jagd, journalistische Recherche, archäologische Erkundung, philologische Nachforschung, experimentelle Laborarbeit – sie alle verbindet die Suche nach Spuren.

Werden Spuren gelesen, dann rücken die von legere stets mittransportierten Bedeutungsaspekte des Sammelns und Herauslesens in den Vordergrund – zugespitzt darauf, dass hier nicht einfach Bekanntes aufgehoben und sortiert wird, sondern das prekäre Moment des Auffindens, des Aufspürens in den Mittelpunkt tritt. (Werner Kogge, Sich-Einlesen in die Wirklichkeit, S.143)

Entspricht diese Praxis, das Lesen (Lirecette pratique, schreibt Mallarmé), aber überhaupt einer Handlung im klassischen Verständnis und verbleibt somit virtuell innerhalb der Tradition eines antrophozentrischen „humainisme“ (Derrida) dem Regiment von „la main“, der Hand als Hauptsache (noch des Blicks der Augen) unterstellt, sofern es als Agieren wiederum traditionell hauptsächlich im Fassen und Greifen besteht und erst sekundär im Tasten, Streicheln und schenkenden Darreichen und Austeilen? Was heißen will: Nimmt es bloß oder gibt es nicht auch, lässt es, ausstreuend, los – nicht zuletzt: sich?

Sammlung

Den verschiedenen, versprengten Lesarten von „Lesen“, die die 14 Aufsätze des Bandes repräsentieren gemein bleibt jedenfalls zunächst tatsächlich der Hang zum Sammeln, Akkumulieren, Aneignen: „Sammeln“ [2a] ist der Sinn, der sie in ihrer Divergenz auf eine exzentrische semantische Mitte konzentriert und Lektüre als selektive Kol-Lektion zu einer gleichsam apotropäischen, der Zerstreuung (zuvorderst der Aufmerksamkeit) Paroli bietenden Gegen-Bewegung vereindeutigt. Heideggers Lesen des Lesens als einer nicht bloß phänomenologischen Basaloperation, sondern generativen Ur-Differenz, die Sprache und Sprechen (lógos) zunächst als ein Lesen und Legen, gesammelt Vorliegenlassen bestimmt (Werner Hamacher zitiert sie in seinem Aufsatz, S.92), arbeitet diesen konzentrativen Aspekt in aller Schärfe heraus:

Was heißt Lesen? Das Tragende und Leitende im Lesen ist die Sammlung. Worauf sammelt sie? Auf das Geschriebene, auf das in der Schrift Gesagte. Das eigentliche Lesen ist die Sammlung auf das, was ohne unser Wissen einst schon unser Wesen in den Anspruch genommen hat, mögen wir dabei ihm ent-sprechen oder versagen.

Ohne das eigentliche Lesen vermögen wir auch nicht das uns Anblickende zu sehen und das Erscheinende und Scheinende zu schauen.[3]

Lesen böte, so verstanden, allerdings bereits unversehens, unter der Hand Heideggers und gleichsam proto-technizistisch, eine instrumentelle Einrichtung, um der irreduzibel richtungslosen Uneindeutbarkeit aller Verweisung, der nomadisierenden Schickungsirre, zumindest temporär, Sinn (d.h. hier: Richtung), der Drift Trifftigkeit aufzuprägen, nimmt je schon den Charakter eines medialen Dispositivs der verfügbarmachenden Bemächtigung an, wird (oder ist immer schon) Instrument und Apparat. Raten (Vor-rat schaffendes Zurecht- und Zurücklegen), als operativer Vollzug wird, was es je (auch) ist: Ge-rät, Prothese des Setzen, Stellen, Legens.

Handlesen- Rategerät

Demgemäß erweist sich Lesen selbst, vielleicht, als ein „Handapparat“. Denn so lässt sich der Titel des Buches „Lesen. Ein Handapparat“, polyvalent wie jedes Syntagma, ebenfalls entziffern. Seltsam pleonastischer Terminus seinerseits, insofern Hand, privilegiertes Zeige- und Greiforgan und – werkzeug, ihrerseit schon als Apparat verstanden werden kann und jeder Apparat als supplementäre prothetische Extension den Anspruch erhebt, des Menschen erweiterte Hand sein zu wollen.

Denken ist Handwerk, Lesen ist (ein) Handapparat (von lat. apparāre, das Erforderliche herbeischaffen), mithin nicht nur techné, basale Kulturtechnik, sondern Zeug, bereitstehendes und -stellendes Dispositiv einer (Tele-)Technologie, insfern diese immer mit dem Ent-Fernen zu tun und, nie ohne eine gewisse Gewalt und Bemächtigungsabsicht, auf Zwecke bezogen ist. Technisches Werkzeug, Organon eben, vielleicht auch Maschine und applizierbarer Automatismus, am Ende sogar (gemäß der Definition eines Lexikons: „Handapparat“ bezeichne auch einen solchen): Hörer. Das Lesen ist ein Hörer, insofern es sich, Heidegger weist darauf hin, in den Anspruch des Gelesenen einhört. Oder auch insofern es, Jesper Svenbro etwa deutet es an, ein verlautendes Vor-lesen ist, was zu Gehör bringt.

Interessant werden solche zunächst krude anmutenden Gedankenspielerein (eben: Les-Arten), erwachsen allein aus der Polysemie einer Wortverbindung, die zeigen, wie Lesen als Praxis der Veruneindeutigung (noch seinerselbst) ebenso und nachhaltiger interveniert wie als Identifikationswerkzeug, angesicht der im Band enthaltenen Ausführungen zur Digitalisierung (noch hier: die Finger der Hand) des Lesens (Günther Stocker: „Aufgewacht aus tiefem Lesen“. Überlegungen zur Medialität des Bücherlesens im digitalen Zeitalter.), wenn sich nämlich die Frage, nicht nur nach der Technizität der Trägermedien des Gelesenen (Schrift) stellt, sondern Lesen selbst als eine Fertigkeit (oder Sammlung vieler solcher) den Status eines Apparats erhält, der dem identifizierenden Greifen, Begreifen, Auflesen, oder Aufsaugen des Niedergelegten dient und somit aus dem Regime der Machenschaften des „Gestells“ und seiner Errungenschaften, selbst wo sie als entdeckendes Bergen begriffen werden, zunächst nicht ausschert.

„Lesen können heißt, ein Wortbild aufsaugen, blitzschnell nicht-bewußt abgleichen, verstanden haben.“, so Ulrike
Draesmer. S.204

„Würden wir rein buchstabierend lesen, so wäre die Frage nach der Lesbarkeit von Texten hiermit beantwortet. Tatsächlich ist der Lesevorgang  jedoch komplexer: Das lesende Auge erfasst  (wenn es aus dem Buchstabiermodus in den schnelleren Lesemodus wechselt) ganze Wortbilder bzw. Buchstabengruppen, die es mit seiner visuellen Referenzbibliothek abgleicht.“

„Schnelles Lesen könnte man – im Gegensatz zum buchstabierenden Lesen – stark vereinfachend als Wortbilderkennungsprozess beschreiben.“ , so Ralf de Jong, S.11 und 12.

Dass das Lesen darüberhinaus derart liest, dass es, datenverarbeitend, schreibt, nämlich zu-schreibt, nicht nur auf den Leser und Autor hin, sondern so ihnen zu, dass es per analogischer Appräsentation (oder mit Hilfe der umstrittenen Spiegelneuronen) Attributionen vornimmt, um das Gelesene unablässig hineinlegend und interpolierend zu ergänzen und sich so seinen Reim darauf zu machen („Peter zitterte“ Warum? Kälte, Erregung, usw.?), gibt etwa der der Cognitive Poetics gewidmete Text von Yvonne Wübben zu bedenken. Doch schreibt es auch um.

Das Lesen schreibt die Leser; aber es schreibt sie um. (Hamacher, S.74)

Lesen, darin As- und Dissoziation, Analyse und Synthese, Läsion und Liaison zugleich (und somit double bind wie double unbind), lässt, Lesen löst, sich, irreduzibel von sich.

„Literarisches Lesen lebt, wie sich hier exemplarisch zeigt, von einer doppelten Bewegung: einbinden – lösen.“ (Ulrike Draesner, Literarisches Lesen, S.206)

Ob diese doppelte Bewegung aber tatsächlich so reziprok und ausgeglichen ist oder nicht doch von einer gleichsam vorgängigen Losigkeit überhaupt erst ermöglicht wird, bleibt (als Verdacht) offen. Das betrifft noch das Band, was den Leser an den Text bindet und letztlich doch der unverantwortlichen Zerstreuung seiner Unaufmerksamkeit überlässt; selbst dort noch, und vielleicht mehr denn je, wird gelesen, wo das Lesen ohne Sinn und Verstand überliest.

„Es ist keine dialogische, sondern disruptive, keine symbiotische, sondern letale Verbindung, die der Text mit dem Leser, der Leser mit dem Text unterhält, ein <double bind> , der beide miteinander verknüpft, um sie voneinander zu trennen, und eine Verbindung allein zur Lösung aller Verbindungen herbeiführt: ein <double unbind>. (Werner Hamacher, Diese Praxis – Lesen -, S.78)

Lesen. (K)ein Handapparat

Die Dispersion hingegen, die vom Sammelband nicht gebunden werden kann, ein uneinholbares Unzusammen (Hamacher, S.96), ist jene Lyse, durch welche Lesen vor jedem programm- oder skriptähnlichen Bewältigungs- und Aneignungsvorgang und jenseits davon, sich verlesend, lässt und löst; zuvorderst noch sich selbst, als unabschließbare Praxis, nicht einsammeln kann. Es driftet, wie sein anderes Selbes, das Schreiben, rückkehrlos auseinander, enteignet sich, aller Zwecke entbunden, endlos. Wollte man, ausgehend vom Titel, das Lesende des Lesens lesen, so müsste man das entscheidende nicht in der handgreiflichen Prädikation suchen, sondern vielmehr im trennenden Punkt, der Titel und Untertitel miteinander verbindet:

>Lesen – <, das ist immer das Lesen eines Gedankenstrichs, eines Verzögerungszeichens und eines Verzugs aller Zeichen, einer Pausenmarkierung und einer Pause in allen und zwischen allen Markierungen, mithin immer auch ein Lesen dessen, was den Begriff vom Lesen als einem Begreifen, einer kognitiven Assimilation und praktischen Aneignung unerfüllt lässt. (Hamacher, S.89)

Tillmann Reik

 

[1] Dies freilich eine fragwürdige, in anthroposophischen Kreisen kursierende, neoheidnische Legende. „Sprachlich wurde das dänische Wort rune aus dem Altdänischen wiederbelebt, während seine Bedeutung aus altnordischem rún, Plur. rúnir, rúnar ‚Zauber-, Schriftzeichen‘ übernommen wurde. Es entspricht altenglisch rūn ‚Geheimnis, geheime Beratung, Runenzeichen‘, gotisch rūna ‚Geheimnis, Ratschluss‘ und althochdeutsch rūna‚ geheime Beratung, Geheimnis, Geflüster‘, das letztgenannte ins 19. Jh.s schweizerischen Raun ‚geheime Abstimmung, Stimmabgabe ins Ohr einer beeidigten Magistratsperson‘ fortgesetzt wurde.[5] Sie alle beruhen auf urgermanisch *rūnō mit Grundbedeutung ‚Geheimnis“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Runen#Bezeichnungsherkunft).

Das Raten wiederum allerdings deutet bereits (Vorrat, Hausrat usw. zeigen es an) auf eine hortende Sammlung, ein Zurecht- und Zurücklegen aus Gründen der Vorsorge hin, gerät zum Gerät:

[…]raten bedeutet ursprünglich ‘überlegen, (aus)sinnen’, dann ‘Vorsorge treffen, für etw. sorgen’, weiter ‘vorschlagen, empfehlen’, schließlich ‘deuten, erraten’ (vgl. aengl. rǣdan ‘raten, lesen’, eigentl. ‘Runen deuten’) (dwds.de; Suchwort: raten)

[2] Die dem Augustinus mit Kinderstimme zugeflüsterten Formel „Tolle, lege!“ erweist sich in dieser Lesart als eine Folge von Synonymen: Lesen ist ein zu sich Emporheben. Hegels Versuch, den Aufhebungsbegriff in seiner semantischen Dispersion zu kontrollieren und die vielsagende Mehrdeutigkeit nicht in Sprachspiel, Witz und bonmot abgleiten zu lassen, nennt tollere als mögliche Übersetzung, weist den Begriff aber zurück:

Aufheben und das Aufgehobene (das Ideelle) ist einer der wichtigsten Begriffe der Philosophie, eine Grundbestimmung, die schlechthin allenthalben wiederkehrt, deren Sinn bestimmt aufzufassen und besonders vom Nichts zu unterscheiden ist. – Was sich aufhebt, wird dadurch nicht zu Nichts. Nichts ist das Unmittelbare; ein Aufgehobenes dagegen ist ein Vermitteltes, es ist das Nichtseiende, aber als [113] Resultat, das von einem Sein ausgegangen ist; es hat daher die Bestimmtheit, aus der es herkommt, noch an sich.

Aufheben hat in der Sprache den gedoppelten Sinn, daß es soviel als aufbewahren, erhalten bedeutet und zugleich soviel als aufhören lassen, ein Ende machen. Das Aufbewahren selbst schließt schon das Negative in sich, daß etwas seiner Unmittelbarkeit und damit einem den äußerlichen Einwirkungen offenen Dasein entnommen wird, um es zu erhalten. – So ist das Aufgehobene ein zugleich Aufbewahrtes, das nur seine Unmittelbarkeit verloren hat, aber darum nicht vernichtet ist. – Die angegebenen zwei Bestimmungen des Aufhebens können lexikalisch als zwei Bedeutungen dieses Wortes aufgeführt werden. Auffallend müßte es aber dabei sein, daß eine Sprache dazu gekommen ist, ein und dasselbe Wort für zwei entgegengesetzte Bestimmungen zu gebrauchen. Für das spekulative Denken ist es erfreulich, in der Sprache Wörter zu finden, welche eine spekulative Bedeutung an ihnen selbst haben; die deutsche Sprache hat mehrere dergleichen. Der Doppelsinn des lateinischen tollere (der durch den Ciceronianischen Witz »tollendum esse Octavium« berühmt geworden) geht nicht so weit, die affirmative Bestimmung geht nur bis zum Emporheben.“ (Vgl, G.W.F. Hegel: Wissenschaft der Logik, Erster Teil, Erstes Buch, Erster Abschnitt, Erstes Kapitel, C. Werden, c. Aufheben des Werdens, Anmerkung.).

[2a] Das mit gr. homo und hama verwandte proto-germanische sama verweist auf eine Kohärenz des Disparaten in Einunddemselben; lässt andererseits aber auch das aufbrechende, keimende Samenkorn anklingen, die Saat und das Säen, wodurch eine Streuung Einzug erhält, die jede Beinhaltung, durch ein als Eines gefasstes Selbes, sprengt.

[3] Martin Heidegger: „Was heißt Lesen?“, in: Aus der Erfahrung des Denkens (GA13), Frankfurt/Main 1983, 111. Andernorts, GA 55 – Heraklit. 1. Der Anfang des abendländischen Denkens (1943), ausführlicher:  „Dieses wunderbare Wort >Ver-sammlung< kennen wir freilich nur noch in einer arg beschränkten und gewöhnlichen Bedeutung. Jetzt dagegen denken wir es in dem geklärten Sinne der Lese, wobei wir vor allem darauf achten, daß jetzt die Sammlung nicht das bloß dazukommende Zusammenbringen ist, sondern die ursprüngliche Gesammeltheit des Aufzubewahrenden meint, aus der alles Sammeln entspringt und in der es gehalten bleibt, d. h. ver-sammelt, d. h. aus ursprünglicher Sammlung gesammelt und in sie geborgen ist. Denken wir diese alles Sammeln und Lesen durchwaltende >Ver-sammlung<, dann geben wir diesem Wort eine einzige Würde und Bestimmtheit. Ver-sammlung ist das ursprüngliche Einbehalten in einer Gesammeltheit, welches Einbehalten erst alles Ausholen und Einholen bestimmt, aber auch alle Verstreuung und Zerstreuung erst zuläßt. Die so verstandene Versammlung ist das Wesen des Lesens und der Lese. Lese und Sammlung so gedacht sind ursprünglicher als das Verstreute und die Zerstreuung. So wie alle echte >Konzentration< nur möglich ist aus einem schon waltenden und konzentrierenden Zentrum, so ist alles gewöhnliche Sammeln getragen und gefügt von einer Versammlung, die das Gesamt des Ausholens, des Aufhebens, Einbringens und Einholens, des Aufnehmens durchwaltet und d. h. auch hier und eigentlich >sammelt<. Es ist für uns in der Tat nicht ganz leicht, sogleich >das Sammeln< in diesem ursprünglichen, ursprunggebenden und vollen Sinne zu denken, weil wir gewohnt sind, im Sammeln lediglich das in gewisser Weise stets nur nachträgliche Zusammenschieben und Zusammentreiben eines Zerstreuten zu sehen.“