Jean-Luc Nancy: Die Mit-Teilung der Stimmen

die-mit-teilung-der-stimmen-071884740Hermeneias Annoncen. Zu Alexandru Bulucz‘ Übersetzung von Jean-Luc Nancys früher Schrift Le partage des voix

…seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander.
(Hölderlin, Friedensfeier)

ἑρμηνεύειν ist jenes Darlegen, das Kunde bringt, insofern
es auf eine Botschaft zu hören vermag.
(Heidegger, Unterwegs zur Sprache)

Zirkelndes Vor-Verstehen

Man muss sich aufs Verstehen verstehen. Versteht sich – vielleicht – von selbst und von vornherein. Bedarf es dazu jedoch der Anwendung eines Wissens, der Aneignung eines Könnens, um zur Bemeisterung der Aufgabe gerüstet zu sein, wie die um Textinterpretation als Kunstlehre kreisende universelle Hermeneutik vor allem Hans Georg Gadamerscher Prägung – die sich in ihrer Herkunft hauptsächlich auf die hermeneutische Literatur von Schleiermacher bis Dilthey, besonders aber auf die Daseinshermeneutik Heideggers beruft – zu suggerieren scheint? Obgleich Wahrheit und Methode, das hermeneutische Hauptwerk Gadamers von 1960, immerhin die die Wahrheit bergende sachgerechte Auslegung gerade an ein allen „einseitigen Methodologismus“ seiner Vorgänger (die er dadurch hinter sich zu lassen versucht) übersteigendes Dialoggeschehen knüpft. „Die Rede eines Anderen verstehen“ lautet jene sagenumwobene von Schleiermacher her tradierte Maxime, deren Verstehensbegriff teleologisch angelegt bleibt und im geglückten, einvernehmlichen, den Dialog in Horizontverschmelzung aufhebenden Verständnisakt gipfeln soll. Eines anderen Menschen Rede, alter ego mithin, der empirisch aufzeigbar und sich selbst kein Anderer wäre? (Dass alles freilich nicht so einfach ist, haben etwa schon die Studien Manfred Franks anhand von Schleiermachers Werken zu erarbeiten versucht.) Jean-Luc Nancys Text Le partage des voix reichert diese gängige Interpretation der Interpretation, das Verstehen von „Dialog“ und „Kommunikation“, die in seinen Augen zumeist einem „trägen und schläfrigen Anthropologismus“ verhaftet bleiben, gehörig mit Komplexität an und wartet seinerseits mit einer Widerborstigkeit, der Kontrapunktik singulärer Stimmen auf, die eine glatte Absorption schlichtweg verunmöglicht und den ansonsten in Vormeinung und Verständnis als arche und telos domestizierten hermeneutischen Zirkel ins Strudeln, ihn zu einem arabesken Flechtwerk, einer poetisch-rhapsodischen Kette aus magnetisch einander anziehenden Ringen geraten lässt. (Metaphern, Zeichen und Symbole entstammen dem Fundus der Schrift.)

Rhapsodische Paränese: Kundgabe

Unverständlichkeit, nach vorherrschender Übereinkunft, Bedingung der Möglichkeit von Verstehen überhaupt, eignet dem so spröden und schmalen wie stilistisch uferlosen Text nämlich allemal. Was, rätselt man ratsuchend angesichts dieser schwierigen Schreibe, gibt sich da peri hermeneias, überaus kryptisch zweifelsohne, in Blättern, die sicher die Welt bedeuten, doch kein Buch zu bilden behaupten (wie der Vorsatz bekannt gibt), eher, als Teilungen, einem entrissen sind, eigentlich überhaupt und im Allgemeinen zu verstehen? Was gibt sich dort – thetisch – als klare und distinkte stimmliche Verlautbarung kund, zu hören und sehen, setzt sich in Szene, annonciert sich, d. h. verkündet sein Kommen (das christliche Kerygma wie die Annuntatio, die Verkündigung Mariae lassen grüßen)? Wäre es als ein und dasselbe Sujet vom sich selbst gleichen Verstehersubjekt identifizierbar? Oder handelt es sich eher um eine polyphone Botschaft, die sich überträgt, um ein Gespräch, indem man immer schon sich befindet, wir uns schon befinden, das vorausgeht und zu dessen proteusartig in wechselnde Rollen schlüpfenden Mimen man wird, man erst zu jemand wird?

„Die hermeneia ist immer auch szenisch.“ (S.60)

In jedem Fall wird – wenn das Verstehen, wie seit Schleiermacher angenommen zirkulär sich vollzieht, dann immerhin abgründig vitiös – selbst wo, unter vermeintlichem Auschluß allen guten Willens zum Verstandenwerdenwollen, Schweigen, Unverständlichkeit, Opazität, eben Hermetik, vorherrscht, stets schon etwas mit-geteilt, übermittelt, transferiert worden sein. Ein Übergang, eine Passage wird stattgefunden haben. Vom Anderen her (und seinem „ick bün all hier“) und dem Anderen des Anderen in stetiger, unaufhaltsamer Veranderung der miteinander geteilten Vielstimmigkeit. Was gibt sich also zu verstehen und preis, liefert sich aus, indem es sicht entzieht, vor und jenseits allem Sagenwollen einer dingfest zu machenden Autorintention? Zunächst und zumeist und zuvorderst, es wird hier, das sollte bereits klar geworden sein, einem antiken Rhapsoden gleich, enthusiastisch auslegend teils Heideggersche, teils Nancysche, teils auch Platonsche Diktion, ein WIE, gemimt, dissimuliert, um derart an ihren Einsätzen teilzuhaben

„Es geht weniger um den Inhalt von Aussagen als um die Singularität eines Aussagens (und folglich geht es nicht um ein „Sagen-wollen“, sondern um die Einzigkeit eines Sagens)“ (S. 47):

dass sich überhaupt etwas zu verstehen gibt und nicht vielmehr nichts: die Gabe selbst als Kundgabe (im Original „annonce“), die miteinander geteilt und mit-geteilt wird. Der heilige Name des Sinns, „Hermeneia“, die theia moira, göttliche Zuteilwerde,  in ihrem „anhaltenden Überborden der Interpretation“ (S.7) und aller auf Sachkenntnis sich gründenden Bemeisterung.

Es versteht sich somit immerhin (auch und gerade dort, wo Un- und Mißverständnis obwaltet), dass sich etwas zu verstehen gibt, kundtut, aus-legt, indem es sich adressiert und richtet an die spontane Rezeptivität eines Verstehensbegehren eines Anderen (der sich selbst kein Gleicher ist), vieler Anderer. Weder Können und Wissen noch Bemeisterung, sondern eine Gabe, die Gabe zu empfangen wird verlangt.

„Was dem anderen zukommt oder vom Anderen kommt („sein“ heißt in diesem Fall zwangsläufig „kommen“…), interpretiert sich nicht zunächst, sondern gibt sich kund.“ (S.33)

Vor jeder Interpretationsabsicht, die eilfertig bestrebt sein könnte, sich selbst als Auslegungskunstlehre auf der Grundlage eines Wissens zu begreifen und am Ende ihre Aufgabe darin sähe, einen im Werk, als Rede eines identischen Anderen verstanden, eingesenkten, jedoch verloren gegangenen Sinn zu extrapolieren, d. h. restituierend wiederanzueignen. Kulminierend in einer Feier des vernünftigen Konsenses. Nein, Gadamer und Habermas werden dem hier freigelegten unendlich teilbaren Verstehen des Verstehens (das nach dem Aufsatzband von Werner Hamacher ein „entferntes“ genannt zu werden verdiente) fernbleiben müssen. Dem mit ihren Namen verbundenen hermetikfeindlichen Hermeneutik-Understatement gilt die Distanznahme womöglich zuallererst. Stattdessen verlautbart sich die geheime Nähe zu Bataille und Hannah Arendt, deren „Kommunikation“-Denken einer Praxis im Nancyschen Sinne entspricht. Weder Wissen noch Können, techne oder episteme stehen dabei primär zur Debatte: Man muss sich nicht auf ein bestimmtes Fachwissen verstehen, sondern verstehen teilzuhaben. Methexis und/als Mimesis. Was schwerlich nicht gekonnt werden kann, sondern irgendwie immer schon gekonnt worden sein muss. Sofern es sich um Anderes handelt als um Können.

Versteht sich folglich immer schon von vornherein, doch nun, wenn nicht besser, so doch zumindest anders: Gespräch, Kommunikation, Dialog wird stattgehabt haben in Form von Mit-Teilung zwischen und unter „uns“ (und dies ein Plural der sich schlechterdings allen anthropologischen Einhegungsversuchen letztlich verweigern wird. Wir, das wird doch immer unabweisbarer bedeuten müssen: nicht notwendig der andere Mensch, sondern schlechterdings alle und jeder und jedes im Reich der einander Grüße sendenden Zeichen, Winke und Signale?) Im Anfang, der immer schon Fortsetzung war und deshalb, in Abwesenheit von Ursprung und Ziel, nie angefangen hat anzufangen, oder nie damit aufhört, war Logos: als plurale, differäntielle Mit-Teilung von  stets singulären „Stimmen“; Sinn, der sich, in dem er sich (sein Kommen annoncierend) stets unendlich vorhergeht und sich selbst gegenüber im Rückstand bleibt, sich auf sich selbst als auf sein Anderes hin öffnet. Dadurch allerdings avanciert der vermeintlich unausweichliche Vorverständnis-Zirkel, aus dem man, nach Heidegger, weniger hinauskommen, denn „nach der rechten Weise hineinkommen“ muss, mitsamt seiner Aufhebungs-Dialektik zum Spezialfall eines um ein Vielfaches filigraneren Geflechts:

„Das Gespräch impliziert ein Ge-flecht oder ist im Ge-flecht verfangen. […] Was uns verflicht, teilt uns mit und was uns mit-teilt, verflicht uns.“ (S.70)

„[…] es sei denn das Sein besteht nur darin, dass wir uns untereinander in einer poetischen, magnetischen und rhapsodischen „langen Kette“ kundgeben.“ (S.68)

Flechtendes Mit-Verstehen

Hat man mich verstanden?
(Nietzsche, Ecce Homo)

Was an Publikationen in späteren Jahren noch kommen wird – etwa die Studien zum Mit-Sein, zum Singulär-Pluralen, zum Sinn der Welt, zur Anbetung etc. – kündigt sich in den Motiven der Mit-Teilung bereits an: Jean-Luc Nancys Reevaluation der für die deutschen Geisteswissenschaften kanonischen Hermeneutikliteratur (die in Wahrheit vielstimmiger daherkommt als hier verknappend dargestellt), im Original bereits 1982 erschienen und erst dieses Jahr in einer dem Jota nachspürenden Genauigkeit von Alexandru Bulucz ins Deutsche übertragen, versucht anhand von atemberaubenden Lektüren der einschlägigen Passagen aus Heideggers Sein und Zeit und dessen Gespräch über die Sprache (aus Unterwegs zur Sprache) sowie Platons kleinem Dialog Ion einer gängigen Interpretation der Interpretation auf die Spur zu kommen, die deren auf ein vorgängiges Mit-Sein bezogene Intrikationen weitgehend außen vorläßt und damit einer Verkennung unterliegt, die gleichwohl für das, was allgemeinhin als Interpretation verstanden wird, prototypisch gewesen sein wird. Freigelegt wird nicht so sehr eine andere Art der Interpretation: Die Bemühungen geben eher zu denken, was als das Andere von Interpretation überhaupt vorgestellt werden könnte (S.12). Das, was sie zuallererst ermöglicht. Quasi zirkulär kann ein dem Text entrissener Teilabschnitt auf diesen, der kein Ganzes sein will, appliziert werden:

„Was inszeniert wird, ist die Hermeneutik selbst in ihrer unendlichen Voraussetzung und in ihrem „rätselhaften“ Charakter […]. Es wird nicht der Frage geantwortet, weil das Gespräch – der Text – selbst die Antwort ist. Es ist die Antwort, sofern es sich der Interpretation, der Entschlüsselung seiner Figuren, Zeichen und Symbole hergibt, die selbst Figuren, Zeichen und Symbole der Interpretation sind. Das Gespräch ist sowohl das Rätsel als auch der Schlüssel zum Rätsel.“ (S.37)

An Hermeneias Annoncen und Avancen, dem stimmlich mit-geteilten Theater der theia moira wird man – ein Kreis schließt sich in seine Öffnung zum Geflecht – schwerlich nicht Anteil gehabt haben können. Versteht sich…(?)

(zuerst erschienen auf faustkultur.de)

Ein Kommentar zu “Jean-Luc Nancy: Die Mit-Teilung der Stimmen

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